Leben mit HIV

Ein Bild und tausend Fragen

Von Philipp Spiegel
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© Philipp Spiegel
Am 2. Januar 2014 bekam unser Autor Philipp Spiegel seine HIV-Diagnose. Zu diesem Jahrestag blickt er zurück auf die erste Begegnung, die er danach mit einem ebenfalls HIV-positiven Menschen hatte.

Es war noch keine Woche vergangen seit der Nachricht. Die Worte „Dein Test kam jetzt zweimal positiv zurück“ hallten noch frisch durch meinen Kopf und mein Leben. Ein emotionales Erdbeben, das immer wieder neue Wellen der Angst durch mich schickte. Nachbeben, die mich in einen eigenartigen Trancezustand versetzten. Ich wusste, es stimmte, flehte jedoch innerlich, dass es nicht wahr sein möge. Ich wollte es nicht wahrhaben, gleichzeitig zweifelte ich an mir und allem, was ich tat.

Während ich mir das Virus wegwünschte, manifestierten sich tausende Fragen in meinem Kopf. Ich fühlte mich infektiös und war komplett verängstigt, da ich noch keinen Schimmer hatte, was diese Diagnose tatsächlich bedeutete.

Eintauchen in den größten Slum Asiens

Nach Indien war ich wegen einiger Fotografie-Projekte gereist. Im Zentrum stand die Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisation Rescue Foundation, die versklavte Sexarbeiterinnen aus ihrer Gefangenschaft befreite. Einerseits gab es da nächtliche Befreiungsversuche in Mumbais Rotlichtvierteln, bei denen ich dabei sein durfte, andererseits die Resozialisierung der Geretteten – und natürlich den bürokratischen Alltag. Sofern mir die Zeit blieb, arbeitete ich auch an einer Geschichte über Slum-Tourismus in Dharavi, der als Asiens größter Slum gilt.

Ich wollte meine HIV-Diagnose nicht wahrhaben, hatte tausende Fragen

Die Nächte verbrachte ich hellwach. So sehr mich die Geschichten auf Trab hielten – die HIV-Gedanken, die Ängste und die Stimmen in meinem Kopf übertönten sogar den lauten indischen Verkehr. Der einzige Weg, diese Stimmen zu bändigen, war, mich noch mehr in die Arbeit zu stürzen.

Immerhin hatte ich noch zwei lange Wochen vor mir, bevor ich meine Rückreise in ein neues HIV-Leben antrat. Die Tage würde ich wie auf Autopilot verbringen. Einfach funktionieren. Die Arbeit erledigen. Eine Story nach der nächsten bearbeiten. Fokussieren auf die Fotografie, auf die Momente um mich herum.

Bild von Philipp Spiegel aus dem Slum Dharavi in Mumbai
Aluminium-Recycling in Dharavi, dem Slum in Mumbai. Bild: Philipp Spiegel

Dharavi, die riesige Stadt inmitten der Stadt, bot eine perfekte Flucht aus meinen Gedankenspiralen. Tagsüber besuchte ich stolze Unternehmer, die mir den Slum näherbrachten. Ein unerwartet komplexes System an Hierarchien, Industrien und Infrastrukturen zeigte sich mir. Hier lebten nicht die Ärmsten, die Verlassenen oder die Ausgestoßenen – das Slumleben war überraschend teuer, man musste schon sein Geld verdienen. Und so verbrachte ich die Tage in Unternehmen, die Aluminium oder Plastik recycelten, in Schulen, Communityzentren und Töpferwerkstätten, bevor ich abends in die Einzelhaft meiner Gedanken entlassen wurde.

Nachts übertönten die HIV-Gedanken sogar den lauten indischen Verkehr

Alle paar Tage besuchte ich dann wieder die NGO, um mehr über die schwierige Resozialisierung früherer Sexarbeiterinnen zu erfahren. Um wieder auf Rettungsaktionen in den Rotlichtvierteln zu gehen. Die Inhaftierten zu sehen, die Versklavten – und die hunderten Männer, die Schlange standen vor kleinen, staubigen Zellen. Schattenseiten der Menschheit im Herz der Finsternis.

Die Fülle der Eindrücke und Emotionen drängte meine eigene Situation weit in den Hintergrund. Sie gab mir eine Möglichkeit, Distanz aufzubauen, und verschaffte mir eine Rationalität, mit der meine HIV-Diagnose beherrschbar wurde.

Erste bewusste Begegnung mit einem anderen Menschen mit HIV

Eine Woche nach meiner Diagnose fuhr ich auf den Landsitz der NGO. Ein abgelegenes Anwesen, fernab der verschmutzen Großstadt. Kein Straßenlärm, nur Vogelgezwitscher, grünes Gras und frische Landluft. Ein extremer Kontrast zu der Woche davor.

Als ich ankam, sah ich eine Gruppe geretteter Frauen, die lachend Fußball spielten. Ihr früheres Leben schien unglaublich weit weg.

Mein Guide führte mich durch das Anwesen, die Mensa, die Unterrichtsräume, das Lazarett – und zeigte schließlich auf ein Gebäude fernab. Das Hospiz.

„Da sind die HIV-Positiven“, erklärte er, als wir langsam darauf zugingen. Mein positives Blut gefror. Eine Welle der Panik packte mich, und ich versuchte, ja nicht langsamer zu gehen. Jeder Schritt wurde zur Qual – das Gebäude schien mir plötzlich wie eine furchteinflößende Festung, die immer größer, dunkler und bedrohlicher wurde, je näher ich kam.

Festhalten konnte ich mich nur an meiner Kamera

Es gibt wohl für alle Menschen mit HIV den Moment, in denen man das erste Mal bewusst einen anderen positiven Menschen kennenlernt. Hier kam meiner. Unerwartet, überfordernd und ein Sprung ins kalte Wasser.

Aber ich musste cool spielen. Mein Guide hatte natürlich keine Ahnung – nicht mal ich hatte viel Ahnung! Ich musste schauspielern, durfte nicht zittern, musste normal, aber nicht „zu normal“ sein. Festhalten konnte ich mich nur an meiner Kamera.

Wir betraten einen großen Raum mit wenigen Betten – und da sah ich sie. Eine ganz normale Frau. Wie die anderen draußen, die Fußball spielten. Sie lächelte. Ich weiß nicht, was ich mir ausgemalt, was ich erwartet hatte.

Tausende Fragen, aber keine gemeinsame Sprache

Aber eine Flut an Fragen drängte sich mir auf. Ich wollte sie tausende Sachen fragen – hätten wir doch nur ein paar Minuten alleine und eine gemeinsame Sprache.

„Wie fühlt es sich an? Kannst du es spüren? Kannst du es in deinen Venen spüren? Was hat es gemacht? Was kannst du mir sagen? Wie lange hast du es schon? Tut es weh? Schmerzt es? Warum bist du in diesem Trakt und nicht bei den anderen? Wie kannst du mit diesem Ding in dir leben? Wie ist das so? Kannst du mich beruhigen? Es mir erklären? Kannst du mir sagen, dass es wieder gut wird?“

Ich versteckte mich hinter meiner Kamera und starrte sie durch den Sucher an – ungesehen von allen anderen. Jedes Detail wollte ich aufsaugen, jede Ecke ihres Gesichts, ihres Bettes, ihrer Sachen erkunden. Ich suchte nach Hinweisen auf ihr Leben – auf irgendetwas, das mir Sinn geben könnte. Irgendetwas, das mir helfen würde, meine Zukunft zu sehen. Hinweise auf das Leben – und das Überleben. Irgendetwas, das die anderen nicht sehen konnten. Meine Augen flehten sie an: „Zeig es mir. Zeig mir dieses Ding. Erzähl mir, was du weißt.“

„Kannst du mir sagen, dass es wieder gut wird?“

Sie lächelte schüchtern und liebevoll zurück. Wahrscheinlich dachte sie sich einfach: „Warum schaut mich dieser Weiße so komisch an?!“

Ich drückte ab. Ich wollte diesen Augenblick für mich haben. All meine Fragen in einem Bild. Um ein „Es wird alles gut“ zu finden. Ich war bereit, ihre Seele für meine Befriedung zu stehlen. Ich war verzweifelt. Und während ich sie fotografierte, brannte sich der Moment in mein Gedächtnis ein. Mein erster, bewusster Kontakt mit einem anderen HIV-positiven Menschen.

Die Emotionen, die Verwirrung und jedes Detail dieses Augenblicks sind bis heute ein Foto in meinem Kopf. Für immer gespeichert.

Ohne Worte verabschiedeten wir uns. Ich wünschte, ich hätte ihr mein Geheimnis anvertrauen können.

„Keine Sorge. Ja, es wird alles gut werden.“

An dem Abend lag ich wieder wach – mit noch mehr Fragen als zuvor. Der Sturm war erst am Horizont. Das Schlimmste lag noch vor mir. Das Ungewisse. Und die Angst vor dem, was kommen würde. Der jahrelange Sturm.

Heute, sechs Jahre später, bin ich oft in der Situation dieser Frau.

Immer wieder spricht mich jemand an und erzählt mir, dass ich der erste oder der erste heterosexuelle Mensch mit HIV bin, den sie persönlich kennengelernt haben. Und ich erkenne die Fragen in ihren Augen. Dieselbe Neugier, dieselben Verunsicherungen. Während sie ein paar Fragen aussprechen, suchen ihre Augen so viel mehr.

Und ich versuche immer, mit einem offenen Lächeln wortlos zu antworten: „Keine Sorge. Ja, es wird alles gut werden.“

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