Nachruf

Die Kraft der Wut: Zum Tod des Aids-Aktivisten und Autors Larry Kramer

Von Axel Schock
Larry Kramer
(Foto: David Shankbone)
Am 27. Mai 2020 ist Larry Kramer im Alter von 84 Jahren verstorben. Wir erinnern an den streitbaren und leidenschaftlichen Aids-Aktivisten, der immer auch andere inspiriert (und oft auch genervt) hat.

Wenn über Larry Kramer gesprochen oder geschrieben wird, fallen ziemlich schnell Begriffe wie Wut, Widerstand und Kampf.

Er scheint in der Tat ein widerborstiger Mensch im besten Sinne gewesen zu sein. Einer, der in Kauf nahm, für sein leidenschaftliches Engagement Prügel zu beziehen – sei es im Kampf für die Gleichberechtigung der Homosexuellen oder gegen die Gleichgültigkeit und das Nichtstun von Politik, Pharmaindustrie und auch der eigenen Community zu Beginn der Aidskrise.

Larry Kramer war widerborstig im besten Sinne

Der Absolvent der Elite-Universität Yale hätte ein ruhiges Leben als gefeierter Autor führen können. Mit seinem oscarnominierten Drehbuch für Ken Russells „Liebende Frauen“ (nach dem Roman Women in Love von D. H. Lawrence) hatte er 1969 in Hollywood Fuß gefasst.

Larry Kramer wollte aufrütteln und zum Handeln bewegen

Doch spätestens mit seinem ersten und einzigen Roman „Faggots“ (1978; eine deutsche Übersetzung mit dem Titel „Schwuchteln“ erschien erst 2011), einer zynischen Demontage der schwulen Bohème im New York der späten 1970er-Jahre, definierte Kramer seine zukünftige Rolle: Seine Theaterstücke, Essays und Sachbücher verstand er immer auch als aufklärerisch-emanzipatorische Schriften, die die Menschen im Idealfalle aufregen, aufrütteln und zum Handeln bewegen sollten.

1983 beklagte Kramer das Nichtstun gegen die Aids-Krise

Ein Beispiel dafür ist sein inzwischen legendärer Aufsatz „1,112 and counting(auf Deutsch etwa „1.112 und weiter ansteigend“), der 1983 in fast 20 US-Schwulenmagazinen gedruckt wurde und in dem er das fatale Desinteresse der Community angesichts der neuen, damals noch „Gay-related Immune Deficiency“ (GRID, zu Deutsch etwa „schwulenbezogene Immunschwäche) genannten Aids-Erkrankung beklagte.

Aktivismus für Menschen mit HIV

Kramer hat allerdings nicht nur zum Handeln aufgefordert, sondern auch selbst gehandelt. So initiierte er mit einer kleinen Gruppe weitsichtiger und tatkräftiger Menschen 1982 in New York mit der Gay Men’s Health Crisis (GHMC) die weltweite erste HIV-Selbsthilfe- und Beratungsorganisation.

In Artikeln warnte und mahnte er die schwule Community, in Fernsehinterviews geißelte er in drastischen Worten die Tatenlosigkeit der Stadtregierung, die von der Epidemie nichts wissen wollte – trotz der stetig steigenden Zahl an Toten.

Auch bei ACT UP spielte Kramer eine wichtige Rolle

Beinahe zwangsläufig wurde Kramer so auch eine der treibenden (und oft umstrittenen) Kräfte bei ACT UP New York. Seine Reden und Aufsätze führen zu seinem 1989 erstmals veröffentlichten Band Reports from the Holocaust: The Making of an AIDS Activist. Der Buchtitel allein war Provokation und Statement zugleich.

„In gewisser Weise ist der Holocaust, wie für viele jüdische Männer aus Larrys Generation, ein entscheidender historischer Moment“, verteidigte Dramatiker Tony Kushner („Angels in America“) Kramers Gleichsetzung des Genozids an Juden mit dem massenhaften Sterben in der Aidskrise. „Was in den frühen 1980er-Jahren durch Aids ausgelöst wurde, fühlte sich für Larry wie ein Holocaust an, und ein solcher war es tatsächlich auch.“

Anecken, Anerkennung und Abrechnung mit der amerikanischen Geschichte

Anerkennung erhielt Kramer auch von Menschen, die er selbst sehr hat angegangen hat.

Zum Beispiel von Dr. Anthony Fauci, Direktor des US-amerikanischen National Institute of Allergy and Infectious Diseases, der von Kramer für die späte Reaktion der Regierung auf die HIV-Epidemie verantwortlich gemacht und als „inkompetenter Idiot“ und sogar als „Mörder“ bezeichnet wurde (wofür Kramer, der Fauci später 33 Jahre freundschaftlich verbunden war, sich privat entschuldigte – es sei einfach nötig gewesen, so zu handeln).

Der Infektiologe, der heute als Regierungsberater in Sachen COVID-19 erneut im Rampenlicht steht, sieht Kramers besonderen Verdienst darin, dass durch die Aidsaktivist_innen „die medizinische Behandlung in die Hände der Patient_innen gelegt“ wurde.

Es war auch Kramers Verdienst, dass die HIV-Behandlung in die Hände der Patient_innen gelegt wurde

Auch literarisch setzte sich Kramer mehrfach mit den Auswirkungen der HIV/Aids-Epidemie auf die Betroffenen wie die Community auseinander und verarbeitete dabei seine eigenen Erfahrungen als HIV-Positiver wie als Aktivist. Sein Stück „The Normal Heart“ (1985) war eines der ersten Theaterstücke zu Aids überhaupt, zu dessen Verfilmung fast 20 Jahre später er auch das Drehbuch lieferte.

Die letzten Jahre hat Kramer die amerikanische Geschichte einer sehr eigenen, eigenwilligen und – wenig verwunderlich – sehr provokanten Neubetrachtung unterzogen. In seinem über 1600 Seiten starken zweibändigen Werk „The American People: A History“ outete er nicht nur amerikanische Leitfiguren wie Abraham Lincoln, George Washington, Benjamin Franklin, Alexander Hamilton und Richard Nixon als homosexuell, sondern beschrieb die USA als eine Nation, die verseucht sei von Gier, Hass und Bigotterie.

Larry Kramer: Aktivismus bis zuletzt

Angesichts der Corona-Pandemie sah sich Kramer zurückversetzt in die Zeiten von Aids in den 1980er-Jahren. „Die Regierung hat bei Aids schrecklich agiert und agiert bei dieser Sache schrecklich. Man fragt sich, was aus uns werden wird“, äußerte er sich unlängst gegenüber einem Reporter der „New York Times“.

Diesem Versagen und der Ungerechtigkeit des Todes müssten die Menschen erneut mit Wut begegnen. Und es müsse jemanden geben, der diese Wut in produktive, kämpferische Bahnen lenkt. „Ich wünschte, ich könnte es sein“, sagte Kramer mit Bedauern.

Kramer hatte ein Theaterstück über COVID-19 begonnen

Larry Kramer verfolgte die Entwicklungen rund um COVID-19 in New York City zusammen mit seinem Ehemann, dem Architekten David Webster, von ihrer Wohnung in Manhattan aus. Die wochenlange Selbstisolation setzte ihm zu, ließ ihn aber nicht tatenlos werden: Kramer hatte begonnen, ein Theaterstück über das Zeitalter von COVID-19 zu schreiben. Im Zentrum steht eine Gruppe schwuler Männer, die drei Plagen durchleben müssen: erst die Aids-Epidemie, dann den langsamen altersbedingten Zerfall ihres Körpers und schließlich die Corona-Krise.

Larry Kramer war sich bewusst, dass er dieses Werk vielleicht nicht mehr zu Ende bringen könnte. Das Drama mit dem Titel „An Army of Lovers Must Not Die“ wird nun zu seinem Vermächtnis. Am 27. Mai ist Larry Kramer 84-jährig an einer Lungenentzündung gestorben – jedoch nicht an COVID-19, wie Kramers Freund und Verleger Willi Schwalbe gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters betonte.

Zum Weiterlesen:

Eine Chronik der ersten Jahre. Zur Verfilmung von „The Normal Heart“ (magazin.hiv, 24.11.2014)

Kalenderblatt 14. März 1983: Larry Kramers Wut-Rede „1,112 and counting“ (magazin.hiv, 14.3.2013)

Die singende Nervensäge. Larry Kramers Roman „Schwuchteln“ (magazin.hiv, 5.12.2011)

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Die Geschichte einer Krankheit und eines Versagens

„Die Männer konnten froh sein, dass wir dabei waren!“

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