HIV-Diskriminierung und Datenschutz

HIV-Datenleck in Singapur: Der Skandal ist die Diskriminierung

Von Peter Wiessner
HIV-Datenleck in Singapur
In Singapur sind Daten von 14.200 Menschen mit HIV öffentlich geworden. Gedeihen konnte das Datendesaster vor allem, weil im Stadtstaat ein extrem konservatives Klima herrscht.

Namen, HIV-Status, Passnummern und Adressen: Ende Januar 2019 informiert die Polizei in Singapur das Gesundheitsministerium, dass Daten von Menschen mit HIV online zugänglich sind. Betroffen sind insgesamt 14.200 Menschen, 8.800 davon aus dem Ausland, 5.400 Staatsangehörige Singapurs.

Für Betroffene ist das Zwangs-Outing katastrophal

Für die Betroffenen, besonders für betroffene Ausländer_innen, ist das Zwangs-Outing eine Katastrophe. Kurze Zeit nach der Veröffentlichung kontaktierte mich ein Freund, der sich während eines Arbeitsaufenthaltes in Singapur infiziert hatte. Das HIV-Testergebnis hat er glücklicherweise in seinem Heimatland erhalten. Nur wenige in seiner Familie und dem Freundeskreis wüssten von seiner HIV-Infektion – nicht auszumalen, wie sie auf die Veröffentlichung seiner privaten Daten reagiert hätten.

Viren lassen sich an Grenzen nicht aufhalten

Singapur hat immer noch Aufenthaltsbestimmungen, die Menschen mit HIV diskriminieren: Wer länger als drei Monate im Land bleiben möchte, muss einen HIV-Test vorlegen. Ist der Test positiv, erfolgt die Ausweisung. Bis 2015 sahen die gesetzlichen Bestimmungen des Landes sogar ein komplettes Einreiseverbot für Menschen mit HIV vor. Als ob HIV (oder Schweinepest, SARS, die Geflügelpest …) durch solche Maßnahmen an Grenzen gestoppt werden könnte.

Hinzu kommt: Wer in Singapur lebt und bei einem nicht anonym durchgeführten Test ein HIV-positives Ergebnis bekommt, fällt unter den Infectious Diseases Act, das Gesetz gegen ansteckende Krankheiten.

Die Folge: Er oder sie kann zu einer Zwangsberatung zur Übertragungsvermeidung verpflichtet werden – bei Weigerung drohen maximal 10.000 Dollar Strafe oder zwei Jahre Haft. Außerdem sind Menschen mit HIV und sogar Menschen, die mit einiger Wahrscheinlichkeit HIV-positiv sein könnten, dazu verpflichtet, Sexualpartner_innen vor dem Sex über ihre Infektion oder über das Risiko einer HIV-Infektion beim Sex zu informieren… Wer das nicht tut, dem drohen bis zu 50.000 Dollar Strafe oder zehn Jahre Haft.

Menschen mit HIV werden kriminalisiert

Was die betroffenen Personen für Singapur geleistet haben und wie lange sie im Land waren, spielt bei der Durchführung dieser Maßnahmen keine Rolle. Auch nicht, ob sie HIV-Medikamente nehmen (wodurch HIV beim Sex gar nicht übertragen werden kann) und ob sie für die HIV-Behandlung selbst aufkommen können. Die einzige Möglichkeit für HIV-positive Ausländer_innen, im Land zu bleiben, ist die Hochzeit mit einer_m Staatsbürger_in.

Die diskriminierenden Bestimmungen kommen aus einer Zeit, in der man nicht recht wusste, wie das Virus übertragen wird, einer Zeit, die von Angst und Panik geprägt war. Schutzwälle sollten die neue, furchterregende Epidemie stoppen. Von der Angst waren nicht nur Panikpolitiker à la Peter Gauweiler infiziert, sie war damals ein globales Phänomen. Auf dem Höhepunkt der Hysterie zählten wir 104 Länder mit diskriminierenden Bestimmungen.

Wichtig ist der Respekt vor den Menschenrechten

35 Jahre später wissen wir mehr: dass obligatorische HIV-Tests und andere Zwangsmaßnahmen eher dazu geneigt sind, die Epidemie zu verbreiten als einzudämmen. Die Bestimmungen spiegeln Scheinsicherheiten vor, die die Prävention unterminieren: HIV-Infektionen werden nicht durch Grenzziehungen verhindert, sondern durch Änderung der Verhältnisse, Verhaltensanpassung und Schutz durch Therapie.

Menschen mit HIV entziehen sich der Kontrolle und der Behandlung, wenn sie negative Konsequenzen befürchten müssen. Außerdem kann Diskriminierung Menschen davon abhalten, sich auf HIV testen zu lassen – und nimmt ihnen so die Chance, frühzeitig mit der lebensrettenden HIV-Behandlung zu beginnen.

Nach wie vor haben Dutzende Länder diskriminierende Aufenthaltsbestimmungen

Zudem sind die Bestimmungen ungerecht und menschenverachtend. Das Beispiel Singapurs zeigt eindrücklich, wie wichtig der Respekt gegenüber Menschenrechten ist, und dass diese im Mittelpunkt jeglicher HIV-Arbeit stehen müssen.

Die Vorgänge verdeutlichen, worin das eigentliche Problem liegt: Nach wie vor haben dutzende Länder diskriminierende Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen für Menschen mit HIV, darunter Russland und die Vereinigten Arabischen Emirate. Und selbst wenn es keine spezifischen Gesetze oder Bestimmungen gibt, ist die Praxis häufig diskriminierend. So können etwa Arbeitgeber_innen Visa für HIV-positive Angestellte widerrufen, oder Menschen mit HIV haben Schwierigkeiten, ihre HIV-Medikamente über die staatliche Krankenversicherung zu bekommen.

Davon betroffen sind auch Studierende und Arbeitnehmer_innen aus unseren Breitengraden. Die Datenbank zu HIV-bedingten Einreisebestimmungen unter www.hivtravel.org vermittelt einen Überblick.

„Schuldige“ für das HIV-Datenleck waren schnell gefunden

In der medialen Aufbereitung der Vorgänge in Singapur wird auf diese Zusammenhänge kaum eingegangen – ein Armutszeug für die Presse. Nach gängigem Muster wurden schnell Schuldige ausgemacht. Im Zentrum der Anschuldigungen steht der aus Michigan stammende US-Amerikaner Mikhy K. Farrera Brochez. Er hat die Daten vermutlich absichtlich ins Netz gestellt, nachdem er in Singapur eine 28-monatige Haftstrafe abgesessen hatte und anschließend im Mai 2018 abgeschoben worden war. Über Brochez‘ Motive wissen wir nichts. Im Angebot sind: Rache an den Behörden oder gegenüber dem ehemaligen Partner, Bösartigkeit, psychische Probleme und vieles mehr.

Die meisten Beiträge zu dem Fall sind moralisch gefärbt

Brochez ist momentan untergetaucht und hält sich vermutlich in den USA auf. Einige Quellen berichten, dass er erneut verhaftet worden sei, weil er sich unerlaubterweise dem Haus seiner Mutter genähert habe. Ob er noch Zugang zu den Daten hat, diese vielleicht sogar ein zweites Mal ins Netz stellen könnte, ist unbekannt. Es ist gut möglich, dass die Behörden in Singapur nach ihm fahnden, um ein weiteres Verfahren gegen ihn anzustreben.

Die meisten Beiträge zu dem Fall sind moralisch gefärbt: der mutmaßliche Täter wird mit Attributen vorgestellt, die eine Verurteilung rechtfertigen (sollen): Drogenkonsument, schwul, selbst HIV-positiv, Vortäuschung von nicht vorhandenen Qualifikationen und Zeugnissen, die Täuschung staatlicher Behörden zur Erschleichung einer Aufenthaltsberechtigung. Verurteilt wurde er wegen falscher Angaben zu seinem HIV Status, wegen Betrugs, der Fälschung von Zeugnissen und Drogendelikten.

Um es deutlich zu sagen: die Veröffentlichung der Daten ist nicht entschuldbar. Der Verursacher wird sich dem stellen müssen. Das Verhalten ist gemein, niederträchtig und unsolidarisch: Das HIV-Stigma ist in Asien noch weiter verbreitet als bei uns. Dass der HIV-Status gegenüber engen Freund_innen, manchmal sogar gegenüber der Familie (und selbstverständlich gegenüber dem Arbeitgeber) verborgen gehalten wird, ist keine Seltenheit. Die sich aus dem Outing ergebenden Tragödien kann man sich da gut ausmalen. In Onlineportalen wurden bereits Arbeitsgeber_innen zitiert, die betroffenes Personal sofort entlassen würden – ein gutes Beispiel für die breite Palette der gesellschaftlichen Diskriminierung von Menschen mit HIV.

Falsche Annahmen über HIV, Ignoranz, Angst und Fremdenfeindlichkeit

Singapur präsentiert sich westlichen Tourist_innen auf Hochglanz poliert und mordern, ist aber ein extrem konservatives Land. So ist Homosexualität verboten, gleichgeschlechtliche Kontakte können mit mehrjährigen Haftstrafen geahndet werden – auch wenn das Gesetz kaum angewandt wird. Die Einfuhr und der Besitz von Drogen und Rauschmitteln sind strikt verboten und werden mit hohen Freiheitsstrafen oder gar der Todesstrafe geahndet. All dies trägt zur Schaffung eines gesellschaftlichen Klimas bei, das es Menschen mit HIV erschwert, ihre Infektion öffentlich zu machen – schon allein, weil sie Angst haben müssen, dass ihre Infektion mit „verbotenem Verhalten“ verbunden werden kann.

Giftiges Gemisch aus repressivem Klima und Moralisierung

Es sind also die diskriminierenden Gesetze und die gesellschaftliche Stigmatisierung von Menschen mit HIV in Singapur, die der Veröffentlichung der Daten ihre ätzende Schärfe verleiht. Basis dieser Gesetze sind falsche Annahmen über HIV, Ignoranz, Angst und Fremdenfeindlichkeit. Gemischt mit Fantasien zu Homosexualität und Drogengebrauch ergibt sich daraus ein giftiges Gemisch. In diesem Sinne: Schändliches Singapur!

Diese Zusammenhänge werden indes kaum analysiert. Anstatt gesellschaftliche Verhältnisse zu untersuchen, ist es für Presse und Tugendwächter_innen einfacher, „Täter_innen“ dingfest zu machen und Schuld zuzuschreiben.

Was tut man nicht alles, wenn man verliebt ist

Der zweite Schuldige in dem Drama war ebenfalls schnell ausgemacht: Der Arzt Ler Teck Siang hatte 2008 seinem Freund Brochez durch den Tausch seiner Blutprobe eine Aufenthaltsgenehmigung verschafft, nachdem Brochez HIV-positiv getestet worden war. Nachdem eine Untersuchung des Paares eingeleitet wurde, soll er den Austausch der Blutproben zugegeben haben.

Natürlich ist das verboten, aber Hand aufs Herz: Was tut man nicht alles, wenn man verliebt ist und/oder ein Gespür für Ungerechtigkeit hat?!

Ler Teck Siang war vom März 2012 bis Mai 2013 Leiter der Abteilung für Öffentliches Gesundheitswesen des Gesundheitsministeriums in Singapur. Seine Behörde beherbergte das Nationale HIV-Register. In seiner Eigenschaft als Leiter der Abteilung hatte er offensichtlich Zugang zu den Daten der registrierten Menschen mit HIV im 5,6 Millionen Einwohner umfassenden Stadtstaat.

Warum er privaten Zugang zu den Daten hatte und wie sein Freund Brochez Zugang zu den Daten bekam und sich Kopien anfertigen konnte, ist unbekannt.

Teck Siang wurde im September 2018 wegen Beihilfe zum Betrug und wegen falscher Informationen an die Polizei und das Gesundheitsministerium verurteilt und zu 24 Monaten Gefängnis verurteilt. Er sitzt derzeit in Haft, legte aber gegen das Urteil Berufung ein. Die Staatsanwaltschaft fordert ein noch höheres Strafmaß. Angesichts der neuesten Entwicklungen ist gut möglich, dass dem stattgegeben wird. Fest steht, dass sein Leben und seine Karriere zerstört sind.

Die Regierung muss Verantwortung übernehmen

Nach der Veröffentlichung der Daten entschuldigten sich die Gesundheitsbehörden und versicherten, dass „Maßnahmen“ getroffen würden, um Fälle wie diese zukünftig zu verhindern. Wie weit die Regierung damit kommt, wird man sehen: Erst 2018 führte eine Cyber-Attacke zur Veröffentlichung gesundheitsbezogener Daten von 1,5 Millionen Bürger_innen Singapurs.

Die Regierung mag das Blaue vom Himmel herunter versprechen, und manche wird das sicher beeindrucken. Solange die gesetzliche Benachteiligung und Diskriminierung von Menschen mit HIV im Land nicht beendet wird, wird sich auch am gesellschaftlichen Stigma nichts verändern. Es ist die Regierung, die zur Rechenschaft gezogen werden müsste.

Zwangstests und Einreisebeschränkungen müssen abgeschafft werden

Die NGO Pink Dot fordert denn auch Gesetze, die Menschen mit HIV vor Diskriminierung schützen: „Wir fordern unsere Regierung dazu auf, die moralische und die politische Verantwortung dafür zu übernehmen was Menschen mit HIV in unserem Land zu ertragen haben, und konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um gesetzlichen Diskriminierungsschutz für Menschen mit HIV zu gewährleisten“, heißt es in einem Statement der NGO.

Auch UNAIDS verurteilte in einer Verlautbarung die illegale Veröffentlichung der Daten und erinnerte daran, dass es die Aufgabe der Regierungen sei, die Rechte von Menschen mit HIV zu schützen. Eine konkrete Aufforderung an das Land, endlich Zwangstests und diskriminierende Einreisebestimmungen abzuschaffen, finden sich in dem Statement nicht.

UNAIDS war hier schon mal weiter. Das ist schwach und ärgerlich.

 

Quellen:

Artikel von Simone McCarthy in der South China Morning Post: https://www.scmp.com/lifestyle/travel-leisure/article/2185009/visa-restrictions-hiv-positive-immigrants-still-place#comments

Globale Datenbank zu HIV-bezogenen Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen: www.hivtravel.org

http://www.eatg.org/news/visa-restrictions-for-hiv-positive-immigrants-still-in-place-in-dozens-of-countries/

https://gizmodo.com/data-leak-in-singapore-exposes-hiv-status-of-14-000-loc-1832126939

https://www.dw.com/en/data-of-14200-hiv-patients-leaked-in-singapore/a-47267197

https://sg.news.yahoo.com/singapores-hiv-data-leak-5-burning-questions-ask-moh-others-125212478.html

Zu Pink Dot: https://sg.news.yahoo.com/government-enact-anti-discrimination-legislation-support-people-living-hiv-pink-dot-125455796.html

Drogengebrauch und Homosexualität in Singapur: https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/singapur-node/singapursicherheit/225412#content_4

UNAIDS-Statement: https://unaids-ap.org/2019/01/29/unaids-condemns-the-illegal-disclosure-of-confidential-information-of-people-living-with-hiv/

Peter Wiessner

Februar 2019

Kontakt: peter-wiessner@t-online.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

8 + 2 =