Ob bei der Beratung, in der Selbsthilfe oder der internen Organisation und Kommunikation: Die Digitalisierung ist für Aidshilfen eine Herausforderung – mit vielen Erleichterungen und neuen Möglichkeiten.

Auch in Aidshilfen und bei deren Partnerorganisationen hat die Digitalisierung sukzessive Einzug gehalten und die Arbeit verändert: Online-Beratung, das SAM-Heimtest-Angebot oder Social-Media-Kampagnen sind da nur die augenfälligsten Beispiele.

Beim Fachtag „Digitalisierung von Aidshilfe“ der Deutschen Aidshilfe (DAH) am vergangenen Wochenende in Bielefeld erfuhr man in den diversen Workshops von einer ganzen Reihe innovativer Ideen, mit denen trotz Lockdown einzelne Angebote aufrechterhalten werden konnten. Da wurde das wöchentliche Frühstückstreffen kurzerhand in ein Zoom-Meeting verlegt, HIV-Selbsttests von Aidshilfeberater*innen vor der Videokamera begleitet oder die digitale Infrastruktur aus- und umgebaut, um große Teile der täglichen Arbeit ins Homeoffice verlegen zu können.

Immer mehr Menschen informieren sich online zu Gesundheitsthemen

Der zweitägige Fachtag diente daher, wie es DAH-Vorstand Ulf-Arne Kristal in seiner Eröffnungsrede formulierte, gleichermaßen der Bestandsaufahme wie auch der Entwicklung von Ideen und Visionen für eine digitale Zukunft der Aidshilfe. Das Ziel: gemeinsam die Aidshilfen „fit für den Wandel machen“.

Immer mehr Menschen informieren sich online zu Gesundheitsthemen und kommunizieren digital. 90 % der deutschen Bevölkerung ab 14 Jahren nutzt das Internet. „Wenn wir auch zukünftig unsere Zielgruppen weiter erreichen und als Aidshilfe überlebensfähig sein wollen, muss deshalb Aidshilfearbeit auch online stattfinden“, erklärte Manuel Hofmann. Er gehört zu einem kleinen Team innerhalb der DAH-Geschäftsstelle, das sich seit einigen Monaten ganz konkret mit den Fragen der Digitalisierung beschäftigt und dazu einmal monatlich Online-Fortbildungen anbietet.

Chancen der Digitalisierung

Welches Potenzial in der Digitalisierung gerade auch für gemeinnützige Organisationen steckt, erläuterte Stephan Peters von Betterplace Lab, dem Thinktank der Spendenplattform betterplace.org. Digitalisierung bedeutet nicht nur beschleunigte Kommunikation bzw. die Automatisierung von Arbeitsabläufen und somit eine Effizienzsteigerung. Im Idealfall führe sie auch zu einer größeren Teilhabe. Außerdem lässt sich die Arbeit flexibler sowie orts- und zeitunabhängig organisieren. Ehrenamtlichen etwa könnten mit digitalen Lösungen Aufgaben passgenau zu ihren individuellen Fähigkeiten und zeitlichen Ressourcen zugeteilt werden. Spender*innen wiederum erwarteten heute, dass sie über die sozialen Medien oder andere digitale Wege die Aktivitäten der von ihnen unterstützten Projekten mitverfolgen können.

Aber auch neue Mitarbeiter*innen in Projekten oder Einrichtungen, seien sie ehren- oder hauptamtlich, erwarteten inzwischen einen Mindeststandard an Digitalisierung. Darauf wies Kay Schulze vom Paritätischen Gesamtverbandes in einem Einführungsvortrag hin.
Wie die DAH so unterstützt auch sein Verband die Mitgliedsorganisationen aktiv in diesem Umgestaltungsprozess und hat dazu bereits eine ganze Reihe Handreichungen und Werkzeuge zur Verfügung gestellt: der-paritaetische.de/themen/bereichsuebergreifende-themen/gleichimnetz.

Unterstützung bei IT-Sicherheit und Datenschutz gefordert


Die einzelnen Aidshilfe-Einrichtungen, das wurde bei den Gesprächen und Diskussionen während dieses Fachtags immer wieder deutlich, fühlen sich mit den enormen Herausforderungen und neuen Aufgaben teilweise überfordert.

Einheitliche Qualitätsstandards, Fortbildungen und passende Software für mehr fachliche Kompetenz

Bei Fragen zur IT-Sicherheit und Datenschutzauflagen oder der digitalen Öffentlichkeitsarbeit via Facebook, Twitter, Instagram & Co. sind nicht nur fachliche Kompetenzen, sondern auch Recherchen nach passenden Tools und Softwareprogrammen gefordert, die von den personell ohnehin meist unterbesetzten Aidshilfen allein nicht zu stemmen sind. Und auch nicht allein in Angriff genommen werden müssen.
Gewünscht sind auch einheitliche Qualitätsstandards, Fortbildungen, und vielleicht lassen sich auch Softwarelizenzen gemeinschaftlich, und damit zu günstigeren Konditionen erwerben. Angeregt wurde darüber hinaus ein gemeinsamer Pool für digitale Inhalte wie Sharepics, Erklärvideos oder Basis-Texte für die Social-Media-Kanäle und Webseiten der regionalen Aidshilfen.

Einfach, vor allem problemlos werden die großen Transformationen nicht vonstatten gehen. Der Digitalexperte des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Kay Schulze rät deshalb, erst einmal mit kleinen Innovationen zu beginnen, um die eigene Organisation nicht zu überfordern. Wichtig sei es, zunächst die angestrebten Ziele festzulegen, um sich dann im zweiten Schritt Gedanken zu den Strukturen, Tools und Abläufen zu machen. Bei einer solchen Gelegenheit, empfiehlt Stephan Peters, lohne es sich zudem, die internen Prozesse auf den Prüfstand zu stellen, bevor man sich das passende digitale Werkzeug dafür sucht.

Zielgruppen im Auge behalten

Neue, besondere Kompetenzen benötigen jedoch nicht nur jene, die digitale Angebote z. B. in Form von Webseiten, Online-Chats oder Videoberatung anbieten. Auch um nach passenden Informationen zu suchen oder über digitale Kanäle kommunizieren zu können, bedarf es entsprechender Kenntnisse. Wer technisch vielleicht nicht so begabt ist oder gar nicht über die notwendigen Geräte wie Smartphones oder Computer verfügt, bleibt deshalb womöglich außen vor.

Marginalisierte Menschen nutzen das Internet weniger

Die Mediensoziologin Prof. Dr. Nicole Zillien von der Justus-Liebig-Universität Gießen machte in einem Vortrag deutlich, wie eine solche digitale Spaltung der Gesellschaft aussieht. Studien zeigen, dass insbesondere Frauen, ethnische Minderheiten, Ärmere und Ältere das Internet weniger nutzen als der Rest der Gesellschaft. Also ausgerechnet Menschen mit höherem Gesundheitsrisiko profitieren von der Digitalisierung, z. B. von Vorteilen der Telemedizin nicht in vollem Umfang.

Es gilt also immer im Auge zu behalten, welche Teile der angesprochenen Zielgruppen bei den digitalen Angeboten womöglich durchs Raster fallen und deshalb auf anderen Wegen erreicht werden müssen. Schwule Männer dürften durch die langjährige Erfahrung mit Datingplattformen bereits generationsübergreifend netzaffin sein, aber ob Drogengebraucher*innen oder Sexarbeiter*innen in gleichem Maße die Möglichkeiten dazu haben?
Dennoch sollte man sich nicht davon abhalten lassen, ein gutes Angebot übergreifend anzubieten, sagt Nicole Zillien. Denn wenn es richtig gut ist, bleibt die Hoffnung, dass eine Zielgruppe letztlich auch erreicht wird. Und die kann noch so klein sein und verstreut leben – im digitalen Raum können sie zusammenfinden, Kontakte knüpfen oder in Foren Erfahrungen austauschen und sich vernetzen.

Der Fachtag fand in Präsenz und online statt (Bild: Malte Steinhoff)

Transformation geht weiter

Von solchen Chancen und Möglichkeiten wurde an diesem Fachtag immer wieder berichtet. Und nicht zuletzt, dass neben den rund 50 Menschen vor Ort noch einmal fast genauso viele via Videozuschaltung an der Tagung teilnehmen konnten, zeigte, wie weit man innerhalb des Dachverbands in Sachen Digitalisierung bereits vorangekommen ist. Viele große Aufgaben und Umstrukturierungen stehen aber erst noch an.
Einige auf dem Fachtag diskutierte Aspekte werden in weiteren Beiträgen auf magazin.hiv vertieft.

Darüber hinaus wird die DAH-Online-Seminarreihe fortgesetzt.
Die nächsten Termine:
18.11. zum Thema Digitalisierung und Datenschutz: aidshilfe.de/seminarreihe-digitalisierung-datenschutz
9.12. Digitale Tools (wie Nextcloud und Slack) aidshilfe.de/seminarreihe-digitale-tools

Weitere Beiträge zum Thema Zukunft der Aidshilfearbeit auf magazin.hiv (Auswahl):

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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