Vorhang auf für einen Blowjob
Pauls Sexleben war nahezu perfekt organisiert. „Ich lebte ohne festen Partner und war recht umtriebig unterwegs“, sagt er über seine Zeit vor Corona. Weil er als Trainer und Pädagoge viel reiste, hatte der 33-Jährige mit trans Vergangenheit sich im Laufe der Jahre in ganz Deutschland Fuck-Buddies zugelegt. Seine Gelegenheitspartner traf er mehr oder weniger regelmäßig an Orten wie Saunen oder Bars. Körperliche Nähe fand er außerdem beim Kampfsport: „Mehrmals die Woche mit verschwitzten Männern auf der Matte zu rollen, das waren hocherotische und derbe Momente.“
Der Einbruch kam am 16. März. Das Datum kann Paul sich gut merken, denn an diesem Tag sollte ein großes Event stattfinden, das nur 24 Stunden vorher abgesagt wurde. „Plötzlich habe ich realisiert, dass ganz vieles auf einmal wegbrechen würde: beruflich, sozial und sexuell. Das hat mir emotional den Boden unter den Füßen weggezogen.“
Alles abgesagt, alles geschlossen
Wie Paul erging es in den letzten Monaten vielen Menschen: Die Corona-Epidemie war das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Auch sexuell. Infektionsängste, Kontaktverbote, abgesagte Veranstaltungen, geschlossene Bars und Clubs – die neuen Verhältnisse versperrten viele der gewohnten Wege, Sexualität zu leben. Das zeigten auch Umfragen in Kontaktportalen.
Und langsam wurde klar: Das wird noch länger so bleiben.
Anfangs kam Paul damit klar, verbrachte die Zeit zu Hause „experimentierfreudig mit mir selbst“. Nach einigen Wochen überwog dann das Gefühl des Verlusts: „Vor ein paar Tagen habe ich einen Artikel über den Mangel an Berührungen in unseren Tagen gelesen und da schossen mir die Tränen in die Augen. Mir wurde deutlich, wie sehr sich mein Leben reduziert hat.“
Wohin mit dem Begehren?
„Wir müssen nicht immer sofort versuchen, in der Krise auch die Chance zu sehen.“
„Trauer, aber auch Wut oder Verzweiflung sind naheliegende und hilfreiche Gefühle, wenn uns etwas genommen wird und das darf auch mal okay sein“, erklärt der Sexualpädagoge Marco Kammholz. „Wir müssen nicht immer sofort versuchen, in der Krise auch die Chance zu sehen.“
Die Frage ist nur: Wohin mit dem Begehren, wenn alles geschlossen hat? Woher die Lustbefriedigung nehmen, wenn ich niemanden treffen kann? Und wie die emotionalen Bedürfnisse stillen, die hinter den sexuellen Wünschen stehen?
Diese Frage stellte sich auch Mino. Die 24-jährige, die sich als Non-Binary Femme bezeichnet, hatte ihren Freund „gerade an den Punkt gebracht, wo es okay war, unsere Beziehung zu öffnen, mit dem langfristigen Ziel polyamourös zu leben“. Dann brachte die Pandemie die Angst, und aus der Angst wurde schnell Frust, „weil alles Aufregende, das ich mir vorgestellt hatte, mit einem Mal weg war.“
Stattdessen musste Mino in ihrer Vierer-WG erst einmal die Grundregeln des Zusammenlebens neu besprechen. „Wahrscheinlich war das super illegal, aber wir einigten uns in der WG darauf, dass wir jeweils zwei Kontakte sehen dürfen, so lange sie nicht bei uns übernachten.“
Seitdem trifft sich Mino mit ihrem Freund und ihrer besten Freundin, mit der sie früher nach dem Ausgehen auch ab und an mal Sex hatte. Doch das ist in Ermangelung des Nachtlebens komplett eingeschlafen. Viel Zeit verbringt Mino jetzt mit „prokrastinieren und masturbieren, was mit meinen Ängsten vor der Zukunft zu tun haben könnte.“ Sie glaubt, erst wieder daten und eine offene Beziehung führen zu können, wenn ein Impfstoff kommt.
Frischzellenkur für Beziehungen
Zugleich ist auch der Sex mit ihrem Freund weniger geworden, die Beziehung dafür „süßer und ganzheitlicher“. Und experimentierfreudiger: „Wir probieren jetzt andere Dinge aus. Seit einiger Zeit sind wir im Anal-Game drin und das ist auch so ein Zeichen: ,Hey, ich will dich noch und wir kommen gemeinsam durch diese Sache!‘“
Eine „Privatisierung der Körperkontakte“ nennt Kammholz das und erklärt: „Während man sich von den vielen anderen Körpern distanziert, rückt man mit den wenigen anderen, die einem noch bleiben, näher zusammen, sowohl in der Berührung, als auch sexuell. Wir sind auf unsere Partner zurückgeworfen, wie in vorliberalen Zeiten.“
Wenn es eine Beziehung gibt. Wenn nicht, dann gilt auch hier: Not macht erfinderisch.
Auf der Suche nach dem Corona-Liebhaber
Karin kam nach einiger Zeit auf die Idee, sich einen Corona-Liebhaber anzulachen, „einen der auch nur mich trifft.“ Die bisexuelle Single-Frau war vor der Pandemie „auf mehreren Dating-Portalen zur Beziehungssuche und einer Sexplattform“ unterwegs und erlebte dort „vom One-Night-Stand bis zur längeren Affäre so ziemlich alles.“
Mit Corona kam auch bei ihr die Angst. „Ich gebe zu, ich habe erst mal Nudeln und Klopapier gekauft und bin für sechs Wochen in die komplette Isolation. Da habe ich wenig an Sex gedacht, sondern mehr an meine Mutter.“
„Ich habe wenig an Sex gedacht, mehr an meine Mutter.“
Gechattet und masturbiert hat sie dann doch. Aber das wurde schnell unerträglich. Katrin formuliert es so: „Mein Dildo ist himmelblau und hat jetzt einen Namen, er heißt Holger und hasst seinen Job. Ich bin auch schon länger nicht mehr mit ihm zufrieden. Irgendwann war ich so einsam, dass ich keinen Sex mehr wollte, sondern nur noch jemanden, der sich auf mich drauflegt und mich umarmt.“
Der Corona-Liebhaber blieb bisher leider Theorie. Ein Kandidat erschien Katrin zu unvorsichtig, also hielt sie ihn hin. Durch das lange Chatten wurden die beiden versehentlich Freunde. Aber ist das so schlimm? „Werden Nähe und Sex nicht eh oft verwechselt? Die Geilheit ist doch auch nur eine Form der Suche nach Nähe“, sagt Katrin.
Und so kann auch sie den Beschränkungen am Ende etwas Positives abgewinnen: „Vielleicht wird Sexualität auch wieder ein bisschen interessanter, weil es mehr um die Person und nicht nur den Akt geht.“
Zwischen Angst und Verlangen
Sexualität vorübergehend zu reduzieren oder sogar überhaupt keinen Sex zu haben oder zu wollen, muss kein Problem sein, bestätigt Experte Marco Kammholz. „Wir sind sexuelle Wesen, aber keine wandelnden Dampfkessel. Dennoch kann Sexualität auch nicht stillgelegt werden und das Bedürfnis danach zu unterdrücken ist schädlich.“
Und so suchen nach einigen Monaten Corona-Krise immer mehr Menschen ihre ganz individuellen Wege, ihre Sexualität wieder vermehrt auszuleben. Sie sind dabei mit einerseits damit konfrontiert, dass ihr Sexleben plötzlich eine Ordnungswidrigkeit darstellen könnte. Vor allem aber gilt es zu vermitteln zwischen dem Bedürfnis, sich und andere vor dem Virus zu schützen und dem Bedürfnis nach Sex.
Der 51-jährige Markus, schwul und seit vielen Jahren HIV-positiv, sieht in diesem Spannungsverhältnis eine Parallele zur HIV-Epidemie in den 80ern und 90ern: „Einerseits willst du nicht Kamikaze begehen, andererseits soll das Leben trotzdem lebenswert bleiben.“
Erste Schritte auf neuen Wegen
Nach einem Spanien-Urlaub kehrte Markus mit seinem Partner direkt in den deutschen Lock-down zurück. Die Sexclubs in Berlin-Schöneberg, die die beiden sonst gerne gemeinsam besuchten, waren geschlossen. „Eher drei als zwei Wochen“ hielten sie durch. Auch hier belebte die Verknappung sexueller Möglichkeiten die Beziehung: „Das war eine Bewährungsprobe im positiven Sinn. Wir hatten zum Beispiel viel öfter spontanen Sex als sonst.“
„Wir haben diskutiert: Welcher Fuckbuddy kommt für einen Wiedereinstieg in Frage?“
Anfang Mai „fing es dann zu jucken an“. Immer mehr Fuckbuddys berichteten vom ersten Sexkontakt nach dem Einbruch der Krise. Markus und sein Partner begannen zu diskutieren: „Welche Fuckbuddys kommen für einen vorsichtigen Wiedereinstieg wohl in Frage? Was wissen wir über sie, wie leben sie, wie vertrauenswürdig sind sie?“ Am Ende schälten Markus und sein Partner vier weitere Personen im engeren Umfeld heraus. Auf die beschränken sich die beiden derzeit. Sex läuft zu zweit, zu dritt oder als Gruppe.
Zwei Viren sind zuviel
An diesem Punkt der Entscheidung steht der 27-jährige Frank noch lange nicht. Gerade erst Ende Februar hat ihn seine HIV-Diagnose kalt erwischt. „Seit meinem letzten Test vor zwei Jahren hatte ich ganze acht Sexualkontakte und keinen davon hatte ich als risikoreich betrachtet.“
Frank fühlte sich schon vor Corona in der schwulen Dating-Welt unwohl, hatte Probleme mit seinem Körper, fand sich nicht liebenswert. Nun spürte er eine „innere Rebellion gegen mich selbst: Wenn du dir zwei Jahre nichts gönnst und kriegst trotzdem HIV!“ Etwas in ihm drängte auf Befreiung. „An einem Abend, in einer Sexbar mit Freunden, wäre ich am liebsten runter in den Darkrooom gegangen und hätte tausend Schwänze geblasen“, erinnert Frank sich, „aber an dem Abend war leider nichts los.“
Und dann, nur zwei Wochen nach dem HIV-Ergebnis, der Lock-down. „Ohne HIV-Diagnose hätte ich mir vielleicht im Home-Office ständig einen runtergeholt“, sagt Frank, „aber so? Ich fand mein eigenes Sperma seltsam. Von daher war Corona eine gute Ausrede, denn ich hatte sowieso kein Verlangen nach Sex.“
Zwei epidemiologische Themen auf einmal seien zu viel für ihn, sagt Frank. Nach einer Phase, in der er „sinnlos YouTube-Videos“ schaute, hat er sich jetzt einen Therapeuten gesucht.
„Ich möchte den Mut finden zu cruisen, will in der Lage sein, mich emotional auf andere einzulassen. Ich will die Freiheit genießen, sexuell all das zu machen, worauf ich gerade Lust habe. Das ist mein Traum!“
Nur ist es mit den Träumen so eine Sache in Corona-Zeiten. Denn der natürliche Feind der Träume ist die Angst.
„Corona war eine gute Ausrede, denn ich hatte sowieso kein Verlangen nach Sex.“
Carlos versetzte die Möglichkeit, sich mit SARS-Cov-2 zu infizieren, anfangs in regelrecht in Panik. Den Beginn der Epidemie erlebt er bei der Familie seines Mannes in Süddeutschland. Da er aufgrund einer Vorerkrankung nur noch einen Lungenflügel besitzt, sieht er sich als hoch gefährdet an.
Da er mit seinem festen Partner keinen Sex mehr hat, verspürte er aber zugleich schnell ein starkes Bedürfnis, zu dem promisken Lebensstil zurückzukehren, den er vor der Epidemie gepflegt hatte. Zum Teil hatte er da mehrfach täglich Sex mit verschiedenen Männern, meist ließ er sich einen blasen.
Not macht erfinderisch
Auch Carlos dachte zunächst an einen Corona-Buddy, doch welcher Mann steht mehrfach täglich zur Verfügung? Und würde Carlos mit der Angst zurechtkommen, die ihn wahrscheinlich auch mit ein- und demselben Partner nicht verlassen würde?
Schließlich fragte Carlos seinen Arzt, ob er mit einem selbst gebauten Gloryhole das Ansteckungsrisiko minimieren könne und der Arzt gab ihm unter bestimmten Voraussetzungen grünes Licht.
Nun duscht Carlos vor jedem Kontakt, lässt sich durch ein Loch in einem festen Vorhang in der Tür zu seinem Wohnzimmer hindurch oral befriedigen und duscht sofort danach erneut, damit der Speichel des Partners nicht in Mund, Nase oder Augen wandern kann. Auch bei der Wahl der Partner setzt Carlos sich enge Grenzen, meist sind es Leute, die er schon länger kennt.
Ein offenherziger Umgang mit Bedürfnissen
Die Angst hat ihn dennoch nicht verlassen. Im Grunde, sagt Carlos, „ist nicht Corona mein Thema, sondern meine Angst. Ich muss daran arbeiten, besser mit ihr umzugehen.“
Sexualpädagoge Marco Kammholz findet, dass Carlos das auf seine ganz eigene Art schon tut: „Da kümmert sich jemand um sein Sexleben und beherzigt gleichzeitig Schutzmaßnahmen. Und das ist doch eigentlich sehr rührend!“
Vielleicht, schlussfolgert Kammholz, kann die Corona-Krise ja doch dazu beitragen, „offenherziger mit unseren sexuellen Bedürfnissen umzugehen und eine fortschrittlichere Sexualkultur zu etablieren.“
Es würde die Verluste vielleicht nicht aufwiegen. Aber wie könnten wir die Zeit bis zum Ende der Krise besser nutzen?
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