Auf der Straße
Kaum eine deutsche Großstadt, wo keine drogengebrauchenden Menschen mehr oder weniger auf der Straße leben. Einen dieser Menschen porträtiert die Regisseurin Lilith Kugler in ihrer bemerkenswerten Langzeitdoku „Hausnummer Null“.
Chris hat zwar keine Meldeadresse, jedoch so etwas wie einen festen Wohnort. Gemeinsam mit seinem Kumpel Alex hat sich der Mittdreißiger in einer Unterführung der Berliner S-Bahnstation Friedenau eingerichtet. Viel hat er nicht – ein bisschen Geschirr, Kleidung und einige zerfledderte Bücher –, aber diese Habseligkeiten versucht er in einen aufgeräumten Zustand zu bringen. Ab und an fegt er seinen Schlafplatz, um auch hier Ordnung zu halten, so gut es geht.
Chris ist ein stiller, freundlicher Zeitgenosse. Viele der Anwohner*innen kümmern sich um ihn, bringen ihm Essen oder versuchen, ihm professionelle Hilfe und Unterstützung zu besorgen. Doch Chris ist nur bedingt bereit, diese Angebote anzunehmen. Denn diese Hilfsbereitschaft setzt ihn auch unter Druck und verschlimmert für ihn die Situation. Letzten Endes, sagt sein Kumpel Alex, muss Chris dazu bereit sein, wirklich etwas ändern zu wollen.
Die Situation, das ist im Fall von Chris nicht nur die – auch selbstgewählte – Wohnungslosigkeit, sondern vor allem seine Suchterkrankung. Gleich in der ersten Szene dieser beim diesjährigen Max-Ophüls-Festival uraufgeführten Dokumentation sieht man Chris auf dem Boden einer öffentlichen Toilette sitzen, wie er sich mit fahrigen Handgriffen und leerem Blick Heroin aufbereitet. Die Sucht und die Beschaffung der Substanz bestimmen seinen Tag. Immerhin, und er sagt es mit einem gewissen Stolz, drücke er das Heroin nicht mehr, sondern rauche es inzwischen. Doch ganz damit aufhören, das ist ihm bislang nicht gelungen.
Die Berichterstattung über Menschen, die Heroin konsumieren, hat sich seit Christiane F. zwar geändert, aber auch zeitgenössische Fernsehreportagen bedienen sich vor allem einer nur vordergründig empathischen, letztlich aber doch sensationsheischenden Elendspornografie. „Hausnummer Null“ hebt sich davon in vielerlei Hinsicht ab.
„Hausnummer Null“: filmischer Dialog auf Augenhöhe
Die Filmemacherin Lilith Kugler hatte Chris gewissermaßen als ihren Nachbarn kennengelernt, nachdem sie für ihr Studium an der Babelsberger Filmuniversität „Konrad Wolf“ in eine Wohnung in unmittelbarer Nähe des S-Bahnhofs Friedenau gezogen war. Sie freundete sich ein wenig mit ihm an und gehörte bald zu einem Kreis von Anwohnenden, die sich um ihn kümmerten. Und irgendwann entstand die Idee, Chris’ Alltag mit der Kamera festzuhalten.
Dieses Vertrauen und die Vertrautheit wie auch der fehlende Druck einer TV-Redaktion oder anderer struktureller Zwänge ermöglichte es, dass Lilith Kugler Chris über zwei Jahre hinweg, von 2021 bis 2023, filmisch begleiten und so über einen sehr langen Zeitraum das Auf und Ab seiner Lebenssituation, seine täglichen Kämpfe und zuletzt dramatischen Wendungen verfolgen konnte. Chris erlaubte der Filmemacherin sogar, die von gegenseitiger Liebe und Respekt geprägten Telefonate mit seiner Mutter zu filmen.
Nicht zuletzt aber führte diese Vertrautheit zu einem Dialog auf Augenhöhe. Chris ist nicht Objekt eines TV-Reports, Kuglers Film ermöglicht vielmehr, festgefahrene, letztlich stereotype und vorurteilsbeladene Sichtweisen aufzubrechen. Die Regisseurin lässt Chris die Zeit und den Raum, sich zu öffnen, ohne dass er in die Situation gerät, sich für sein Handeln und für seine Lebensweise verteidigen oder rechtfertigen zu müssen. Mag die Kamera auch oft sehr nah am Geschehen sein und dann einen unverstellten Blick auf die körperliche Versehrtheit, auf die schmutzige Tristesse der U-Bahnhöfe und andere unwirtliche Aufenthaltsorte von Menschen wie Chris und Alex richten, Lilith Kugler und ihr Kameramann Stephan M. Vogt wissen zugleich auch, im rechten Moment wieder Distanz zu wahren.
Ich will nicht mehr müssen.
Warum er so lebt, wie er lebt, warum er Schwierigkeit hat, Hilfe anzunehmen, welche Wünsche und Hoffnungen er hegt, das vermag Chris in lichten, klaren Momenten sehr genau und wortgewandt zu formulieren. Kugler drängt ihn erkennbar nicht dazu, sondern lässt ihn selbst entscheiden, wann und wie viel er erzählen und preisgeben möchte. Und so fügen sich für die Kinobesucher*innen erst nach und nach Details und Bruchstücke einer schwierigen Biographie zusammen.
Es ist die Geschichte eines Jungen aus der schwäbischen Provinz, der als Kind aufgrund seiner ADHS so sehr mit Wutausbrüchen zu kämpfen hatte, dass er in verschiedenen Einrichtungen untergebracht werden musste. Die Geschichte eines Mannes, der auch Vater ist, und sich nichts sehnlicher wünscht, als eines Tages seinen mittlerweile elf Jahre alten Sohn kennenlernen zu dürfen. Die Geschichte eines drogenabhängigen Menschen, der in seiner Sucht gefangen ist, sich aber nicht daraus zu befreien weiß.
Verschiedene Versuche musste er abbrechen. Therapien, erklärt Chris, verbinde er mit Eingesperrtsein. „Ich bin ein Kontrollmensch. Ich will und kann nicht Sachen abgeben, die Kontrolle verlieren.“ Doch auch die Sucht bedeutet nicht automatisch Freiheit. „Der Scheiß kontrolliert mich“, sagt Chris. Und: „Ich will nicht mehr müssen.“
Der Wendepunkt
Dann eines Tages bricht Chris zusammen und überlebt nur knapp. Die Ursache: eine fortgeschrittene Hepatitis-C-Infektion, die dringend behandelt werden muss. Doch eine solche Therapie erhält er nur, wenn er auch eine Substitutionsbehandlung macht oder clean ist.
„Wenn ich das nicht mache, werde ich das Jahr nicht überleben“, formuliert Chris seine neue, lebensbedrohliche Situation. „Das ist der Grund, weshalb ich definitiv mit Heroin aufhören will.“
In kurzen Momentaufnahmen skizziert „Hausnummer Null“ verschiedene Stationen der nun folgenden Monate, wie etwa ein Gespräch mit dem behandelnden Arzt in der Substitutionspraxis, in dem Chris sehr anschaulich auch die vielschichtigen psychischen Auswirkungen der Behandlung schildert.
Dann ein weiterer, alles andere als einfacher Schritt in eine neue Normalität: Chris erhält ein Einzelzimmer in einer Wohneinrichtung. Er findet einen Job, bei dem er sich zunächst stundenweise an feste Strukturen gewöhnen und erste Schritte in ein soziales Leben jenseits der Straße unternehmen kann.
Eine persönliche und doch beispielhafte Geschichte
Es ist ein langer, ein schwieriger Weg. Ein Weg – wie der Film sehr eindrücklich zeigt –, der viel Mut und Kraft der Betroffenen braucht, aber auch viel Unterstützung von engagierten Menschen und nicht zuletzt auch ein Netzwerk etwa von Drogenhilfe, Gesundheitsdiensten und therapeutischen Einrichtungen.
Über all diese Zeit bleibt Lilith Kugler teilnehmende Beobachterin. Sie erklärt nicht, moralisiert nicht und urteilt nicht. Sie richtet vielmehr den Blick dorthin, wo Passant*innen meist betreten oder unsicher wegschauen. Und sie gibt mit diesem Filmporträt beispielhaft einem dieser gestrauchelten, aus dem System gefallenen oder nicht für das System geschaffenen Menschen ein Gesicht, einen Namen, erzählt dessen Geschichte und bewahrt dessen Würde.
„Hausnummer Null“. D 2024, Regie Lilith Kugler, 95 Min. Kinostart: 12. September 2024.
Diesen Beitrag teilen