Fachtag

Aids beenden – ein realistisches Ziel für alle?

Von Inga Dreyer
Bild: Tanja Gangarova
Bis 2020 wollen die Vereinten Nationen die 90-90-90-Ziele erreichen, damit bis 2030 niemand mehr an Aids erkranken muss. Das heißt: 90 Prozent aller Menschen mit HIV sollen eine HIV-Diagnose bekommen haben. 90 Prozent der Menschen mit einer HIV-Diagnose sollen eine lebensrettende antiretrovirale Therapie machen. Und 90 Prozent der Menschen unter einer HIV-Therapie sollen eine Viruslast unter der Nachweisgrenze haben – HIV kann dann auch beim Sex nicht mehr übertragen werden.

Dafür ist unter anderem ein einfacher Zugang zu HIV-Tests und zu medikamentöser Therapie nötig – und der Abbau von Stigmatisierung und Diskriminierung, denn viele Menschen lassen sich aus Angst vor Ausgrenzung nicht auf HIV testen. Häufig wird darum mittlerweile von den 90-90-90-0-Zielen gesprochen: 0 steht dabei für null Diskriminierung.

Um Aids zu beenden, brauchen wir null Diskriminierung

Doch sind diese Ziele erreichbar? Auf dem Fachtag „90-90-90-0 – ein realistisches Ziel für alle!?“ der Deutschen Aidshilfe diskutierten am 11. Oktober rund 70 Teilnehmer_innen – Vertreter_innen von Mitgrantenselbstorganisationen, Aktivist_innen aus den Bereichen Flucht, Migration, Asyl und antirassistische Bildung, Mitarbeiter_innen von Aidshilfen und von Projekten im Feld Sexarbeit – über Diskriminierung und Zugangsbeschränkungen zum deutschen Gesundheitssystem.

Aids beenden: Wo steht Deutschland bei den 90-90-90-0-Zielen?

Was die 90-90-90-Ziele betrifft, scheint Deutschland relativ weit zu sein. Ende 2017 lagen die Zahlen laut Robert Koch-Institut bei 87–92-95.

Doch Tanja Gangarova, Referentin für Migration der Deutschen Aidshilfe, fragt in ihrem Eröffnungsvortrag: „Wie sollen wir die 90-90-90-Ziele erreichen, wenn ein nicht zu unterschätzender Anteil der Migrant_innen keine Krankenversicherung hat – alleine bei der MiSSSA-Studie des Robert Koch-Instituts waren dies 20 % der Befragten – und daher gar keinen oder eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung?“ Die existierenden Parallelstrukturen der medizinischen Versorgung für Menschen ohne Papiere und/oder Krankenversicherung könnten HIV-Fälle nur in den seltensten Fällen und dann auch nur zeitlich begrenzt abdecken.

Wichtig ist, die intersektionale Perspektive in den Blick zu nehmen

„Besonders beunruhigend ist die Situation der Migrant_innen in Bezug auf null Diskriminierung, so Gangarova weiter. Die DAH-Studie „positive stimmen“ habe bereits 2012 gezeigt, dass bei gleichen HIV-Status vor allem drei Gruppen im deutschen Gesundheitssystem und in ihrem Umfeld benachteiligt werden: Migrant_innen, Drogengebraucher_innen und Sexarbeiter_innen.

Es sei daher wichtig, auch die intersektionale Perspektive in den Blick zu nehmen. „Wie es einer Person mit HIV geht, hängt unter anderem davon ab, ob sie einen deutschen Pass hat, ob sie krankenversichert ist, welche Hautfarbe oder welche Geschlechtsidentität sie hat, wie ihr Bildungsstand ist oder ihre Herkunft. Das bedeutet: Menschen werden oft nicht nur aufgrund eines einzelnen Merkmals benachteiligt, sondern aufgrund unterschiedlicher, zum Teil miteinander verbundener Aspekte“, so Gangarova.

In Zeiten der „Dämonisierung der Anderen“, insbesondere von Migrant_innen – einer Dämonisierung, die nicht nur in den Massenmedien, sondern auch im medizinischen Bereich sowie in der queeren Community weit verbreitet sei –, müssten die verschiedenen Communities daher untereinander solidarisch und zur Selbstkritik bereit sein: „Wer sich gegen Diskriminierungen einsetzt, muss auch bei sich selbst ansetzen – und sich mit der eigenen Kultur, den eigenen Privilegien und mit ausgrenzenden Strukturen auseinandersetzen.“

Rassismus und Diskriminierung sind Alltag im Gesundheitssystem

Eine Schwarze Teilnehmerin erzählt, wie sie immer wieder wurde getriezt wurde und sich als Mensch zweiter Klasse behandelt fühlte. Eine Frau habe ihr gesagt, sie rieche nach Schweiß und solle doch ein Deo benutzen. Einmal sei es sogar so schlimm gewesen, dass sie es nicht mehr ausgehalten und sich in der Toilette eingeschlossen habe.

„Wer sich gegen Diskriminierungen einsetzt, muss auch bei sich selbst ansetzen“

All dies trug sich nicht auf einem Schulhof, sondern in einem deutschen Krankenhaus zu. Sie habe damals beschlossen, die Zähne zusammenzubeißen und die Ausbildung zur Krankenschwester zu beenden, erzählt sie weiter. „Aber ich hatte keine Lust mehr, in diesem Beruf zu arbeiten.“

Eine andere Workshopteilnehmerin erzählt, dass das Personal medizinischer Einrichtungen bei nichteuropäischen Akzenten der Patient_innen häufig genervt reagiere. „Wir sind hier sehr auf Sprache fixiert“, sagt sie und betont: „Viele Afrikaner_innen gehen nicht gerne zum Arzt oder zur Ärztin. Sie warten, bis es richtig schlimm ist.“

Auch viele andere Teilnehmer_innen berichten über Diskriminierungserfahrungen. Sie alle zeigen: Diskriminierung und Rassismus gibt es auch im deutschen Gesundheitssystem.

Hürden für Migrant_innen – mit und ohne Papiere oder Krankenversicherung

Schwierigkeiten beim Zugang zu Testangeboten und medizinischer Versorgung haben beispielsweise auch Menschen ohne Papiere oder EU-Bürger_innen ohne Krankenversicherung. Und auch für Migrant_innen mit Aufenthaltstitel und Krankenversicherung kann sich der Zugang aus verschiedenen Gründen schwierig gestalten.

Migrant_innen sind überproportional durch HIV und Aids bedroht

Dabei sind Migrant_innen laut Robert Koch-Institut eine epidemiologisch relevante Zielgruppe, die überproportional durch HIV und Aids bedroht ist.

2016 zum Beispiel wurden etwa mehr als ein Drittel der HIV-Neudiagnosen bei Migrant_innen gestellt, und unter ihnen ist auch die Zahl der sogenannten late presenters – Menschen, die erst bei fortgeschrittenem Immundefekt von ihrer HIV-Infektion erfahren – sehr hoch.

Diskriminierungsfreie Ansprache von Zielgruppen

Doch wie kann diese Zielgruppe erreicht werden, ohne der einzelnen Person ein erhöhtes Infektionsrisiko zu unterstellen? Tanja Gangarova berichtet, dass in einigen Arztpraxen Schwarze Frauen oft ohne Grund gefragt werden, ob sie einen HIV-Test gemacht haben oder ob sie HIV-positiv sind – weiße Frauen aber nicht. Ein Thema des Fachtags ist deshalb die Herausforderung, Zielgruppen diskriminierungsfrei anzusprechen und strukturelle Barrieren abzubauen.

Ein Weg ist der Zugang über Menschen, die in den jeweiligen Communities geachtet und respektiert werden.

Francesca Merico, HIV-Kampagnen-Koordinatorin vom Ökumenischen Rat der Kirchen (World Council of Churches), berichtet von der internationalen Zusammenarbeit mit religiösen Respektspersonen. Um das Verständnis für die Probleme und Stigmatisierungserfahrungen von Menschen mit HIV zu erhöhen, bringt der Verband unterschiedliche Akteur_innen zusammen: Vertreter_innen religiöser Gemeinschaften, staatlicher Ministerien und Gesundheitseinrichtungen sowie Betroffene. Solche Beispiele zeigen: HIV-Prävention muss Menschen in ihren Lebenswelten abholen.

Zugang zum Gesundheitssystem für alle schaffen – aber wie?

Neben der Frage nach den Angeboten werden auf dem Fachtag auch institutionelle Beschränkungen des Gesundheitssystems diskutiert. Teilnehmer_innen fordern, dass eine medizinische Versorgung aller Menschen garantiert werden müsse – unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus.

„Als ich bei der DAH anfing, dachte ich, es gäbe in Deutschland keine Menschen ohne Krankenversicherung“, erzählt Alphonsine Bakambamba, Mitarbeiterin im Bereich Migration der Deutschen Aidshilfe. Schnell aber erfuhr sie, dass das nicht stimmt. In dem Workshop, den sie mit Lillian Petry und der Professorin Hella von Unger leitet, berichten Teilnehmer_innen von ihren Erfahrungen bei der Behandlung von Menschen ohne Papiere.

Medizinische Versorgung darf nicht vom Aufenthaltsstatus abhängen

Ein Mitarbeiter einer Aidshilfe in Baden-Württemberg zum Beispiel erzählt, er berufe sich gegenüber dem Gesundheitsamt auf den Paragrafen 19 des Infektionsschutzgesetzes. Auf diese Weise habe er Zusagen für eine medikamentöse HIV-Behandlung von Menschen ohne Aufenthaltsstatus bewirkt. In anderen Regionen jedoch scheint das schwieriger zu sein, wie Teilnehmer_innen berichten.

In Berlin wurde Ende 2018 eine Clearingstelle für Menschen ohne (ausreichende) Krankenversicherung eingerichtet. Workshopteilnehmer_innen beurteilen diese Entwicklung einerseits als positiv, kritisieren aber andererseits, dass es dort in erster Linie um eine Legalisierung gehe, etwa durch einen Asylantrag. Häufig sei dies aber nicht möglich, weil für viele Betroffene im Rahmen des Dublin-Systems andere Länder zuständig seien, erklärt eine Mitarbeiterin des Berliner Projekts Fixpunkt. Wie auch diesen Menschen eine HIV-Behandlung ermöglicht werden kann, ist eine der zentralen Fragen des Workshops.

Diskriminierung findet auch in der Wissenschaft statt

„90-90-90 ist ein schönes Ziel“, urteilt Professorin Ciann Wilson von der Wilfrid Laurier University in Kanada. Um es zu erreichen, müssten aber auch die soziokulturellen Faktoren und Mehrfachdiskriminierungen Beachtung finden. „Menschen sind nicht von selbst gefährdet. Sie werden durch bestimmte Strukturen einem größeren Risiko ausgesetzt“, betont sie.

Ciann Wilson forscht zum Thema HIV und nimmt dabei auch den Wissenschaftsbetrieb selbst in den Blick. Auffällig sei, dass aus ihrer Altersgruppe nur noch eine Schwarze Person in diesem Forschungsfeld aktiv sei: sie selbst. Auf einer anderen Ebene hingegen spielten Schwarze Menschen in der Wissenschaft eine große Rolle: als Forschungsobjekte.

Die Professorin berichtet, dass in Kanada Teilnehmer_innen für Studien zum Thema HIV und Aids über Menschenrechts- oder Frauengesundheitsorganisation sowie migrantische Vereine rekrutiert werden. Dabei handele es sich vorwiegend um Menschen aus schwächeren sozialen Verhältnissen. Wilson kritisiert, viele von ihnen wüssten nicht, dass die Teilnahme an den Studien freiwillig sei. Was sie beobachtet, bewertet die Professorin als Ausbeutung verletzlicher Menschen für eine vorwiegend weiße Wissenschaft. „Daten-Sammlung ist neuer Sklavenhandel“, betont sie.

Auseinandersetzung mit ausgrenzenden Strukturen

Ein weiteres Thema des Fachtags ist die Auseinandersetzung mit weißen Privilegien. Als Lösungsansatz wählen mittlerweile viele Organisationen Trainings zur Intersektionalität, denn die gängigen interkulturellen Trainings sehen viele kritisch: sie seien meist zu sehr auf die „Kultur der Anderen“ ausgerichtet und würden oft Stigmatisierung bereits stigmatisierter Communities reproduzieren. Viele Probleme hätten aber nichts mit „Kultur“, sondern mit ausgrenzenden und rassistischen Strukturen zu tun.

Manchmal kann schon ein neues Layout ein Schritt in die richtige Richtung sein

Die zeigen sich häufig schon am äußeren Erscheinungsbild: Selbstkritisch bemerken einige Teilnehmer_innen, dass die Eingangsbereiche zu ihren Beratungsstellen ein einseitiges Bild vermitteln. Viele Flyer und Broschüren richteten sich vorwiegend an homosexuelle, weiße, deutsche Männer. Als Frau oder Migrant_in fühle man sich davon nicht angesprochen, bemerkt eine Teilnehmerin.

Ein Teilnehmer aus Dortmund präsentiert als Gegenbeispiel einen Flyer, der sich vor allem an afrikanische Communities richtet. „So ein Öffnungsprozess ist in unserer Arbeit sehr wichtig “, betont er. Und so zeigt sich: Manchmal kann schon ein neues Layout ein Schritt in die richtige Richtung sein.

Redaktion: Holger Sweers

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