HIV-Aktivismus

Tamás Bereczky: „Der HIV-Aktivismus wird mir zu professionell und geschlossen“

Von Axel Schock
HIV-Aktivismus Tamas Bereczky
(Foto: © privat)
Die Ausstellung „HIVstories. Living Politics“ im Schwulen Museum Berlin (12. September bis 11. November 2019) beleuchtet die Kämpfe und persönlichen Geschichten von HIV/Aids-Aktivist_innen in Europa. Einer von ihnen ist der Ungar Tamás Bereczky. Wir haben mit ihm über Solidarität und Gemeinschaft, die Zukunft des HIV-Aktivismus und die Spuren seines Engagements für die HIV-Community gesprochen.

Internationale Konferenzen, Arbeitstreffen, Fachtagungen – Hunderte solcher Veranstaltungen hat Tamás Bereczky in den zurückliegenden eineinhalb Jahrzehnten besucht –  als Vertreter der European AIDS Treatment Group, als Ko-Vorsitzender des HIV/AIDS Civil Society Forum der Europäischen Union, als Berater von UNAIDS oder des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC), um nur einige der vielen Felder seines Engagements zu nennen.

Tamás’ eindrucksvolle Kollektion von Teilnehmerausweisen, die sich über die Zeit angesammelt hat, ist jetzt Teil der Ausstellung „HIVstories. Living Politics“ im Schwulen Museum Berlin, die vom 12. September bis zum 11. November 2019 verschiedene Facetten und persönliche Geschichten des europäischen HIV-Aktivismus zeigt. Wir haben aus diesem Anlass mit dem Sozialwissenschaftler und Psychologen gesprochen, der vor zwei Jahren von Budapest nach Berlin gezogen ist und für das Patvocates Network im Bereich Patientenbeteiligung und Patientenaufklärung tätig ist.

Tamás, was war der Auslöser, dich im Bereich HIV und Aids zu engagieren?

Ich habe Anfang 2004 meine HIV-Diagnose bekommen. Kurz danach habe ich angefangen, andere Menschen in Ungarn, die mit HIV leben, zu unterstützen. Sehr bald habe ich dann einen Blog zu HIV auf Ungarisch begonnen, der relativ erfolgreich war.

2005 wurde ich dann auch schon Mitglied der EATG, der European AIDS Treatment Group, und des European Community Advisory Board, der wissenschaftlichen Arbeitsgruppe auf europäischer Ebene von Menschen, die mit HIV leben. Das heißt, ich mache diese Arbeit mittlerweile schon 15 Jahre.

„Der HIV-Aktivismus war sicherlich auch Teil meiner Therapie“

Dass du so schnell nach deiner Diagnose die Beratung anderer HIV-Positiver übernommen hast und dann auch gleich den Sprung in die wissenschaftliche und politische Arbeit zu HIV im europäischen Kontext gemacht hast, ist bemerkenswert. Das kostet ja nicht nur sehr viel Energie und Zeit für die Arbeit in den Gremien, du musstet dir ja auch in kürzester Zeit die notwendige fachliche Expertise erarbeiten.

Das war sicherlich auch Teil meiner Therapie. Ich hatte das Gefühl, etwas unternehmen zu müssen. Nur zu Hause herumzusitzen und zu grübeln, das wäre nicht gegangen. Ich war immer schon ein Mensch, der aktiv wird.

Ich hatte damals feststellen müssen, dass es auf Ungarisch kaum Informationen zu HIV und Aids gab. Ich sah diese riesige Lücke und es fiel mir überhaupt nicht schwer, die Informationen, die ich auf Englisch, Deutsch oder Französisch fand, ins Ungarische zu übersetzen. Ich arbeitete damals als Dolmetscher und Übersetzer und verdiente recht gut.

Da ich freiberuflich tätig war, konnte ich mir meine Zeit relativ frei einteilen. Bloggen kann man zum Beispiel auch nachts und an den Wochenenden, ich habe das deshalb nicht als Arbeit verstanden. Ich wurde zudem durch meine Familie – meinen damaligen Freund und meine geschiedenen Ehefrau – gut unterstützt.

Wissenschaftliche Informationen zu HIV und Aids in Blogbeiträgen und Artikeln aufzubereiten ist das eine. Sich aktiv für eine Verbesserung der medizinischen und gesellschaftlichen Situation einzusetzen, das ist eine ganz andere Ebene. War dir klar, dass du selbst dazu beitragen musst, strukturelle Veränderungen auf den Weg zu bringen? Und zwar nicht nur in Ungarn, sondern europaweit?

Die Probleme waren viel zu augenfällig, als dass ich da nur hätte mit den Achseln zucken und sagen können: „So ist es nun mal.“ Ich wollte sicherstellen, dass diese Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten ganz klar zu sehen sind und überwunden werden.

Mein erstes Treffen mit der EATG und dem Advisory Board waren für mich in diesem Zusammenhang ungeheuer wichtig. Zu sehen, dass Menschen, die damals tatsächlich noch sehr krank waren – wesentlich kränker als ich –, bedeutende Arbeit leisten, das hat mich sehr beeindruckt. Ich wollte unbedingt dazugehören und gemeinsam mit ihnen etwas bewegen. Das hat auch sehr gut geklappt.

„Burn-out ist im Aktivismus keine Seltenheit“

Mir ist es zum Glück nie schwergefallen, mich in neue Fachgebiete einzuarbeiten. Ich war immer schon ein merkwürdiger Typ, der wesentlich mehr Zeit mit Lesen verbracht hat als mit Sex und Drogen. Zwar habe ich auch viel Zeit mit Sex und Drogen verbracht, aber Lesen und Studieren waren für mich immer wichtiger.

Gab es auch Zeiten, in denen die mit der aktivistischen Arbeit verbundenen Verpflichtungen und Erwartungen – seien es Konferenzteilnahmen, Artikel, die zu schreiben sind, oder Menschen, die Hilfe benötigen – dein eigenes Leben mehr oder weniger bestimmten?

Das kann schnell passieren. Aber solange man noch die richtigen Ziele vor Augen hat, empfinde ich das nicht als Risiko oder als etwas Schlimmes. Wichtig ist, dass man daneben noch ein anderes Leben beziehungsweise eine Familie hat und man seine Prioritäten bewahrt. Ich war und bin in der glücklichen Situation, eine richtig funktionierende Familie um mich zu haben.

Burn-out ist im Aktivismus allerdings keine Seltenheit. Wenn es dazu kommt, gibt es in der Regel zwei Möglichkeiten, wie die Menschen damit umgehen: Entweder man macht im Auto-Pilot-Modus weiter – oder man hört ganz auf damit, wie ich es jetzt für eine Weile tun möchte.

Bei mir kommt hinzu, dass ich in der letzten Zeit so viel andere interessante Arbeit hatte, zum Beispiel meine Dissertation und die ganze Bürokratie rund um meine Promotion, dass ich merkte: „Das verdient jetzt meine ganz Aufmerksamkeit. Ich kann jetzt nicht wieder zu einer Konferenz fahren.“

Tamás’ eindrucksvolle Kollektion von Teilnehmerausweisen sind Teil der Ausstellung „HIVstories. Living Politics“ im Schwulen Museum Berlin (Bild: © Tamás Bereczky)

Wenn du auf diese 15 Jahre Arbeit im HIV- Aktivismus zurückblickst: Gibt es da Dinge, die dich persönlich so bereichert haben, dass sie den ganzen Aufwand mitsamt dem damit sicherlich auch verbundenen Frust, die Enttäuschungen und die geopferte Zeit aufwiegen?

Ich habe dieser Community sehr viel zu verdanken. Als ich damals meine Diagnose bekommen habe, war das in Ungarn alles andere als lustig. Ich habe aber von der Community seinerzeit so viel Hilfe bekommen, dass ich mich immer noch verpflichtet fühle, etwas zurückzugeben.

Zum anderen habe ich in den Patienten-Communitys so viel Solidarität und so viele wertvolle Menschen kennengelernt, dass dies in mir einfach die Hoffnung weiterleben lässt – gerade auch in solchen Zeiten, in denen es nicht so viel Solidarität gibt, der Nationalismus und Individualismus wieder so stark geworden sind und  ansonsten Wettbewerb und Leistungsdruck unser Leben so stark bestimmen.

Zugleich finde ich es faszinierend, was im Feld Patientenaktivismus passiert und dass ich da etwas ganz Menschliches erfahren habe, gerade weil man aus einer benachteiligen Position heraus agiert: nämlich Solidarität, Zusammenhalt und Verständnis.

Du hast bereits angedeutet, dass du dich gerade etwas aus dem HIV/Aids-Aktivismus zurückziehst. Zum einen, weil du andere Prioritäten gesetzt hast, wofür du deine Zeit verwendest, aber auch, weil du mit der aktuellen Entwicklung in diesem Feld unzufrieden bist. Kannst du das näher erläutern?

So wie sich der HIV-Aktivismus zunehmend entwickelt, ist er für mich zu professionell und zu geschlossen. Es gibt bei HIV wie auch bei anderen Krankheitsgebieten immer mehr Möglichkeiten, sich auf professioneller Ebene als Patientenberater_in oder Aktivist_in zu engagieren. Das birgt allerdings das Risiko, dass man den Kontakt zur Community verliert.

„Die ständige Sexualisierung von HIV, insbesondere durch schwule Männer, finde ich erschöpfend“

Ich vermisse außerdem den Dialog mit anderen Krankheitsgebieten. Ich vermisse die Offenheit. Ich vermisse die Solidarität mit den Menschen mit HIV, die nicht im Westen leben und ganz andere Probleme haben als ein weißer schwuler Mann aus dem Mittelstand, der in Deutschland, in Großbritannien oder in den USA lebt.

In jüngster Zeit wird für mich viel zu viel Gewicht auf Sexualität gelegt. Ich kann das zwar nachvollziehen, denn HV wird in unserer Region nach wie vor allem durch Geschlechtsverkehr übertragen. Aber diese ständige Sexualisierung von HIV, insbesondere durch schwule Männer, finde ich etwas erschöpfend. Wenn ich mich dagegen zu wehren versuche, werde ich gleich als altmodisch, moralistisch oder sexnegativ bezeichnet. All das trifft aber nicht auf mich zu.

Ich finde es ermüdend, dass wir ständig darüber reden, wer mit wem Sex haben soll oder haben kann – ob mit oder ohne Kondom dank PrEP und Schutz durch Therapie –, wenn andererseits Millionen Menschen noch immer überhaupt keinen Zugang zur Therapie haben. Das müsste für mich im HIV-Aktivismus Priorität haben, doch ich sehe im Moment keine Möglichkeit, wie ich hier weiterkommen könnte.

Außerdem trifft man auf diesen Konferenzen immer die gleichen 20 bis 30 Gesichter. Das ist ein enger, fast schon inzestuöser Kreis geworden, der da ständig miteinander spricht. Und ich bin auch einer von denen. Das macht mittlerweile keinen Spaß mehr, und deshalb will ich mich für eine Weile daran nicht mehr beteiligten

Höre ich da heraus, dass es an neuen, engagierten Mitstreiter_innen, an aktivistischem Nachwuchs fehlt?

Diesen Eindruck habe ich in der Tat.

In welche Richtung müsste sich der Aktivismus entwickeln? Was müsste deiner Ansicht nach jetzt an erster Stelle der Agenda stehen? Schutz durch Therapie und PrEP ja offensichtlich nicht.

Zugang zur Therapie und Bezahlbarkeit der Medikamente. Und eine umfassende politische Diskussion darüber, warum es so schwerfällt, in der europäischen Union Generika zu produzieren. Warum sind Medikamente weiterhin so ungeheuer teuer?

Und wie ist es überhaupt möglich, dass in Russland weiterhin zehntausende Menschen an den Folgen von Aids sterben?

Warum wissen wir eigentlich überhaupt nichts über die Situation in China?

Wie kann es sein, dass in Griechenland seit Monaten keine Viruslast-Tests mehr möglich sind?

Das sind Themen, die wir besprechen sollten – und eben nicht schon wieder über U = U. (Anm.  d. Red.: U=U steht für „Undetectable equals Untransmittable“, auf Deutsch: Nicht nachweisbar = nicht übertragbar; gemeint ist, dass HIV bei funktionierender HIV-Therapie auch sexuell nicht übertragbar ist.)

Du hast über die Jahre all die Teilnehmerausweise der diversen HIV/Aids-Konferenzen gesammelt, an denen du teilgenommen hast. Sie sind nun in der Ausstellung „HIVstories. Living Politics“ im Schwulen Museum Berlin zu sehen.

Ich bin einfach ein Typ, der nichts wegwerfen kann – frag mal meinen Freund oder meine Mutter (lacht).  Die Sammlung ist zunächst eher zufällig entstanden. Wenn ich von einer Konferenz zurückkam, habe ich die Badges an den Fenstergriff neben der Eingangstür gehängt. Und mit einem Male waren das Hunderte und eine Sammlung geworden.

„Aktivismus ist etwas sehr Flüchtiges, das kaum Spuren hinterlässt“

Auch wenn es faktisch nur Stoffbänder und Plastiknamensschildchen sind, so sind es doch die Spuren deiner nun über eineinhalb Jahrzehnte währenden Arbeit im Bereich HIV/Aids.

Im Aktivismus ist es relativ schwer, Spuren zu hinterlassen, weil diese Arbeit – die Reden, die Demos, die Treffen – einfach sehr flüchtig sind. Auch Webseiten bestehen nicht ewig, und mit ihnen verschwinden dann auch deine Texte, die du darauf veröffentlicht hast.

Die Namensschildchen sind mittlerweile eben doch auch zu manifesten Erinnerungen geworden. Sie jetzt alle als Teil der Ausstellung zu sehen, hat mich tatsächlich bewegt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Ausstellung „HIVstories. Living Politics“ zeigt am Beispiel von Aktivist_innen aus Deutschland, Polen, der Türkei und Großbritannien, welche Wirkungen der Kampf gegen HIV/Aids und für die Rechte von Menschen mit HIV/Aids auf die Politik hat. Gezeigt werden Videointerviews, Artefakte und Kunstwerke, die im Rahmen des dreijährigen Forschungsprojektes „European HIV/AIDS Policies: Activism, Citizenship and Health“ (EUROPACH) gesammelt wurden. 

Zur Eröffnung von „HIVstories. Living Politics“ findet am 12./13. September im Refugio (Lenaustraße 11, 12047 Berlin) eine gleichnamige internationale Konferenz der Humboldt-Universität Berlin statt. Dort werden die Themen, Motive und Bilder der Ausstellung analysiert und es wird diskutiert, wie zivilgesellschaftliches Engagement und Aktivismus in den Hochzeiten der Epidemie mit öffentlicher Politik interagierten und den Umgang mit HIV/Aids bis heute prägen.

Die Ausstellung im Schwulen Museum Berlin wird am 12. September eröffnet und ist bis zum 11. November 2019 zu sehen. Im Laufe des Jahres 2020 wird sie auch nach Istanbul, Krakau und London reisen.

Weitere Informationen

zum Forschungsprojekt EUROPACH

zur Abschlusskonferenz

zur Ausstellung „HIVstories. Living Politics“

Weitere Beiträge zur Ausstellung „HIVstories. Living Politics“:

Aids.Bewegung.Politik: Die Ausstellung HIV.stories im Schwulen Museum Berlin

„Es ist an der Zeit, die bisherigen Erzählungen der HIV-Epidemie zu hinterfragen“

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