Interview

HIV-Prävention in Belarus zwischen Kooperation und Repression

Von Gastbeitrag
© Artem Podrez / pexels.com
Die Deutsche Aidshilfe arbeitet seit 2010 eng mit dem Belarusischen Aids-Netzwerk zusammen, dem viele der im HIV-Bereich tätigen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) des Landes angehören. Über die Auswirkungen der Polizeigewalt gegen die Proteste in Belarus auf die HIV-Prävention haben wir mit Oleg Eryomin gesprochen, dem Geschäftsführer des Netzwerks und Gründer von „Vstrecha“, der einzigen Nichtregierungsorganisation (NGO) der Landes, die sich ausdrücklich in der HIV/Aids-Prävention und Interessenvertretung für Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), engagiert.

Interview: Ludger Schmidt, Fachbereich Internationales der Deutschen Aidshilfe

Oleg, wie sieht derzeit die Lage der HIV-Prävention in Belarus aus? Gibt es negative Auswirkungen für Menschen mit HIV oder besonders von HIV betroffene Gruppen wie zum Beispiel Drogengebrauchende oder Inhaftierte?

Wir haben derzeit keine Hinweise darauf, dass sich die Lage für Menschen mit HIV verschlechtert hat. Sie bekommen ihre Medikamente und die medizinischen Versorgungseinrichtungen arbeiten wie zuvor. Das gilt auch für die Substitutionsbehandlung. Insgesamt kann man also sagen, dass es im HIV-Bereich zu keinen größeren Einschränkungen in der medizinischen Versorgung gekommen ist. Hätte es ernsthafte Unterbrechungen in der Versorgung gegeben, hätte ich das erfahren.

In der medizinischen HIV-Versorgung gab es keine größeren Einschränkungen

Anders sieht die Situation natürlich für diejenigen aus, die bei den Protesten verhaftet worden sind. Ich habe keine Informationen über Festnahmen von Menschen mit HIV, weiß aber von einer Reihe von Verhafteten aus Gruppen, die besonders von HIV betroffen sind. Sie wurden wie alle anderen auch nicht in die Haftanstalten überstellt, sondern mehrere Tage in sogenannten Arresthäusern festgesetzt und berichten von schrecklichen, traumatisierenden Verhältnissen. Ein Freund von mir etwa war mit 35 anderen in einer Zelle untergebracht, die für sechs Personen vorgesehen ist. Diese Zelle galt dabei noch als „Elitezelle“, weil es ein Waschbecken und eine Toilette gab. In vielen anderen völlig überfüllten Zellen gab es selbst das nicht.

Die Menschen konnten nicht sitzen oder schlafen, sondern mussten die ganze Zeit stehen, und es gab kaum Luft zum Atmen. Es kam immer wieder vor, dass Einzelne bewusstlos wurden. Die Entlassenen tun sich nun oft schwer, sich körperlich und psychisch von dem Erlebten zu erholen. Psycholog_innen, Jurist_innen und Ärzt_innen haben sich zu Initiativen zusammengeschlossen, um den Betroffenen kostenlose Hilfen anzubieten. Dazu gehören ebenfalls Freiwillige, die Haftentlassene mit ihren Autos in medizinische Einrichtungen fahren, um sie dort untersuchen und behandeln zu lassen.

Aus der Haft Entlassene berichten von traumatisierenden Verhältnissen

Viele der Entlassenen haben Gehirnerschütterungen von Schlägen auf den Kopf oder andere Verletzungen durch massive Schläge in den Arresthäusern. Bei meinem Freund ist es zudem so gewesen, dass er an drei von vier Tagen in Arrest überhaupt nichts zu essen bekam – wie viele andere auch. Er konnte nur Wasser trinken. Da kann man sich natürlich vorstellen, in welch schlechtem Zustand die Leute jetzt entlassen worden sind.

Gibt es negative Folgen für die HIV-Prävention?

Ich weiß von einigen Aidshilfen, nicht nur in Minsk, sondern auch in anderen Städten des Landes, dass einzelne Mitarbeitende von der Spezialpolizei während der friedlichen Kundgebungen verhaftet worden sind.

Inzwischen sind alle wieder auf freiem Fuß, sind aber oft damit beschäftigt, die Folgen der Verhaftung zu regeln. Ein Bekannter aus einer Aidshilfe etwa wurde von der Polizei aus seinem Auto herausgezogen und auf der Stelle verhaftet, als er zum Zeichen der Solidarität hupte. Dabei wurde das Auto durch Schlagstöcke beschädigt und später abgeschleppt, weshalb ihm eine hohe Rechnung gestellt wurde. Nun hat er sich um Schäden und Kosten der Aktion zu kümmern.

Manche NGOs wollen nicht mehr mit dem Innenministerium zusammenarbeiten

Insgesamt ist es aber in der Arbeit der Aidshilfen zu keinen größeren Ausfällen gekommen. Sie arbeiten, soweit ich informiert bin, weiter. So wurde kürzlich die erste Beratungsstelle für Transgender in Minsk eröffnet. Weder dort gab es Schließungen noch im Falle von NGOs, die mit Drogengebrauchenden arbeiten.

Ausfälle gab es dagegen eher in anderen Bereichen, etwa bei einer NGO, die  mit dem Innenministerium eine Hotline für Opfer häuslicher Gewalt betreibt. Sie hat offiziell erklärt, angesichts der Gewalt, die vom Innenministerium ausgeht, nicht weiter mit dem Ministerium zusammenarbeiten zu wollen.

Siehst du einen Trend, dass die Zivilgesellschaft in der bisherigen Form nicht mehr mit den Innenbehörden kooperieren kann oder will?

Ich denke, es wird zu einer Veränderung des Verhältnisses von Zivilgesellschaft und Innenministerium kommen. Das war auch bisher schon nicht besonders gut, sondern konfliktträchtig. Die Veränderung wird wohl vor allem vom Innenministerium ausgehen, weil zivilgesellschaftliche Organisationen an vorderster Front bei den Protesten und Kundgebungen dabei waren.

So hat vor Kurzem etwa die „Gruppe für nachhaltige Entwicklung“ eine Resolution veröffentlicht, in der sie die Gewalt vonseiten des Staates scharf verurteilt und sagt, dass es derzeit angesichts der eklatanten Verstöße der Staatsmacht gegen ihre Pflichten keine Perspektive für einen Dialog mit dem Staat gibt. Praktisch alle zivilgesellschaftlichen Organisationen im sozialen Bereich gehören dieser Gruppe an und positionieren sich so zu den Ereignissen.

Die Deutsche Aidshilfe war ja gemeinsam mit belarusischen NGOs an Projekten beteiligt, die auch das Innenministerium als Projektpartner einbezogen. Glaubst du in der Rückschau, dass das ein Fehler gewesen sein könnte?

Nein, das kann ich so nicht sagen. Dazu muss man wissen, dass das Innenministerium kein einheitliches Gebilde ist. In ihm arbeiten zum größeren Teil Menschen, die angemessene Positionen und Ansichten vertreten und mit denen man sinnvoll Projekte umsetzen kann. Als Staatsbedienstete befinden sie sich allerdings in großer Abhängigkeit von ihren Vorgesetzten und der Staatsführung. Aufgrund dieser Abhängigkeit und der Angst, Arbeit und Einkommen zu verlieren, äußern sie zwar privat ihre Meinung zu den Vorfällen, hüten sich aber, das öffentlich zu tun.

Viele haben Angst um Arbeit und Einkommen

Ich kann nicht sagen, wie viel Prozent der Bevölkerung sich durch die Proteste repräsentiert sehen. Von den genannten Mitarbeitenden des Innenministeriums weiß ich aber, dass sie gegen ein gewaltsames Vorgehen sind, jedoch Angst haben.

Diejenigen, die sich getraut haben, öffentlich Position gegen die gewaltsame Niederschlagung der Proteste zu beziehen, haben bereits ihre Arbeitsplätze verloren.

Dazu kommt vielleicht auch, dass die Menschen in den Strukturen der Innenbehörden sich nicht vorstellen können, dass die jetzige Bewegung tatsächlich das Potenzial für echte Veränderungen in der Gesellschaft hat. Dafür scheinen ihnen Lukaschenko und die Machthabenden zu sehr an den Hebeln zu sitzen und über die Machtmittel zu verfügen, um die alte Ordnung sicherzustellen.

Außerdem scheint die Protestbewegung nicht mehr die Massen wie zu Beginn zu mobilisieren, viele Menschen sind wieder mit den alltäglichen Anforderungen beschäftigt. Und die allgemeine wirtschaftliche Situation ist nicht derart schlecht, dass sie die Menschen quasi auf die Straßen zwingt.

Den möglichen Vorwurf, freiheitliche Werte würden durch die Zusammenarbeit mit dem belarusischen Innenministerium verraten, würdest du zurückweisen?

Die Abteilungen des Innenministeriums zum Beispiel, mit denen wir zur Verbesserung der Situation von Gefangenen zusammengearbeitet haben, sind nicht diejenigen, die nun für die Gewaltausübung gegen friedlich Protestierende verantwortlich sind. Wie gesagt, sie haben sich nicht offen gegen die jetzige staatliche Gewalt positioniert, sind aber nicht daran beteiligt.

„Es wäre nicht klug, wenn wir NGOs uns zum jetzigen Zeitpunkt einmischen“

Den gemeinsamen Versuchen, die Situation von Inhaftierten zu verbessern, lag ein ernsthaftes Bemühen auch der beteiligten Strafvollzugsbehörden zugrunde.

Fürchtest du, dass die Dinge, an denen wir zusammen in unseren Projekten gearbeitet haben, wie etwa der „Staatliche Sozialauftrag“, also die Delegation sozialer Aufgaben an zivilgesellschaftliche Organisationen, wieder zurückgedreht werden?

Ich glaube nicht, dass der „Staatliche Sozialauftrag“ erheblich leiden wird. Unabhängig von den aktuellen Ereignissen ist alles in der Schwebe. Ob und was in den Regionen geplant ist, wissen wir nicht. Seit gut zwei Wochen gibt es eine von beiden Seiten ausgehende Funkstille zwischen staatlichen Stellen und unseren Organisationen.

Unklarheiten und Interessenkonflikte bestehen allein schon zwischen unterschiedlichen staatlichen Akteuren. Es wäre nicht klug, wenn wir NGOs uns zum jetzigen Zeitpunkt einmischen.

Wie kann der Zusammenhalt der HIV-Community in diesen unsicheren Zeiten sichergestellt werden?

Wir sind über die „Nationale Plattform der Community“ (der besonders von HIV betroffenen Gruppen) im regelmäßigen Austausch und informieren uns gegenseitig. Dazu haben wir einen Telegram-Kanal eingerichtet, über den wir schnell und verlässlich kommunizieren können. Insofern glaube ich, dass die in den Communitys besonders Engagierten über aktuelle Entwicklungen gut informiert sind.

Wie ist die derzeitige Stimmung in zivilgesellschaftlichen HIV-Organisationen im HIV Bereich bezogen auf zukünftige Entwicklungen?

So wie es im Moment aussieht, wird es zu Repressionen des Staates kommen, und diese Repressionen werden sich in erster Linie gegen zivilgesellschaftliche Organisationen und deren Vertreter_innen richten. Ausnahmen werden wohl die traditionell staatstragenden Organisationen sein, obwohl sich auch hier Vertreter_innen aufseiten der Protestierenden engagiert haben.

Der Staat will NGOs unter besondere Kontrolle stellen und die Zivilgesellschaft mundtot machen

Von offizieller Seite wurde bereits angekündigt, dass die NGOs, unter deren Mitarbeitende Verhaftete waren, „unter besondere Kontrolle gestellt werden“, wie es bei uns heißt. Dazu gehört eine weitere Behinderung für internationale Unterstützungsgelder, weil – so lächerlich es auch klingen mag – es sich laut staatlichen Stellungnahmen um „immense Geldströme“ handle und aufgeklärt werden müsse, woher sie stammen. Offenbar versucht die Regierung, die Zivilgesellschaft in politischer Hinsicht mundtot zu machen.

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