Antje Sanogo, Migrationsexpertin der Münchner Aids-Hilfe, verzweifelt an der bayrischen Flüchtlingspolitik und kritisiert den Vorschlag aus der CDU, das kanadische „Patensystem“ für Einwanderer in Deutschland zu übernehmen.

(Dieser offene Brief erschien als Presseerklärung der Münchner Aids-Hilfe und findet sich auf deren Website. Wir danken Antje Sanogo und der Münchner Aids-Hilfe für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.)

Was ich seit Herbst 2013 im Umgang mit Flüchtlingen in diesem Land erlebe, spottet jeder Beschreibung: Diese Menschen werden in unwürdigen Verhältnissen untergebracht, in maroden, überbelegten Unterkünften an Orten, die verkehrsmäßig schlecht erschlossen und ohne Auto kaum zu verlassen sind. Flüchtlinge warten inzwischen bis zu sechs Monate, bevor ihr Asylantrag überhaupt registriert wird. Bis dahin ist ihr Anspruch auf Unterbringung und Versorgung vollkommen ungeklärt. Diejenigen, die nicht aus einem Herkunftsland kommen, für das ein beschleunigtes Verfahren vorgeschrieben ist, warten weitere Jahre auf ihre Anhörung.

„An der Ideologie der Abschreckung wird festgehalten“

Für mich ist es inzwischen unerträglich geworden, mit komplett versagenden Behörden und Regierenden in Bayern konfrontiert zu sein. Obwohl seit Ende 2013 klar ist, dass die steigenden Flüchtlingszahlen nachhaltige und neue Konzepte für deren Unterbringung und Versorgung erfordern, wird an der Ideologie der Abschreckung von Flüchtlingen durch Lagerunterbringung und eingeschränkte Sozialleistungen festgehalten. Dies führt dazu, dass bei Unterbringungs- und Versorgungsengpässen immer nur Löcher gestopft werden. Wie kann es sonst sein, dass im Dezember 2014 in der Messestadt Ost eine Container-Unterkunft auf dem Parkplatz eröffnet wurde, von der man weiß, dass sie spätestens im August 2015 wieder verschwinden muss? Hofft man, dass bis dahin schon irgendwie alles vorbei sein wird?

Hinzu kommt: Die Verantwortung für die Versorgung von Flüchtlingen wurde inzwischen weitgehend Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und freiwilligen Helfer_innen überlassen. Für die Münchner Aids-Hilfe berate und unterstütze ich vollkommen verzweifelte, traumatisierte und zum Teil schwer kranke Menschen: HIV-positive Frauen, die an Krebs erkrankt sind oder auf der Flucht mehrfach vergewaltigt wurden und dabei schwere innere Verletzungen erlitten haben. HIV-positive junge Männer, die an sexuellen Übergriffen auf der Flucht zerbrochen sind.

„Ohne Freiwillige und NGOs wäre die Versorgung längst zusammengebrochen“

Sie erhalten ohne die Unterstützung, wie sie beispielsweise von der Münchner Aids-Hilfe geleistet wird, nur unzuverlässig Behandlungsscheine für medizinische Behandlung und die Übernahme der Kosten für die Fahrt zu einer HIV-Schwerpunktpraxis, obwohl ein Anspruch darauf besteht. Sie werden in Bayern zwar zwangsweise einer Gesundheitsuntersuchung unterzogen, auch auf HIV. Jedoch ist bei einem positiven Befund kein Zugang zu medizinischer Versorgung gesichert. Denn die Flüchtlinge werden bereits vor der Mitteilung eines positiven HIV-Testergebnisses auf die Landkreise verteilt. Dort sind sie bei Befundmitteilung oft von Beratungsmöglichkeiten und HIV-spezifischer medizinischer Versorgung abgeschnitten.

Häufig wissen HIV-positive Flüchtlinge nicht, dass in Deutschland durch medikamentöse Therapie der Ausbruch von Aids verhindert werden kann. Wenn nicht freiwillige Helfer_innen wären, die Betroffene in unsere Beratungsstellen bringen würden, wäre die Versorgung von Flüchtlingen wahrscheinlich schon längst zusammengebrochen.

„Seehofers Sonntagsreden klingen für mich schon fast wie Hohn“

Die Sonntagsreden von Herrn Seehofer, Herrn Herrmann* und Frau Müller** über die Unverzichtbarkeit des Engagements der Bürger_innen für Flüchtlinge klingen für mich schon fast wie Hohn. Ist es wirklich zu viel verlangt, dass man sich mit den NGOs und den freiwilligen Helfer_innen an einen Tisch setzt und an einer Lösung für eine menschenwürdige Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen arbeitet? Das ist bisher nicht geschehen. Und wenn die offizielle Haltung der Bayerischen Staatsregierung zu Einwanderung und Flucht sich in der Befürchtung erschöpft, Deutschland sei das Sozialamt der Welt, wird auch nichts geschehen. Übrigens: Ich weiß nicht, wie viele Flüchtlinge Herr Seehofer bereits persönlich kennengelernt hat. Ich kenne sehr viele,­ aber keine, die nach Deutschland kommen, weil sie ein Sozialamt suchen.

CDU-Generalsekretär Tauber meint, Deutschland brauche ein Patensystem, wie Kanada es eingerichtet hat. Dort wird jedem Einwanderer ein einheimischer Pate zur Seite gestellt, der ihm das Land erklärt. Ich meine: Die Einwanderungspolitik in Deutschland scheitert nicht daran, dass wir kein Patensystem haben, denn es gibt sehr viele Menschen in diesem Land, die Migrant_innen und Flüchtlinge unterstützen.

„Wir brauchen keine Paten, sondern engagierte Politiker“

Was wir vielmehr brauchen sind Politiker, die klare Entscheidungen für ein zuallererst humanitäres System der Aufnahme von Migrant_innen und Flüchtlingen treffen und diese Entscheidungen dann auch in Wahlkampfzeiten und gegen AfD und PEGIDA konsequent vertreten.

Wenn nicht bald umgedacht und gehandelt wird, erleben wir eine humanitäre Katastrophe – mitten in Deutschland.

Antje Sanogo

 

Anm.d.Red.:

*  Joachim Herrmann, Staatsminister des Innern, für Bau und Verkehr

** Emilia Müller, Staatsministerin für Arbeit und Soziales, Familie und Integration

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1 Kommentar

  1. Es sind diese „politischen Haltungen“ die Menschen zu Über – Angriffen auf Flüchtlinge und Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte veranlassen und bestärken.

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