Das Vermächtnis: Kraftwerk der Gefühle
In seinem zweiteiligen Drama „Das Vermächtnis“ verhandelt Matthew Lopez Lieben, Leiden und Kämpfe in der schwulen Community und das Trauma der Aids-Krise.
Wenn man nach den beiden Teilen mit insgesamt fast sieben Stunden aus dem Theater wieder ins Freie tritt, lassen sich die Figuren aus „Das Vermächtnis“ und ihre Schicksale nicht so einfach abschütteln.
Doch man fühlt sich nicht erschlagen oder erschöpft – das Gegenteil ist der Fall.
Gebannt hat man Beziehungen mitverfolgt, die sich entwickeln und wieder zerbrechen, eine schwule Hochzeitsfeier, die in einen Skandal mündet, den geistigen wie körperlichen Absturz eines obdachlosen Sexarbeiters.
Man hat Loyalität und Verrat, Selbstbetrug und Aufopferung erlebt, die Wahl von Donald Trump, auch ausgelassene schwule Partys und Sexorgien in Saunen auf Fire Island.
Und es fällt schwer, sich von den Figuren zu verabschieden.
Von Eric, der nicht nur seine bislang mietpreisgebundene Wohnung verliert, sondern auch seinen langjährigen Lebenspartner Toby: Jetzt, da Tobys vermeintlich autobiografischer, in Wahrheit die Realität beschönigender Roman zu einem Broadway-Stück adaptiert und verfilmt werden soll, genügt ihm die kuschelige Zweierbeziehung nicht mehr.
Es fällt schwer, sich von den Figuren zu verabschieden
Toby wird sich in Adam verlieben, den Hauptdarsteller seines Stücks, aber abgewiesen werden. Der junge Sexarbeiter Leo, der Adam täuschend ähnlich sieht, wird zu einem Ersatz. Doch kaum hat Leo Vertrauen zu Toby entwickelt, wird auch er vor die Tür gesetzt.
Eric wiederum findet in dem Mittfünfziger Walter einen innigen Vertrauten und Freund und nach Walters überraschendem Tod in dessen Witwer Henry sogar einen Ehemann.
Emotionale Achterbahnfahrt
Reduziert auf die wichtigsten Handlungsstränge erscheint Matthew Lopez’ Stück wie eine gut gebaute Soap voll dramatischer Wendungen und zwischenmenschlicher Konflikte.
Und tatsächlich gelingt es Lopez, seine Zuschauer*innen bei der Stange wie auch die Spannung zu halten, nicht zuletzt durch die kunstvoll verdichteten, zugleich lebensechten Dialoge und seine vielschichtigen Charaktere, die trotz mancher Typenhaftigkeit größtmögliche Identifikationsmöglichkeiten bieten.
Philipp Stölzl, Regisseur und Bühnenbildner der deutschsprachigen Erstaufführung am Münchner Residenztheater, stellt sich dabei ganz in den Dienst eines naturalistischen Theaters.
Wo im Londoner Westend und am New Yorker Broadway auf einer kahlen Bühne gespielt und der Imagination der Zuschauer*innen vertraut wurde, erleichtert Stölzl ihnen in der Münchner Produktion mit üppig ausgestatteten Räumen die Orientierung und bietet einiges an Schauwert. In zentralen Szenen verstärkt der erfahrene Filmregisseur (Regie führte er zum Beispiel bei der „Schachnovelle“) die Emotionalität sogar durch Musik.
Was ist das Vermächtnis?
Ob das unbedingt nötig gewesen wäre, sei dahingestellt. Denn „Das Vermächtnis“ triggert auch ohne Musik an so vielen Stellen die unterschiedlichsten Gefühle, dass man schon ein kalter Klotz sein müsste, um unberührt das Theater zu verlassen.
Die skizzierten Erzählstränge sind dabei lediglich das Grundgerüst des Dramas, das mehr ist als nur ein Sittenbild schwuler Lebensweisen der (weitgehend weißen) Mittel- und Oberschicht New Yorks.
Angesichts der drei Generationen schwuler Männer, die hier ihren Auftritt haben, stellt sich nämlich vor allem die Frage danach, was denn das titelgebende Vermächtnis ist ist, das als Schlagwort und Metapher in verschiedener Weise durch das Epos geistert.
Das Vermächtnis ist zum einen HIV, das Virus, das über Generationen weitergegeben wird – und durch die Aidskrise vieles unwiederbringlich zerstört hat.
Es ist aber auch das Bewusstsein des schwulen und queeren Kampfes um Selbstermächtigung und Gleichberechtigung – wie auch das Bewusstsein, Teil einer gemeinsamen Geschichte zu sein und damit auch in einer gemeinsamen Verantwortung zu stehen.
Und nicht zuletzt geht es auch um ein ganz konkretes Vermächtnis: ein Landhaus, drei Autostunden von New York entfernt, das Walter Eric vererbt hat – was Walters Söhne missachten.
„Das Vermächtnis“ reflektiert das Trauma der Aidsepidemie
Im zweiten Teil des Dramas wird dieses Haus schließlich zum Zentrum. Hier kristallisieren sich Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit, verknüpfen sich die Handlungsfäden.
Das Trauma der Menschen aus dieser Aidsgeneration und ihr unterschiedlicher Umgang damit wurde so wohl noch nie in einem Theaterstück verhandelt.
Während sich die einen der Vergangenheit stellen, hat Henry sich fürs Verdrängen entschieden. „Das ist mein Recht als einer, der dabei gewesen ist, als einer, der überlebt hat“, sagt er. „Es ist mein Recht als einer, der nicht die Augen schließen kann, ohne die Gesichter zu sehen, die er verloren hat.“
Das [Verdrängen] ist mein Recht als einer, der dabei gewesen ist, als einer der überlebt hat
Die Figur Henry im Drama „Das Vermächtnis“
Doch Lopez bleibt nicht in der Vergangenheit: In der Verbindung mit den Debatten und Lebensrealitäten der jüngeren Generationen – die medikamentöse HIV-Prophylaxe PrEP oder auch die PEP nach einem Safer-Sex-Unfall sind so selbstverständlich präsent wie schwule Dating-Apps, die gleichgeschlechtliche Ehe, Drogensucht und Alkoholismus – wagt er hier einen mutigen Panoramablick auf das schwule Leben in den letzten 40 Jahren bis heute.
Hierhin hatten sich Henry und Walter Anfang der 1980er-Jahren zurückgezogen, um der Aidsepidemie zu entkommen, und hier hat Walter, gegen den Willen seines Lebenspartners, erst Freunden und bald auch Unbekannten die Möglichkeit gegeben, in Würde zu sterben – für Henry der ultimative Verrat.
Sicher, so manche der vielen Themen und Aspekte werden lediglich angerissen. Die Auseinandersetzung darüber zum Beispiel, wie übersättigt und unbedarft weite Teile der schwulen Community ihre Freiheiten leben, ohne sie zu hinterfragen, hätte man gerne noch weiter vertieft gesehen.
Das Vermächtnis ist auch die gemeinsame Geschichte
Was Lopez jedoch überdeutlich klar macht: dass es so etwas gibt wie eine gemeinsame Geschichte, ein kollektives Gedächtnis und daraus resultierend auch eine Verantwortung für einander über die Generationen hinweg.
Darauf zielt auch die virtuos angelegte Struktur des Stückes. Zu Beginn ist da eine Schar namenloser Männer, die sich damit abmühen, „ihre“ Geschichte zu schreiben, sie zu erfinden. Ein älterer Mann, der sich als Morgan vorstellt, hilft ihnen schließlich auf die Sprünge.
Es handelt sich dabei um niemand anderen als den britischen Schriftsteller E. M. Forster (1879–1970). Sein Roman „Howards End“ liefert zentrale Motive für das Stück, aber auch sein erst nach seinem Tod veröffentlichter schwuler Roman „Maurice“ spielt eine wichtige Rolle.
Morgan wird immer wieder in die Handlung eingreifen, den Figuren ins Gewissen reden – und den historischen Bogen homosexueller Lebens(un)möglichkeiten und Emanzipation noch einmal um einige Jahrzehnte erweitern.
Große schauspielerische Leistungen
Michael Goldberg spielt Morgan als weisen Ratgeber und verkörpert auch den mitfühlenden, sich im Stillen aufopfernden Walter. Charakterlich scheint er Eric sehr nah; auch Eric ist ein durchweg sanfter, hilfsbereiter und zugleich hochmoralischer Mensch. Die Anforderungen des Lebensdrohen ihn so permanent zu zerbrechen. Thiemo Strutzenberger bewahrt diese Figur vor der Klischeehaftigkeit, mehr noch: Er macht sie zum heimlichen Zentrum dieses Ensemblestücks.
Das schmälert jedoch keineswegs die Leistungen der anderen. Moritz von Treuenfels etwa spielt Erics Lebensgefährten Toby Darling als sarkastischen Egoisten und ebenso selbstverliebten wie bedauernswerten Egozentriker.
Und nicht zuletzt ist da die einfach großartige, mittlerweile 84-jährige Nicole Heesters. Sie spielt die taffe Hüterin des Landhauses und offenbart in einem bewegenden Monolog nicht nur die Geschichte dieses Ortes, sondern auch ihre eigene: die Geschichte einer Mutter, die ihren Sohn zu einer falsch verstandenen Männlichkeit erzog, dessen Schwulsein nicht ertrug und ihn erst in seinen letzten Lebensstunden um Verzeihung bitten kann.
Umgang einer nachgewachsenen Generation mit der Aidskrise
Das mag nach Kitsch klingen, aber Lopez hat letztlich nur die Erfahrungen vieler Menschen gebündelt und konzentriert. Seine Art des Umgangs mit diesem Teil der schwulen Geschichte scheint nur Personen einer nachgewachsenen Generation möglich (Lopez ist 1977 geboren), die nicht direkt involviert waren.
Ein anderes Beispiel ist Rebecca Makkai (Jahrgang 1978), die in ihrem komplexen Roman „Die Optimisten“ sehr überzeugend über Verlust, Zeugenschaft und Erinnerung schrieb.
Lopez hat die Erfahrungen vieler Menschen gebündelt und konzentriert
Makkais Roman fand begeisterte Leser*innen und Kritiker*innen, auch wenn es Teilen der Kritik suspekt erschien, dass ein Aidsroman auch ein Pageturner sein kann.
Ähnlich waren auch manche Reaktionen auf Lopez’ „The Inheritance“ (so der Originaltitel) in London bzw. New York. Gleichwohl: das Stück wie auch die Uraufführungsinszenierung wurden mit Preisen überhäuft.
Auch die Münchner Inszenierung wurde bei der Premiere zu Recht frenetisch bejubelt, und sie wird ihr Publikum ohne Zweifel finden – zumindest wünscht man sich das. Und auch, dass andere deutschsprachige Bühnen den Mut finden und nicht den Aufwand scheuen, das Stück ins Repertoire zu nehmen.
Und für die neue Spielzeit, so hört man, sollen auch andere Theater „Das Vermächtnis“ zumindest schon einmal in Erwägung gezogen haben.
Trailer zur Münchner Inszenierung: https://www.youtube.com/watch?v=36_xdolc6aI&t=7s
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