Digitale Ungleichheit zementiert soziale Ungleichheit
Ist das Internet ein demokratisches Medium oder schafft es neue soziale Ungleichheiten? Mit dieser Frage hat sich Nicole Zillien, Professorin für Soziologie im Schwerpunkt Mediensoziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen, auseinandergesetzt und zu diesem Thema auch beim Fachtag „Digitalisierung von Aidshilfe“ der Deutschen Aidshilfe (DAH) referiert.
Ein Interview über die sogenannte „Digitale Kluft“ und was diese insbesondere für Gesundheitsthemen im Internet bedeutet, aber auch über die Chancen, die durch digitale Angebote entstehen.
Das Internet, so eine gängige These, hat zu einer Demokratisierung beispielsweise des öffentlichen Diskurses oder der Bildung geführt: Informationen und Debattenräume sind für alle jederzeit zugänglich. Stimmen Sie dieser Ansicht zu?
Insbesondere Privilegierte profitieren von der Verfügbarkeit des Internets
Nicole Zillien: In der Anfangszeit der Internetverbreitung wurde dem neuen Medium tatsächlich ein großes Demokratisierungspotential zugeschrieben. Mit dem World Wide Web wurde um die Jahrtausendwende herum vielfach verknüpft, dass alle Menschen nun niedrigschwellig Zugang zu umfassenden Informationsressourcen hätten. Aus diesem Grund, so wurde angenommen, könnten sich dann auch zuvor marginalisierte Gruppen beispielsweise im öffentlichen Diskurs stärker für ihre Interessen einsetzen. Die Mitte der 1990er-Jahre entstandene Forschung zur digitalen Ungleichheit zeigte aber schnell, dass es insbesondere die eh schon Privilegierten sind, die von der Verfügbarkeit des Internets profitieren. Die Nutzung des Internets ist technisch und ökonomisch vorrausetzungsreich und erfordert hohe Kompetenzen. Menschen, die ökonomisch und bildungsmäßig über höhere Ressourcen verfügen, können das Medium deshalb gewinnbringender in ihrem Alltag zum Einsatz bringen.
Könnten Sie den Begriff der Digitalen Kluft bzw. Digitalen Spaltung kurz an einem Beispiel erläutern? Wie werden im Netz soziale Strukturen reproduziert?
Wissensaneignung im Internet geht mit höheren Anforderungen einher
Wer sich beispielsweise im Netz zu einem Thema schlau machen möchte, stößt auf eine unglaubliche Fülle an Informationsressourcen – tatsächlich war es noch nie so einfach, sich Wissen zu einer beliebigen Frage anzueignen. Die Forschung zum „Digital Divide“ stellt in diesem Zusammenhang jedoch heraus, dass die Wissensaneignung im Internet mit höheren Anforderungen einhergeht als beispielsweise die Zeitungslektüre oder das Anschauen der Fernsehnachrichten. So fällt im Netz beispielsweise vielfach die Gatekeeper-Funktion des Journalismus weg, weshalb die Ansprüche an Selektions- und Verstehensfertigkeiten steigen. Es wird immer schwieriger, Falschnachrichten auszumachen. Heute kommen noch die Mechanismen des Social Web hinzu: Die in erster Linie an ökonomischen Zielen orientierten Algorithmen sozialer Netzwerke sorgen nicht für eine möglichst adäquate Wissensübermittlung, sondern fördern eher die Produktion von Aufregung, Polarisierung.
Was bedeutet die digitale Spaltung für die Teilhabe bestimmter Bevölkerungsgruppen?
Das lässt sich vielleicht mit einem Verweis auf die Innovationsforschung veranschaulichen, die generell ein paradoxes Verhältnis feststellt zwischen der Verfügbarkeit einer Innovation und den Bedarfen, die bestimmte Menschen haben. So wird angenommen, dass diejenigen, die am meisten von einer Innovation profitieren könnten, vielfach zugleich jene sind, die diese Neuerung nicht nutzen oder erst spät in ihren Alltag übernehmen. Ein Beispiel ist vielleicht das Online-Banking: Landbewohner*innen könnten aufgrund der geringeren Anzahl an Bankfilialen in höherem Ausmaß von der digitalen Ausführung ihrer Überweisungen etc. profitieren – zugleich gehören sie zu jenen, die das Onlinebanking in geringerem Ausmaß praktizieren. Im Lockdown waren es beispielsweise Ältere in Seniorenheimen, die mit digitalen Medien zumindest teilweise ihre Einsamkeit hätten überwinden können – was aber kaum zum Einsatz kam. Dieses Paradox ist ein Kerngedanke der Forschung zur digitalen Ungleichheit.
Und was bedeutet die digitale Spaltung für Aidshilfen und Beratungseinrichtungen? Konkret: Worauf sollte oder muss vielleicht sogar bei der der Entwicklung digitaler Angebote geachtet werden, um wichtige Gruppen nicht ungewollt davon auszuschließen?
Es besteht die Gefahr, ausgerecht Menschen, die von digitalen Gesundheitsangeboten profitieren könnten, aufgrund technischer Hürden auszuschließen
Schon früh existierten im US-Kontext spezifisch zu HIV/ Aids Analysen hinsichtlich der digitalen Spaltung. Anfang der 2000er-Jahre ist hier schon im Journal der amerikanischen Gesellschaft für Psychologie zu lesen, dass es vielfach Frauen, ethnische Minderheiten, Arme seien, die das Internet nicht nutzten. Und zugleich fänden sich in diesen soziodemographischen Gruppierungen die am schnellsten wachsenden Populationen von Menschen, die mit HIV/Aids leben. Das heißt, das eben skizzierte paradoxe Verhältnis von Innovation und Bedarfen findet sich auch hier: Jene, die hohen HIV-Risiken ausgesetzt sind, könnten am stärksten von Informationen und Präventionsmaßnahmen im Netz profitieren – zugleich besteht die Gefahr, ausgerechnet jene Menschen aufgrund technischer Hürden oder fehlender Kompetenzen auszuschließen.
Könnten Sie das an einem konkreten Beispiel verdeutlichen?
Aktuell lässt sich dieser Zusammenhang mit Blick auf die ärztliche Behandlung per Videosprechstunde beobachten, was im Kontext der Pandemie an Relevanz gewonnen hat. So kann sich immerhin gut ein Drittel der deutschen Bevölkerung vorstellen, sich ärztlich in einer Videosprechstunde behandeln zu lassen. Allerdings ist diese Bereitschaft in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich stark ausgeprägt: Ältere und formal niedriger Gebildete können sich das tendenziell eher nicht vorstellen – und sind zugleich aber jene mit höherem Krankheitsrisiko.
Wir sprechen nun vor allem über Ausschluss, also negative Auswirkungen digitaler Angebote. Welche Vorteile, neue Möglichkeiten und Chancen können sie bieten, gerade im Bereich Gesundheit, psychosoziale Unterstützung, Empowerment oder Community-Building?
Peer-Support und Austausch unter Betroffenen – auch in der Online-Variante – lässt Ungleichheitseffekte nach hinten treten
In einer älteren Studie habe ich die Internetnutzung von Kinderwunschpatient*innen untersucht. Es zeigte sich, dass diese den Austausch mit möglichst ähnlichen anderen Betroffenen im Social Web als hochattraktiv empfanden. Die Kinderwunschpatient*innen machen vielfach in den Foren einen Selbstexpertisierungsprozess durch, diskutieren auf hohem Niveau und werden so immer mehr zu Expert*innen in eigener Sache. Dabei wird in den Foren ein ganz spezielles Wissen ausgetauscht: Wissenschaftliche Informationen werden mit persönlichen Erfahrungen unterfüttert – gerade, wenn die Expert*innen zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, wird das Wissen von anderen Betroffenen als sehr hilfreich empfunden. Zudem verfügen andere Patient*innen – das weiß man aus Selbsthilfegruppen – auch über ein Wissen z. B. zur Alltagsbewältigung, das Ärzt*innen gar nicht liefern können. Neben Information und Erfahrungswissen ist deshalb der persönliche Support auch ein wichtiger Effekt der Forennutzung. Der Austausch unter Betroffenen ist deshalb – auch in der Online-Variante – ein Angebot, das sehr viele Menschen ansprechen kann. Die Forennutzung wird vielfach als so nützlich erlebt und auch häufig über einen so langen Zeitraum betrieben, dass hier Ungleichheitseffekte – wie sie in der Forschung zur digitalen Spaltung beobachtet werden – eher nach hinten treten.
Aktuell beschäftigen Sie sich mit der digitalen Selbstvermessung. Die reicht von Schlafsensoren über Kalorien- und Schrittzähler bis zur Kontrolle der Menstruationszyklen. Was steckt hinter dieser Entwicklung?
Wir haben in einer früheren Studie die digitale Selbstvermessung der Ernährung untersucht, aktuell widme ich mich dem sogenannten Sleeptracking, der Vermessung des eigenen Schlafs. Leider ist die öffentliche Diskussion zu diesen digitalen Praktiken tendenziell negativ. In unseren empirischen Analysen zeigt sich aber, weshalb das Tracken des eigenen Körpers häufig als sehr hilfreich empfunden wird. Wer sich mit Ernährungsweisen auseinandersetzt oder wer einen Umgang mit seinen Schlafstörungen sucht, stößt häufig auf ganz unterschiedliches, teils auch widersprüchliches wissenschaftliches Wissen. Über Ernährungswissen oder Schlaftipps streiten sich auch die Expert*innen. Zudem ist jeder Fall anders, die Konstellationen sind ganz individuell und was bei dem einen hilft ist vielleicht bei der anderen von Schaden. All dies führt zu Unsicherheiten, was in bestimmten Lebenssituationen nun konkret zu tun ist. Vor diesem Hintergrund liefert das häufig über einen langen Zeitraum betriebene digitale Selbstvermessen schlichtweg Sicherheit: Lai*innen verwissenschaftlichen zur Beantwortung individueller Handlungs- und Entscheidungsfragen ihr eigenes Alltagsleben. Auf diesem Weg zielen sie auf die Herstellung eines individuellen Problemlösungswissens, das auf die Wissenschaften rekurriert und zugleich in drängenden Alltagssituationen dienlich ist.
Weiterführende Literatur:
Nicole Zillien: „Digitale Ungleichheit: Neue Technologien und alte Ungleichheiten in der Informations- und Wissensgesellschaft“, 284 Seiten, VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Nicole Zillien: „Digitaler Alltag als Experiment: Empirie und Epistemologie der reflexiven Selbstverwissenschaftlichung“, 202 Seiten, transcript Verlag.
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