Gesundheitsversorgung

„Eine Katastrophe“: Landesweiter Mangel an HIV-Medikamenten in Russland

Von Gastbeitrag
HIV Medikamente

Seit Monaten kommen Meldungen über Unterbrechungen der HIV-Therapie von Patient*innen aus mindestens 25 Regionen der Russischen Föderation. Der Mangel an Medikamenten droht die Fortschritte in der HIV-Versorgung zunichte zu machen. Iryna Baglikova berichtet, warum das Gesundheitssystem trotz ausreichender Produktion für eine Unterversorgung in Russland sorgt und welche Auswirkungen das hat.

Die Medikamente für Menschen mit HIV, die das russische Gesundheitsministerium für 2023 gekauft hat, sind längst aufgebraucht oder gehen zur Neige. Das sei eine Katastrophe, sagen Ärzt*innen und Patient*innen, die mit der Situation vertraut sind. Einen solchen Kollaps hätten sie seit 13 Jahren nicht mehr erlebt. Inzwischen drohe wegen der unzureichenden Behandlung von HIV eine Epidemie in der Bevölkerung. Im Jahr 2023 besteht eine Diskrepanz zwischen den in den Regionen benötigten und den vom Gesundheitsministerium genehmigten Arzneimittelmengen: Bei einigen Medikamenten beträgt das Defizit landesweit 50 bis 60 Prozent.

Das Gesundheitsministerium ist bereits im März alarmiert worden

Das System funktioniert in der Regel wie folgt: Das Gesundheitsministerium erhebt und genehmigt Ende des Jahres den Medikamentenbedarf für alle Regionen, zwischen Januar und März werden die Ausschreibungen für den Kauf der Medikamente angekündigt, durchgeführt und die Verträge abgeschlossen. Bestenfalls im April, schlimmstenfalls im Juni kommen die Medikamente in den Regionen an; in St. Petersburg werden sie an das Zentrum für die Prävention von Aids und anderen Infektionskrankheiten geliefert. Im Zentrum erhalten die Patient*innen ihre Medikamente nach dem ärztlich verordneten Schema für drei Monate. Da es inzwischen Kombinationspräparate gibt, die mehrere antiretrovirale Medikamente in einer Tablette enthalten, bekommen die meisten Patient*innen zwei oder drei Arten von Medikamenten.

Die am häufigsten nachgefragten Medikamente sind Dolutegravir und Eviplera. Ersteres ist die primäre Behandlungslinie gemäß den klinischen Empfehlungen und eines der am häufigsten verschriebenen Medikamente, das durch nichts ersetzt werden kann. Das zweite ist ein Kombinationspräparat, das es den Patient*innen ermöglicht, die Therapietreue aufrechtzuerhalten, da es drei ART-Wirkstoffe (ART = antiretrovirale Therapie) in einer Tablette kombiniert: Emtricitabin, Rilpivirin und Tenofovir. Dass die Probleme mit diesen Medikamenten sowie mit Raltegravir im August beginnen würden, erkannten die St. Petersburger*innen bereits im März, als sie die öffentlich zugänglichen Ausschreibungen auf der Website für Regierungsaufträge sahen. Sie begannen daraufhin, das Gesundheitsministerium schriftlich zu alarmieren.


Seit Anfang 2023 zeichnet sich eine beispiellose Medikamentenknappheit ab, sodass Patient Control Anfragen aus allen Städten des Landes erreichen.

Tatjana Winogradowa, Chefärztin des Zentrums für die Prävention von Aids und anderen Infektionskrankheiten, sagte dem Petersburger Nachrichtenportal Fontanka, dass die Situation mit Medikamenten für HIV-Patient*innen wirklich festgefahren sei, obwohl man in St. Petersburg schon lange wisse, wie man mit dem Mangel an Medikamenten im Gesundheitsministerium umgehen müsse. Zusätzliche Anschaffungen werden jedes Jahr vom Gesundheitsamt finanziert. Letztes Jahr waren es 380 Mio. Rubel, dieses Jahr sollten es 450 Mio. Rubel sein, aber diese Summe wurde bereits im Frühjahr für den Kauf von Medikamenten verwendet, ausgehend von den zentralisierten Engpässen von 2022. Niemand hat jedoch damit gerechnet, dass das Defizit im Jahr 2023 so katastrophal sein wird: Die Beschaffung durch die Stadt wird nicht ausreichen, um das gesamte Defizit zu decken.

Milliardenschwere Belastungen für die Regionen

Eigentlich sollte die Stadt gar nichts tun müssen, denn die Bereitstellung der ART ist eine Aufgabe des Gesundheitsministeriums und des Föderalhaushalts. In vielen Regionen des Landes hat man nie zusätzliche Mittel für die HIV-Behandlung aus dem eigenen Budget zur Verfügung gestellt: Man kommt mit dem aus, was und wie viel man hat; wer unzufrieden ist, behandelt sich selbst.

Doch seit Anfang 2023 zeichnet sich landesweit eine beispiellose Medikamentenknappheit ab, sodass die russische Organisation Patient Control und die Website Pereboi.ru Anfragen aus allen Städten des Landes erreichen. Die Organisation wird über Lieferengpässe von ART-Medikamenten in russischen Regionen informiert, insbesondere bei Atazanavir, Darunavir, Dolutegravir, Raltegravir, Ritonavir, Rilpivirin/Tenofovir/Emtricitabin, Tenofovir, Elsulfavirin, Emtricitabin, Etravirin, Efavirenz. Die Beschwerden sind so zahlreich, dass die Mitarbeiter*innen der Organisation, die früher den Menschen geraten haben, sich mit den Chefärzt*innen der Kliniken oder den regionalen Gesundheitsministerien bzw. -ämtern in Verbindung zu setzen, nun empfehlen, sich direkt an das Bundesgesundheitsministerium zu wenden. Die Menschen erhalten dann formale Antworten wie: „Ihre Beschwerde wurde an Ihre Region weitergeleitet.“ Das bedeutet wahrscheinlich, dass die Medikamente auch dort verteilt werden sollen.

Wenn die föderale Behörde erklärt, sie könne ihren Verpflichtungen gegenüber den Patient*innen nicht nachkommen, sich aber nicht an die Regionen wendet, um sich „irgendwie helfen zu lassen“, entledigt sie sich ihrer Verantwortung, indem sie die Beschwerden der Patient*innen auf die Regionen abwälzt, die das durch ihr eigenes Verschulden entstandene Defizit ausgleichen müssen.

Der Donbass muss abgelaufene Medikamente verwenden

Diese Position des Gesundheitsministeriums ist besonders zynisch, wenn es um den Donbass geht. „Bis zum Frühjahr 2022 wurden die Patient*innen vom Globalen Fonds zur Bekämpfung von HIV mit Unterstützung des Internationalen Roten Kreuzes mit Medikamenten versorgt. Seitdem die Lage dort unsicher wurde und die Volksrepublik Donezk offiziell als russische Region anerkannt wurde, ist dies Aufgabe Russlands. In Donezk werden entweder Medikamente mit einem überfälligen Verfallsdatum aus alten Restbeständen verteilt oder es wird empfohlen, Medikamente in Krasnodar oder Rostow zu kaufen, da es selbst in Apotheken keine Medikamente gibt. Um föderale Einkäufe für die beigetretenen Regionen tätigen zu können, müssen alle Patient*innen im föderalen Register eingetragen sein, was noch nicht geschehen ist“, erklärt Julia Vereschtschagina, Aktivistin von Patient Control

2023 fehlen Russland Medikamente, weil sie schon 2022 knapp waren

Nichtregierungsorganisationen aus 30 russischen Regionen, darunter St. Petersburg, die Oblast Leningrad und die Volksrepublik Donezk haben einen Stellvertreter von Ministerpräsident Michail Mischustin, Gesundheitsminister Michail Muraschko und den Vorsitzenden des Staatsduma-Ausschusses für Gesundheitsschutz, Badma Baschankajew, um Hilfe gebeten. Sie erklären, warum es nicht genügend Geld für Medikamente für HIV-Patient*innen gibt, obwohl „die finanzielle Unterstützung von Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung von HIV-Infektionen unter Berücksichtigung der Notwendigkeit, die persönliche Sicherheit der Bürger*innen sowie die Sicherheit der Gesellschaft und des Staates zu schützen, als Priorität angesehen werde“. Einfach ausgedrückt: Wenn HIV nicht ausreichend behandelt wird, besteht die Gefahr, dass sich die Krankheit in der Bevölkerung weiter ausbreitet.

Zivilgesellschaftliche Aktivist*innen berichten, dass das Budget für die Beschaffung von ART-Medikamenten zur Behandlung von HIV (zusammen mit Medikamenten gegen Tuberkulose und Hepatitis B und C) im Rahmen der Verordnung Nr. 1512 für den Zeitraum 2023 bis 2025 nicht erhöht wurde und sich auf 31,7 Mrd. Rubel pro Jahr beläuft, während der Bedarf an Medikamenten jährlich steigt. Ein Teil der für 2023 vorgesehenen Mittel wurde bereits im Jahr 2022 ausgegeben, und die Medikamente wurden im selben Zeitraum verwendet.

Im Jahr 2023 belaufen sich die Verträge des russischen Gesundheitsministeriums für ART-Medikamente (für die verbleibenden Mittel des Haushalts 2023 und im Rahmen der bestehenden Dreijahresverträge) auf insgesamt nur 21,5 Mrd. Rubel mit einem Medikamentenvolumen von 292.000 Behandlungskursen. Damit können bis Ende des Jahres nur etwa 30 Prozent der Patient*innen, die eine ART benötigen, versorgt werden. In einigen Fällen würden sie auf Medikamente umgestellt, die sie zuvor aufgrund von Nebenwirkungen abgesetzt hätten, da die Nebenwirkungen angeblich nicht tödlich seien.

St. Petersburg bekamt 453 Packungen des am meisten nachgefragten Medikaments

Das Gesundheitsministerium reagierte auf die seit Monaten anhaltende Anfrageflut und kündigte weitere Ankäufe von Raltegravir und Dolutegravir an. Mit dem ersten Medikament wird St. Petersburg bis Ende des Jahres vollständig versorgt sein. Die Versorgung mit dem zweiten Medikament wurde den Einwohner*innen von St. Petersburg vom Gesundheitsministerium praktisch verweigert. Von der angekündigten Beschaffung erhält St. Petersburg 453 Packungen. Eine Packung deckt den Bedarf eines*einer Patient*in für einen Monat. Im Aids-Zentrum erhalten 7.900 Patient*innen dieses Medikament.

„Bisher, als verschiedene Regionen des Landes Unterbrechungen in der Versorgung mit HIV-Medikamenten meldeten, blieb St. Petersburg glücklicherweise noch verschont. Doch nun ist auch diese Region in Not geraten“, sagt Julia Vereschtschagina. „Außerdem klafft im föderalen Haushalt ein Loch, und das betrifft nicht nur die Probleme mit HIV-Medikamenten. Aber HIV ist eine chronische Infektionskrankheit, und es besteht die Gefahr, dass Menschen, die auf eine für sie ungeeignete Therapie umgestellt werden, die Pillen nicht mehr nehmen. Damit schaden sie in erster Linie sich selbst, aber es ist auch gefährlich in Bezug auf die HIV-Übertragung.“

Die Lager sind voller Medikamente, aber dem Gesundheitsministerium fehlt Geld

„Der Mangel an ART-Tabletten ist weder auf die Sanktionen noch auf die gestiegenen Medikamentenpreise zurückzuführen. Das einzige Problem ist, dass das Gesundheitsministerium kein Geld hat, um sie zu kaufen“, sagt Vereschtschagina. Das bestätigt auch Andrey Skwortsow, Direktor der ID-Clinic mit Apotheke: „Das Einzelhandelsnetz verfügt über alle Medikamente für die antiretrovirale Therapie. Einige sind im Vergleich zum letzten Jahr sogar billiger geworden. Außerdem sind die Lager der Hersteller voll mit Medikamenten, die im Gesundheitssystem knapp geworden sind.“ Das Gesundheitsministerium kauft alle Medikamente für ein Jahr in der Erwartung, dass zu Beginn des nächsten Jahres „Restbestände“ vorhanden sind. Wenn diese bereits aufgebraucht sind, dauern die Probleme bestenfalls bis Mai nächsten Jahres an.


„Der Mangel an ART-Tabletten ist weder auf Sanktionen noch auf Medikamentenpreise zurückzuführen. Das Problem ist, dass das Gesundheitsministerium kein Geld hat.“

Julia Vereschtschagina, Aktivistin von Patient Control 

Ein Vertreter von Patient Control sagt, es gebe zwei Möglichkeiten, eine Katastrophe zu verhindern: Entweder die Behörde finde Geld aus irgendwelchen Reserven, oder sie greife auf das Budget für 2024 zurück – wie im letzten Jahr. Wenn man aber bedenke, dass das Budget für Medikamente im letzten Jahr auf diese Weise festgelegt worden sei, sei es notwendig, eine Aufstockung der Mittel einzuplanen. Dies umso mehr, als der Bedarf durch Patient*innen aus den beigetretenen Gebieten zunehme; es sei eine unmögliche Situation, wenn Menschen ohne Medikamente dastünden.

Proteste in St. Petersburg 2010

Als 2010 der Mangel an antiretroviralen Medikamenten seinen Höhepunkt erreichte und selbst Schwangeren die Behandlung verweigert wurde, gingen HIV-Patient*innen in 17 Föderationssubjekten auf die Straße. In St. Petersburg ketteten sich Aktivist*innen mit Handschellen an die Tür des Verfassungsgerichts und entrollten den Slogan „Halbe Behandlung – halbe Gesetze“. Über der Mahnwache prangten Kreuze mit den Lebensdaten von Menschen, deren Leben durch bürokratische Verzögerungen ausgelöscht wurde: „Olesja Iwanowa, 1980-2010: ‚Sie änderten mein Behandlungsschema, die Nebenwirkungen führten zu meinem Leberversagen.‘“ Es half nichts. Ende August 2011 ketteten sich Aktivist*innen von Patient Control erneut an das Gebäude der Präsidialverwaltung gegenüber dem Gesundheitsministerium in Moskau.

Aktion von Patient Control 2010 in St. Petersburg

Damals beschloss die russische Regierung, die Medikamentenbeschaffung zu dezentralisieren, und das Gesundheitsministerium stellte den Regionen Gelder zur Verfügung, damit die Aids-Präventionszentren Medikamente selbst kaufen konnten. Im Jahr 2016, als die Mittel für das Gesundheitssystem gekürzt wurden, kehrte man zum alten Schema zurück: Die Mitglieder der Russischen Föderation meldeten ihren Bedarf beim Gesundheitsministerium an und das Ministerium beschaffte die Medikamente und verteilte sie nach Bedarf an die Regionen. Dabei wird davon ausgegangen, dass je größer die Abnahmemenge ist, desto billiger ist auch eine bestimmte Pillenpackung.

Zunächst lief alles gut, denn in den Regionen, vor allem in St. Petersburg, mangelte es dabei nur an teuren modernen Medikamenten, sodass die Stadt jedes Jahr im Haushalt Mittel dafür vorsah, um Kinder, HIV-positive Schwangere und Patient*innen zu versorgen, die z. B. wegen individueller Nebenwirkungen die Standardtherapie nicht einnehmen konnten. Doch je länger die Beschaffung durch die Föderation dauerte, desto größer wurde der Mangel an allen Medikamenten. In den letzten Jahren musste das [regionale] Gesundheitsamt die grundsätzlich den Föderalbehörden auferlegten Verpflichtungen erfüllen, um den sich abzeichnenden Medikamentenmangel auf Kosten des städtischen Haushalts zu beheben.

Aktion von Patient Control 2010 in St. Petersburg

Russland hat sich verpflichtet, bis 2030 das im Rahmen der internationalen „90-90-90“-Strategie vereinbarte Ziel zu erreichen: 90 Prozent aller Menschen mit HIV sollen diagnostiziert sein und von diesen 90 Prozent antiretroviral therapiert werden und von diesen 90 Prozent eine reduzierte Viruslast aufweisen.

Russlands Fortschritte bei der HIV-Bekämpfung bedroht

Eine gesenkte, nicht mehr nachweisbare Viruslast bedeutet auch, dass HIV nicht mehr auf andere übertragen werden kann.

Durch das Absetzen der Medikamente wiederum kann das Virus wieder übertragen werden. Die Erfahrung zeigt, dass Patient*innen eine ART ablehnen, wenn sie nicht kostenlos ist, wenn sie nicht gut vertragen wird oder wenn die Anzahl der einzunehmenden Tabletten zu hoch ist.

Zu den Fortschritten bei der HIV-Bekämpfung der letzten Jahre gehört die kostenlose Abgabe von Medikamenten bei positivem HIV-Test. Dank moderner Medikamente, auch Kombinationspräparate, werden nur noch maximal drei Medikamente pro Tag eingenommen – ohne schwere Nebenwirkungen. Diese Fortschritte werden derzeit rückgängig gemacht.

Der hier gekürzte Artikel erschien in ganzer Länge zuerst im Juli 2023 auf 76.RU.

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