Das Lebensgefühl in den Zeiten von Aids, Armut und Anarchie
Dieses Weihnachtsfest wird ungemütlich. Der Winter hat die Stadt fest im Griff. Rockmusiker Roger und Filmemacher Mark, die sich eine Wohnung in einem Abbruchhaus im New Yorker East Village teilen, müssen frieren. Sie haben nicht nur Mietschulden, mittlerweile wurde ihnen auch der Strom abgestellt.
Die Widrigkeiten, denen Jonathan Larson die beiden mittellosen Künstler in seinem Musical „Rent“ aussetzt, musste sich der Komponist und Dramatiker nicht ausdenken. Er konnte aus dem eigenen Erfahrungsfundus und dem seines Freundeskreises schöpfen. Larson hat in seinem kurzen, arbeitsintensiven Leben dicht an der Armutsgrenze gelebt.
Seine am Off-Broadway aufgeführten Bühnenstücke waren zwar relativ erfolgreich, aber kaum einträglich. Fast acht Jahre widmet er sich ausschließlich seinem Großprojekt „Rent“, kämpft sich durch Umarbeitungen, streitet mit potenziellen Produzenten und testet die Neufassungen.
Über acht Jahre arbeitet Larson an „Rent“
Seinen Kellnerjob, mit dem er sich über all die Jahre den Lebensunterhalt finanziert, gibt er erst wenige Wochen vor der geplanten Uraufführung auf. „Rent“ wird Larsons Lebenswerk. Seine Vision: ein Rockmusical zu schaffen, dass nicht nur musikalisch und ästhetisch auf der Höhe der Zeit ist, sondern auch Themen und Probleme der Gegenwart behandelt.
Und so erzählt „Rent“ von einer Freundesclique – Schwule, Lesben, Künstler_innen, Outcasts und Aufsteiger –, den Sorgen und Nöten der modernen Boheme, von Immobilienhaien, die billigen Wohnraum zu Luxuslofts umwandeln, von Drogenabhängigkeit, Rassismus und Homosexuellenfeindlichkeit und vom Leben mit Aids.
Wie viele Künstler seiner Generation, zumal in New York, hatte Larson in den 90er-Jahren miterleben müssen, wie die Aidsepidemie auch unter Freunden und Kollegen wütete. Diese Erfahrungen verarbeitet er mit „tick, tick… BOOM!“. In dieser Soloshow, die später zu einem Kammermusical erweitert wurde, wird ein Mann mit der HIV-Infektion seines Freundes konfrontiert. Ein solcher einschneidender Moment ist schließlich auch die Initialzündung für „Rent“, einer modernen Version von „La Bohème“.
Eine moderne Version von „La Bohème“
Larson hat Puccinis Oper vom Paris der 1830er-Jahre ins New York seiner Gegenwart versetzt – in eine Zeit vor der Kombinationstherapie, in der die HIV-Infektion nur schwer behandelbar und damit ein Aidstod sehr wahrscheinlich war. Aus Puccinis Näherin Mimi wird bei Larson eine heroinabhängige Stripperin, aus dem Poeten Rodolfo der Punkrocker Roger, aus dem Maler Marcello der Videokünstler Mark – und aus Tuberkulose wird Aids.
Der Musiker und Ex-Junkie Roger trauert um seine Freundin, die nach ihrer HIV-Diagnose Suizid beging, und fürchtet, selber sterben zu müssen, bevor ihm ein wirklich bedeutender Song gelungen ist. Der Anarcho Tom hat sich in die Drag Queen Angel verliebt, doch angesichts ihrer HIV-Infektion weiß das Paar nicht, wie lange es sein Glück genießen kann.
„In diesen gefährlichen Zeiten, wo die Welt aus den Fugen zu geraten scheint, können wir alle von jenen lernen, die dem Tod jeden Tag buchstäblich ins Gesicht starren müssen“, hatte Larson wenige Tage vor seinem Tod notiert. „Wir sollten uns die Hände reichen und uns zu einer Gemeinschaft verbinden, anstatt uns vor den Schrecken des Lebens am Ende dieses Jahrtausends zu verstecken.“
Fast alle Figuren in „Rent“ müssen sich auf die eine oder andere Weise mit HIV und Aids, mit der Trauer um Verstorbene und der Angst vor dem eigenen Sterben auseinandersetzen. „Will I Lose My Dignity/ Will Someone Care/ Will I Wake Tomorrow/ From This Nightmare?” hat Larson den Schmerz und die Furcht eines HIV-Positiven in dem Lied “Will I?” ausgedrückt.
Hommage an Verstorbene im Freundes- und Kollegenkreis
Die entsprechende Szene spielt bei einem Treffen einer Positiven-Selbsthilfegruppe. Larson hat immer wieder Freunde zu solchen Meetings begleitet und seine Erlebnisse in „Rent“ verarbeitet. Den Gruppenteilnehmer_innen hat Larson im Originallibretto die Namen von an Aids verstorbenen Freund_innen gegeben, um so an sie zu erinnern.
In den Bühnenproduktionen werden diese jeweils durch Namen von an Aids erkrankten oder bereits verstorbene Kollege_innen und Freund_innen der Ensemblemitglieder ausgetauscht. Für Theaterproduzenten war „Rent“ in jeder Hinsicht ein Wagnis, am Broadway strömte das Publikum in Musicals wie „Cats“, „Das Phantom der Oper“ und „Les Miserables“, in Stücke, die für zwei, drei unterhaltsame Stunden Probleme, Alltag und Gegenwart vergessen ließen.
„Rent“ aber macht genau das zum Thema und schildert dabei weniger eine Handlung, sondern vielmehr das Lebensgefühl und Beziehungsgeflecht einer Künstlerclique, die sich mit Drogendealern, Immobilienspekulanten, Obdachlosigkeit, Krankheit und Armut auseinandersetzen muss.
Jonathan Larson hat das Publikum nicht unterschätzt. „Rent“ wurde zu einem außerordentlichen Erfolg. Die erste Aufführungsserie im New York Theater Workshop, einer Off-Broadway-Bühne, war binnen zwei Tagen ausverkauft. Danach wechselte die Produktion für 5.123 Vorstellungen an den Broadway, wird mit einem Tony Award, dem Pulitzer-Preis und zahlreichen anderen Auszeichnungen prämiert. Zwar war das Leben mit HIV und Aids auch zuvor schon Thema in anderen Musicals gewesen, wie etwa in „Falsettos“ von James Lapine und William Finn, doch keine dieser Produktionen war international so erfolgreich wie „Rent“.
Zeitweilig eines der erfolgreichsten Muscials aller Zeiten
Für einige Jahre gehörte Larsons Werk zu den kommerziell erfolgreichsten Musicals, besonders im englischsprachigen Raum. Chris Columbus („Mrs. Doubtfire“, „Harry Potter und der Stein der Weisen“) adaptierte es 2005 für die Leinwand.
All das hat Larson freilich nicht mehr erlebt. Am 21. Januar 1996 musste er die technische Probe unterbrechen und wurde mit Verdacht auf Herzinfarkt in ein Krankenhaus eingeliefert. Die behandelnden Ärzte vermuteten allerdings eine Lebensmittelvergiftung und schicken ihn wieder nach Hause.
In einem anderen Krankenhaus wurden seine Brustschmerzen als Folge einer Grippe diagnostiziert. Larson gönnte sich zwei Tag Ruhe und schleppte sich anschließend zur Kostümprobe ins Theater zurück, gegen Mitternacht ließ er sich von einem Taxi nach Hause bringen. Am nächsten Tag sollte die erste öffentliche Voraufführung stattfinden.
Larson starb, wie die Autopsie ergab, in den frühen Morgenstunden an einen durch das Marfan-Syndrom verursachten Riss in der Aorta. Die erste öffentliche Vorstellung von „Rent“ wurde so zur Gedenkfeier und zum posthumen Triumph für Larson. „Es ist ein Stück über das Leben und nicht nicht über den Tod“, hatte Larson in einem seiner wenigen Interviews betont.
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