2012 stellten die griechischen Behörden HIV-positive Sexarbeiterinnen öffentlich an den Pranger. Das kontroverse Theaterstück „HIV“ greift nun diesen Skandal auf. Ein Gespräch mit der Regisseurin Elena Sokratous

Eine großangelegte Polizeiaktion in Athen sorgte 2012 weltweit für Schlagzeilen. Die griechischen Gesundheitsbehörden ließen rund hundert nicht angemeldete Sexarbeiterinnen festnehmen und zwangsweise auf das HI-Virus testen. Bei 29 fiel der Test positiv aus. Die Staatsanwaltschaft ordnete daraufhin an, die Fotos der betroffenen Frauen im Internet zu veröffentlichen.

Der griechischen Dramatiker Thanasis Triaridis hat diesen Skandal zum Ausgangspunkt eines wütenden, aufwühlenden und gesellschaftskritischen Theatermonologs genommen. Am – fiktiven – Beispiel einer dieser Prostituierten setzt er sich mit Sexarbeit, sogenannter Armutsprostitution und Menschenhandel, aber auch mit Frauenfeindlichkeit und der Diskriminierung von Menschen mit HIV in Griechenland auseinander.

Wie es ihm gelingt, diese keineswegs einfachen Themen innerhalb des rund einstündigen Monologs „HIV“ aufzuarbeiten, wird erstmals am 11. Mai in Berlin zu erleben sein. Es spielt Vasiliki Kypraiou. Vorab hat sich magazin.hiv mit Elena Sokratous, der Regisseurin dieser Uraufführungsproduktion, über das Stück und die Inszenierung unterhalten.

„Die meisten Medien veröffentlichten die Fotos“

Gegen die medienwirksame Polizeiaktion 2012 hatten seinerzeit in vielen Ländern HIV-, Frauen- und Sexarbeitsorganisationen protestiert. Wie aber hatte die griechische Öffentlichkeit damals darauf reagiert?

Thanasis Triaridis schreibt in seinem Theatertext: „Es gab damals einen großen Aufruhr. Sie erinnern sich, oder? Das Ministerium hatte die Namen und die Fotos der Prostituierten herausgegeben, die HIV hatten. Damit ihre Freier sie sehen und sich untersuchen lassen. Die Menschenrechtsorganisationen protestierten. Sie sprachen von Anprangerung. Sie sprachen von sehr vielem. Viele Leute ergriffen Partei für die Prostituierten. Hilfsorganisationen, Organisationen für Frauenrechte und Ähnliches. Danach legte sich die Sache.“

Die meisten Medien nutzten die Enthüllung der Polizei aus, reproduzierten die Fotos und versahen sie mit anprangernden Schlagzeilen wie „Teufelsweib“, „tickende Gesundheitsbombe“ und so weiter. Es gab auch Menschen, die an der Seite dieser Frauen standen. Die Mehrheit jedoch wurde Opfer dieser Propaganda und dachte tatsächlich, dass so die Kunden der Frauen vor einer Infektion geschützt würden.

Leider ist die Ungleichstellung der Geschlechter in Griechenland sehr verbreitet. Das Leben eines männlichen Bürgers ist viel mehr wert als das einer Prostituierten, erst recht als das einer fremden Prostituierten mit HIV. Zudem ist die Bevölkerung kaum über HIV informiert. Diese allgemeine Ignoranz hat zur Verschlimmerung des Bildes von diesen Frauen beigetragen.

„Die Frauen, die überlebt haben, waren für immer stigmatisiert“

Welche Folgen hatte diese Polizeiaktion für die betroffenen Frauen?

Der Staat hat mit dieser Aktion sowohl das Arztgeheimnis und die Menschenrechte dieser Frauen verletzt als auch das Leben der Frauen und deren Familien zerstört. Veröffentlicht wurden nicht nur Fotos, sondern auch persönliche Daten wie Herkunft, Namen der Eltern und Geburtsdatum.

Der Vater einer dieser Frauen hat sich daraufhin umgebracht. Das Kind einer anderen ging in einem kleinen Dorf zur Grundschule. Stellen Sie sich vor, wie der nächste Schultag für das Kind aussah. Oder wie es für das Kind war, als es seine Mutter im Fernsehen sah.

Was die Frauen selbst betrifft: Viele von ihnen wussten gar nicht, dass sie das Virus haben. Manche sind später gestorben, andere haben Suizid begangen. Einige der Frauen waren drogensüchtig und wurden nicht in ein Krankenhaus, sondern in ein Gefängnis gebracht. Diejenigen, die überlebt haben, waren für immer stigmatisiert. Manche wurden erst nach einem Jahr oder später entlassen.

Zudem wurde letztlich keiner – bis auf einer – der Frauen nachgewiesen, dass sie tatsächlich als Prostituierte gearbeitet hatten. Das macht diese Aktion noch skrupelloser, denn es zeigt, das Ziel war nicht die „öffentliche Gesundheitsfürsorge“, sondern die Anprangerung von HIV-positiven Frauen. Es ist unvorstellbar, dass noch heute, sieben Jahre später, die Fotos online zu finden sind.

Thanasis Triaridis hat sich für sein Bühnensolo von diesen Ereignissen inspirieren lassen. Wie dokumentarisch ist der Monolog geworden? Welche Quellen sind eingeflossen? Wie viel ist literarische Fiktion?

Thanasis Triaridis begann mit dem Stück im Februar 2017 während seiner ersten Reise nach Addis Abeba. Er ist einige Male dorthin zurückgekehrt, bis die Adoption seiner Tochter Argane abgeschlossen war. Thanasis war schon über die Situation dort informiert, er konnte aber nicht das Ausmaß der Armut erfassen, bis er diese mit eigenen Augen sah.

Er selbst sagt dazu: „Die Kinder dort sterben nicht an Aids … Sie sterben an Dysenterie. Sie sterben in den ersten Tagen ihres Lebens durch verseuchtes Wasser.“

Er spricht auch über die riesigen Säle voll mit Schuhkartons, in denen Babys liegen. Die Kinder, die Glück haben, werden adoptiert. Andere sind acht Stunden nach der Geburt bereits gestorben oder werden mit zwölf Jahren Prostituierte.

„Die Ereignisse sind wahr, nur die Zusammensetzung ist fiktiv“

Nach seiner Reise wollte er über all das sprechen, und das abscheuliche Ereignis in Griechenland war gleichermaßen Inspiration und Anlass. Die Schauspielerin erklärt zu Beginn der Aufführung:

„Heute Abend werde ich Ihnen also von dem Fall der Epiphany Goodman erzählen. Das ist die nigerianische Prostituierte, die sich 2012 umgebracht hat. Zehn Tage davor zeigte man ihr Bild im Fernsehen und gab bekannt, dass sie Aids habe. Aus Gründen der öffentlichen Gesundheitsfürsorge.

Zehn Tage später fand man sie in der Einrichtung für vorläufige Festnahmen erhängt. Das ist ein Gefängnis – aber offiziell nennt man es Einrichtung.”

Danach bekommen wir eine Geschichte zu hören, die zwar nicht genau so stattgefunden hat, aber hätte stattfinden können. Die Gegebenheiten und die Ereignisse sind wahr, nur die Zusammensetzung ist fiktiv.

Gibt es für die Figur Epiphany ein reales Vorbild?

Leider gibt es im heutigen Europa Millionen von Epiphanys. Sie leben in unserem Europa, auf unseren Straßen, und ihre Kunden sind wir, oder unsere Verwandten, unsere Freunde, unsere Nachbarn … 

„Theater muss direkt, roh und interaktiv sein“

Was für eine Art Theaterabend erwartet die Besucher_innen? Werden wir als Zuschauer_innen direkt angesprochen? Ist es in erster Linie eine Anklage oder die Erzählung einer dramatischen Lebensgeschichte?

Der Autor glaubt, wie ich auch, an das Durchbrechen der vierten Wand im Theater. Ich glaube, der einzige Weg, eine Gesellschaft aufzuwecken, ist eine erzwungene Stellungnahme, eine Erschütterung. Das Theater muss meines Erachtens direkt, roh und interaktiv sein. Es soll Diskussion erzeugen, den Zuschauer mit Fragezeichen füllen, mit Angst, mit Spannung. Es soll ihm die Bequemlichkeit rauben.

Unsere Darstellerin Vasiliki Kypraiou dagegen glaubt an ein anderes Theater. Die Haltungen, die hier im Team zusammenkommen, und die Tatsache, dass die Hauptmitwirkenden ihren Hauptwohnsitz in Berlin, Nikosia, Paris und Athen haben, fließt in die Erzählweise dieser Geschichte ein. Wir ändern immer wieder den Text und passen ihn bis zur Premiere mit unseren Gedanken, unseren Gefühlen und unseren Ansprüchen an diese Zusammenarbeit an.

Welche Reaktionen erhoffen Sie sich vom Publikum? Mit welchem Gefühl werden die Zuschauer_innen die Aufführung verlassen?

Wir wollen auf keinen Fall didaktisch sein. Was sie sehen, die Erfahrung, die sie in diesem Stück machen, soll echt und wahrhaftig sein. Das Stück bietet eine Stunde mit wechselnden Gefühlen: von Lachen bis Angst. Und je nach der Voreinstellung der einzelnen Zuschauer_innen wird auch die Aufführung ihr Ende finden. Es gibt kein klar definiertes Ende. Alles ist möglich.

Der Stücktext, den Sie nun für die Bühne zum Leben erwecken, ist sehr harter Stoff. Hinterlässt das bei Ihnen und der Darstellerin Vasiliki Kypraiou Spuren?

In der Tat. Wir fühlen uns gleichermaßen schuldig und wütend, wenn wir Tampons oder Milch für unsere Kinder kaufen. Wenn wir uns beim Sex mit unseren Gefährten gut fühlen oder den Wasserhahn aufdrehen und sauberes Wasser haben.

An einer Stelle des Stücks sagt Schauspielerin Vasiliki Kypraiou: „Wir können inzwischen alles in Erfahrung bringen, was wir uns nicht vorstellen können… Alle haben Handys. Was immer man uns erzählt, wir googeln es und checken es. Es steht uns nicht zu, ‚unfassbares Elend‘ zu sagen. Wir müssen es uns vorstellen können.”

„Nichtwissen ist keine Ausrede für unsere Ignoranz“

Nichtwissen ist keine Ausrede für unsere Ignoranz. Nach dem Ende jeden Probentages schämen wir uns und sind voller Selbstvorwürfe und Wut, vor allem gegen uns selbst, weil wir nicht genug gegen diese Situation machen. Solange Menschen in ‚unfassbarem Elend‘ leben und unsere westliche Welt sie auch noch ausnutzt, sind wir alle schuldig.

Poster HIV TheaterperformanceVorstellungen am 11. und 12. Mai 2019 um 21 Uhr, Theater Expedition Metropolis (Alte Desinfectionsanstalt), Ohlauer Strasse 41, 10999 Berlin.

Die Aufführung findet auf Griechisch mit deutschen Übertiteln statt und ist ab 18 Jahren geeignet.
Reservierung:
elena-soc@hotmail.com. Telefon 0176-80 692 712. Eintritt 10 Euro, ermäßigt 7 Euro.

Ab September 2019 soll die Produktion in mehreren deutschen Städten sowie danach in Griechenland und Zypern zu sehen sein.

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„Ich war erleichtert, nicht der Einzige zu sein“

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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