In „Positiv – Leben mit HIV und Aids” berichten Positive aus ihrem Alltag. Das Buch liefert Stoff für eine wichtige Diskussion: Wie sieht HIV-Selbsthilfe in Zukunft aus? Eine Rezension von Paul Schulz

Neu erschienen: Positiv – Leben mit HIV

Ungefähr 70.000 Menschen in Deutschland wissen, dass sie HIV-positiv sind. Das sind 70.000 Geschichten, 70.000 verschiedene Antworten auf die Fragen: Wie ist das passiert? Was denkst du jetzt darüber? Wie gehst du mit deiner Infektion um?

Jede Antwort ist anders, weil jeder Mensch anders ist. In ihrem Buch “Positiv – Leben mit HIV und Aids” stellen Phil C. Langer, Jochen Drewes und Angela Kühner 15 Menschen vor, die diese Fragen beantworten – von der 70-jährigen Hausfrau aus einer bayrischen Kleinstadt bis zum 25-jährigen Großstadtschwulen.

Als Erstes fällt auf: Obwohl die HIV-Selbsthilfe in Deutschland auch 29 Jahre nach dem ersten Auftreten von Aids hauptsächlich in schwuler Hand ist – die Geschichten über HIV und Aids in Deutschland sind es nicht mehr. Entsprechend unterschiedlich sind auch die Sichtweisen. Das Bild von HIV-Positiven in Deutschland, das bei der Lektüre entsteht, ist ein buntes, vielfältiges, umfassendes.

Man liest die Erfahrungsberichte und will dann mehr. Was schlicht daran liegen mag, dass es von diesen Zeugnissen in ihrer ganzen Alltäglichkeit noch viel zu wenige gibt. Man kann das Buch beruhigt jedem Neu- oder Altinfizierten, jedem Angehörigen oder Freund in die Hand geben und sich darauf verlassen, dass es mindestens eine Geschichte gibt, in der er sich wiederfinden und aus der er eventuell sogar etwas lernen kann.

Wo im letzten Frühjahr Matthias Gerschwitz in “Endlich mal was Positives” den Strahlemann mit HIV gab und dabei übers Ziel hinausschoss, konzentrieren sich die drei Herausgeber sehr stark auf die Schwierigkeiten, die einem das Leben mit HIV und Aids machen kann. Das ist ausgesprochen schade, denn die Geschichten, die sie aufgezeichnet haben, bergen nicht nur spannende und sachdienliche Hinweise, sondern könnten auch unterhaltsam und berührend sein. Dieses Potenzial der 15 subjektiven Sichtweisen auf HIV und Aids wird verschenkt.

Geraten die persönlichen Berichte manchmal etwas zu knäckebrotig, so ist die Ein- und Heranführung ans Thema wirklich gelungen. Der Artikel “Hintergründe: HIV und Aids in Deutschland” bringt auf knapp 30 Seiten mehr Informationen unter als viele sehr viel dickere Bücher. Ab Seite 180 gibt es mehrere kürzere Texte, die sich mit den psychologischen Schwierigkeiten der Infektion und den Diskussionen über HIV und Aids auseinandersetzen. In ihrer charmanten Komplexität legen sie eine gute Grundlage für die anstehende Debatte darüber, wie sich die HIV-Selbsthilfe in den nächsten Jahren weiterentwickeln sollte.

Zusätzlich listen die Herausgeber im Anhang viele empfehlenswerte Bücher zum Weiterlesen auf. Im gut gemachten Glossar finden sich auch solche Menschen zurecht, die sich zum ersten Mal mit dem Thema beschäftigen. Zusammen mit den 15 persönlichen Geschichten ist “Positiv – Leben mit HIV und Aids” damit das vielfältigste Buch über HIV und Aids, das derzeit in Deutschland zu haben ist.

Paul Schulz

Phil C. Langer, Jochen Drewes, Angela Kühner (Hg.): “Positiv – Leben mit HIV und Aids”, Balance, 232 Seiten, 15,95 Euro

Balance-Verlag

1 Euro des Kaufpreises geht als Spende an die Deutsche AIDS-Hilfe

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2 Kommentare

  1. Danke für diese Kritik Herr Schulz! Zwei Fragen habe ich: Warum ist es für Sie schwer zu ertragen, dass es heute, 15 Jahre nach Vancover und einige Jahr nach den Verlautbarungen der Eidgenössischen Kommission zu Fragen der Transmissionsrisiken bei unterdrückter Viruslast glückliche strahlende HIV-positive Menschen gibt? Wieviel Unglück und Leid muss es denn noch sein- und, über welches Ziel (Frage 2!) wird da ihrer Meinung nach hinausgeschossen? Ich jedenfalls kenn´ zum Glück eine ganze Reihe von HIVpositiven Männern, die ein normales glückliches Leben führen. Das freut mich, habe ich doch auch das Sterben in den 80er und 90er Jahren erlebt.

  2. Ich darf auch an dieser Stelle (siehe IWWIT-Blog) darauf hinweisen, dass ich nicht glaube, mit »Endlich mal was Positives« über’s Ziel hinausgeschossen zu sein, weil ich in diesem Buch meine persönliche Situation, meinen Umgang, meine Erfahrungen und meine Einstellungen beschrieben … ich das Ziel also selbst festgelegt habe. Subjektive Berichte haben nun mal keine Vergleichshöhe, sondern sind nur ein Beispiel (von vielen).

    Es ist in meinen Augen für diejenigen, die sich direkt oder indirekt zum ersten Mal mit HIV befassen (müssen), eher kontraproduktiv, wenn sie von vorneherein negativ konditioniert werden. Dass HIV kein Zuckerschlecken ist, dürfte eigentlich auch dem letzten Hinterwäldler klar sein; dass es aber eben kein Todesurteil mehr ist – das haben viele (vor allem heterosexuelle) Menschen immer noch nicht verinnerlicht. Und daran arbeite ich … und wie ich bei Lesern und Zuhörern bei Lesungen erfahren darf, tue ich das durchaus mit Erfolg. Und darauf kommt es meiner Meinung nach auch an.

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