Mit der Lieferung von Medikamenten für die antiretrovirale Therapie und mit kostenlosem Muttermilchersatz unterstützte das Netzwerk E.V.A. in Sankt Petersburg während der Covid-19-Pandemie insbesondere Frauen mit HIV. Die Hilfsorganisation vernetzt Aktivist*innen, Expert*innen und NGOs in 38 russischen Städten im Bereich „Leben mit HIV“.

Von Xenia Maximova

Einen Termin vereinbaren, zum persönlichen Gespräch kommen, das Rezept für HIV-Präparate abholen, damit zur Apotheke und wieder nach Hause: So läuft für gewöhnlich die medizinische Versorgung im Zentrum „Aids“, der zentralen Anlaufstelle für Menschen mit HIV in Sankt Petersburg. Während der Pandemie wurde diese Regelung gelockert, um Menschenmengen in den Räumlichkeiten zu vermeiden. Jetzt kann das Rezept telefonisch bestellt und zur gewünschten Zeit bei der Anmeldung abgeholt werden. Um Hilfesuchende besser vor Covid-19 zu schützen, haben die Mitarbeiter*innen von E.V.A. außerdem einen Dienst eingerichtet, der Medikamente nach Hause liefert.

„Die Leitung des Zentrums hat uns bei dieser Initiative sehr unterstützt und das Ganze unbürokratisch gemacht“, sagt Maria Godlevskaya, Koordinatorin bei E.V.A. „Um ein Rezept für eine Person mit HIV zu bekommen, reicht ihre schriftliche Vollmacht zusammen mit der Passkopie. Mit diesen Unterlagen können wir Medikamente besorgen und nach Hause bringen.“

„Mit einer Vollmacht und der Passkopie können wir Medikamente besorgen und nach Hause bringen.“

„Alle NGOs, die in Sankt Petersburg im Bereich HIV/Aids tätig sind, sind dabei und haben Risikogruppen untereinander aufgeteilt“, so Maria Godlevskaya. Eine dieser Organisationen liefert beispielsweise Medikamente an Drogengebraucher*innen und eine andere an Sexarbeiter*innen. E.V.A. ist für Frauen und Rentner*innen verantwortlich und hat etwa 200 von ihnen während der Pandemie HIV-Präparate nach Hause gebracht.

Besonderer Schutz für alle Beteiligten

„Gleiche helfen Gleichen“ lautet das Arbeitsmotto bei E.V.A. prinzipiell. Für die Lieferungen wurde allerdings nach einer Person ohne HIV gesucht. „Am Anfang der Pandemie gab es keine Daten darüber, ob der HIV-Status das Covid-Infektionsrisiko erhöht“, erklärt die Koordinatorin. „Zuerst hat bei uns eine junge Frau als Lieferantin gearbeitet, die sich durch ihre vorherige Tätigkeit bei einem anonymen Testangebot gut mit dem Thema HIV auskennt. Dann übernahm diese Stelle eine Kollegin aus einer LGBT-Organisation.“

Gibt es bestimmte Sicherheits- und Schutzregeln für die Lieferant*innen? „Ja, wir haben extra Regeln erarbeitet. Wir gehen nicht in die Wohnung, sondern übergeben die Medikamente meistens im Erdgeschoss vor der Haustür. Die Personen müssen also nach unten kommen. Sollte es nicht möglich sein, wie im Fall einer schwerbehinderten Person, lassen wir die Wohnungstür offen, solange wir dort sind. Außerdem sind Gesichtsmasken und Einweghandschuhe natürlich obligatorisch.“

Einige Tage pro Woche reichen meistens aus, um alles zu erledigen – die Anfragen zu sammeln, die Medikamente zu besorgen und die Logistik auszubauen. In Notfällen steigt Maria Godlevskaya auch selbst in ihr Auto und macht sich auf den Weg. Einige Hilfesuchende melden sich erst, wenn „die allerletzte Tablette gerade genommen ist und es keine für den Abend gibt“.

Ein Projekt mit Vorbildwirkung

Das in Sankt Petersburg entstandene Projekt war so erfolgreich, dass nach diesem Vorbild inzwischen auch in weiteren russischen Städten HIV-Medikamente geliefert werden: in Kazan, Novosibirsk, Jekaterinburg, Tschelabinsk und Perm.

„Glück im Unglück gehabt“ lautet eine beliebte russische Redensart. In diesem Sinne habe die Pandemie auch etwas Positives in Bezug auf die HIV-Behandlung gebracht, meint Maria Godlevskaya. Zum einen haben viele Menschen, die ihre Therapien aus Angst vor Covid-19 oder der schweren Zugänglichkeit der Mittel schon abgebrochen hatten, nun wieder antiretrovirale Medikamente bekommen. Zum anderen habe E.V.A. durch das Lieferangebot neue Personen erreicht, die jetzt auch gerne verschiedene Beratungsangebote der Organisation nutzen. „Frauen haben angerufen, um zu fragen, ob wir ihnen Tabletten nach Hause bringen könnten”, sagt Maria Godlevskaya. „Und ich erklärte ihnen, dass wir auch für viele weitere Fragen bezüglich des Lebens mit HIV zur Verfügung stehen.”

E.V.A. hat durch das Lieferangebot neue Personen erreicht

Dank der Hausbesuche wurden auch schon einige schwierige Fälle entdeckt, zum Beispiel eine Frau, die unter häuslicher Gewalt lebt. Ihre vierjährige Tochter berichtete der Lieferantin, dass sie „die ganze Nacht unter dem Bett verbracht habe, aus Angst vor ihrem Papa”. Der Vater habe seine Ehefrau und Tochter geprügelt und sie mit einem Beil bedroht, berichtet Maria Godlevskaya. Um die Frau und ihr Kind zu schützen, wurde der Fall von der E.V.A.-Mitarbeiterin dem zuständigen Sozialdienst und Krisenzentrum für Frauen gemeldet. Später wurde klar, dass der Mann Drogen gebraucht, unter anderem psychoaktive „bath salts“.

Versorgung von Mutter und Kind

Ein weiterer Schwerpunkt bei der Arbeit von E.V.A. ist die Begleitung von Müttern mit HIV. In den ersten Lebensjahren müssen ihre Kinder zu regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen ins Zentrum „Aids” gebracht werden – keine einfache Aufgabe während der Pandemie, besonders wenn es in der Familie neben einem Neugeborenen weitere Kinder gibt. „Wir haben für diese Frauen Autos mit Babyschalen organisiert und Termine angepasst. Es gibt im Zentrum eine Kinderbetreuung. So kann die Mutter diese Zeit nutzen, um auch selbst zur Untersuchung zu gehen”, erzählt Maria Godlevskaya.

„In eine schwierige Situation sind Frauen mit HIV geraten, die während der Pandemie Kinder zur Welt gebracht haben“, erzählt Natalia Suchowa, ebenfalls Projektkoordinatorin bei E.V.A. „Ab dem ersten Lebenstag brauchen die Babys Muttermilchersatz. Unter bestimmten Bedingungen gibt es diese Ernährung sogar kostenfrei. Im Lockdown bedeutete das aber einen erhöhten bürokratischen Aufwand, denn Behörden hatten verkürzte Arbeitszeiten und für frisch gebackene Mütter war es nicht einfach, gleich nach der Entbindung durch die ganze Stadt zu fahren, um den Milchersatz zu besorgen.“

So lieferte E.V.A. nicht nur die HIV-Medikamente, sondern auch Muttermilchersatz nach Hause. Dank Fördermitteln konnte die nötige Babynahrung gekauft und unter denjenigen verteilt werden, die sie wirklich brauchten.

„Wir haben den Frauen geholfen, die alleinerziehend sind, in eine finanzielle Notlage geraten sind oder in einer Krisensituation leben. Für diese Frauen sind zwei- bis dreitausend Rubel monatlich für den Muttermilchersatz wirklich zu teuer. Es gibt genug Familien, die sich tatsächlich nur eines leisten können: entweder Windeln oder Milchpulver“, berichtet Natalia Suchowa.

Bilanz nach der Krise

In der Zeit der Pandemie wurden etwa 80 Familien aus Sankt Petersburg, Leningrad und Moskau versorgt. Bei der Koordination halfen wiederum Ärzt*innen aus dem Zentrum „Aids“, indem sie schwangere Frauen auf das Angebot aufmerksam machten. Jetzt sei die Krise aber vorbei, meint Natalia Suchowa. Zurzeit gibt es in Russland keine coronabedingten Einschränkungen, sodass der Muttermilchersatz wieder im Zentrum „Aids” beantragt werden kann.

„Die Frauen in schwieriger Lebenssituation haben verstanden, dass sie nicht allein sind.“

„Es gibt etwas noch Wichtigeres in diesem Programm als die Babynahrung selbst“, sagt Natalia Suchowa. „Die Frauen in schwieriger Lebenssituation haben verstanden, dass sie nicht allein sind. Sie haben Ansprechpersonen gefunden und die Möglichkeit, soziale oder rechtliche Unterstützung zu bekommen.“

„Im vergangenen Jahr hatten wir viel mehr Arbeit – und es ist gut so“, fassen die Mitarbeiterinnen von E.V.A. die Situation zusammen.

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