Aids-Geschichte

ACT UP in Deutschland: Vier Jahre des Protests

Von Axel Schock
ACT UP in Deutschland: Foto-Collage bestehend aus einem Porträt von Uli Würdemann und einem Archivbild eines ACT UP-Standes auf dem Deutschen AIDS-Kongress Hamburg 1990
HIV/Aids-Aktivismus: Ulrich Würdemann zeichnet in seinem Buch „Schweigen = Tod, Aktion = Leben“ die Geschichte von ACT UP in Deutschland nach

Als sich Ende März 2017 die Gründung von ACT UP zum 30. Male jährte, stand für die New Yorker Aktivist_innengruppe fest: „Wir feiern nicht, wir protestieren“. Und so zogen am Jubiläumstag zahlreiche Menschen durch Manhattan, um gegen überzogene Medikamentenpreise und für eine bessere Gesundheitsversorgung zu demonstrieren (ein Video findet sich hier).

So lebendig sich die „AIDS Coalition to Unleash Power“ –  kurz: ACT UP – an diesem Märztag auch erwies, so hat die Gruppe doch längst nicht mehr die Bedeutung und Schlagkraft wie in der Hochphase der Aidskrise Anfang der 90er-Jahre.

In vielen Städten und Ländern ist ACT UP sogar längst Geschichte, wenn auch keineswegs vergessen. Ganz im Gegenteil: Zunehmend entdecken vor allem nachgeborene Generationen die Geschichte dieses von zivilem Ungehorsam, Lobbyarbeit und medienwirksamen Aktionen geprägten Aids-Aktivismus für sich, was sich etwa an der großen Zahl an wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Komplex zeigt.

Aktivismus-Geschichte bewahren

Doch anders als in den USA, wo die ACT-UP-Gruppen von Anfang an Bild- und Filmaufnahmen als Teil ihrer Kampagnen sahen und in den letzten Jahren eine ganze Reihe Dokumentationen zur Geschichte  von ACT UP entstanden sind (u. a. „How to Survive a Plague“), ist die Materiallage zu ACT UP in Deutschland eher spärlich.

Diese Erfahrung hatte auch Jochen Hick machen müssen, als er für seinen Dokumentarfilm „Mein wunderbares West-Berlin“ nach Aufnahmen der Berliner ACT-UP-Aktionen vom Anfang der 90er-Jahre recherchierte.

Kaum filmische Dokumente zu ACT UP in Deutschland

Seine Kurzdoku „Willkommen im Dom“ über den spektakulären Protest anlässlich der Bischofskonferenz 1991 in Fulda dürfte zu den wenigen Filmaufnahmen deutscher ACT- UP-Aktionen überhaupt zählen.

Wenn auch keine weiteren filmischen Dokumente, so sind mittlerweile zumindest Fotos und andere Materialien von deutschen ACT-UP-Gruppen in kleinerem Umfang im Stadtarchiv Frankfurt bzw. im Schwulen Museum* Berlin für die Nachwelt gesichert und für die Forschung zugänglich.

Mit Ulrich Würdemanns Buch „Schweigen = Tod, Aktion = Leben“ liegt nun zudem die erste umfassende Chronik von ACT UP in Deutschland vor. Der Hamburger HIV-Aktivist und Blogger war seinerzeit selbst bei der Kölner ACT-UP-Gruppe engagiert. Gerade einmal vier Jahre, von 1989 bis 1993, reicht die kurze Geschichte von ACT UP in Deutschland; zeitweilig bestanden Gruppen in rund einem Dutzend Städten – von Berlin über Frankfurt/Main bis Dortmund und Stuttgart.

Erste umfassende Chronik von ACT UP in Deutschland

Ulrich Würdemann beginnt mit einem Überblick zu ACT UP in den USA und beschreibt insbesondere die New Yorker Keimzelle und deren Gründungsgeschichte.

Die Wut, Verzweiflung und Angst angesichts der Untätigkeit der Politik und der Überforderung des Gesundheitssystems sowie die rasend wachsende Zahl an Aidskranken und Toten brauchte ein Ventil. Zu einer vom Aktivisten und Schriftsteller Larry Kramer kurzfristig einberufenen Versammlung im Auditorium des New Yorker Gay Community Centers, bei der ACT UP spontan gegründet wurde, waren gleich 300 Menschen gekommen.

Aids nicht (nur) als medizinisches, sondern auch als politisches Problem

Bereits wenige Tage später fand die erste Aktion statt: in der Wallstreet protestierten die überwiegend schwulen Männer – unterstützt auch durch lesbische Frauen, Feministinnen und Menschen anderer sozialer Gruppen – für einen besseren Zugang zu den noch in der Forschung befindlichen Aids-Medikamenten.

Der Berliner Journalist Andreas Salmen erlebte bei einem New-York-Aufenthalt die Energie und Wirkungskraft von ACT UP mit und brachte die Idee eines communityübergreifenden Aktivismus nach Deutschland.

„Wir wollten selbst aktiv werden für unsere Interessen, wollten dafür streiten, Aids nicht (nur) als medizinisches, sondern auch als politisches Problem zu begreifen“, formuliert Ulrich Würdemann die Triebfeder seiner Mitstreiter_innen.

Sichtbar werden, die Stimme erheben

„Lähmung überwinden, selbst im eigenen Namen auftreten, sichtbar werden, die Stimme erheben – dies war nicht nur politischer Anspruch, dies sollte auch für jede_n konkret in und durch Aktionen erlebbar werden.“

In kurzen, überschaubaren Kapiteln erinnert sich Würdemann nicht nur an die beiden zentralen deutschen Aktivisten Andreas Salmen und Jean-Claude Letist, sondern skizziert beispielsweise auch die im ACT-UP-Zusammenhang agierenden Künstlergruppen General Idea und Gran Fury.

Die von ihnen entworfenen Logos und griffigen Slogans („Schweigen = Tod“) waren eingängig, von hohem Wiedererkennungswert und wurden auch von den deutschen Aktivisten_innen übernommen und adaptiert. Auch an die eine oder andere US-Protestaktion schloss man sich hierzulande an. Doch nicht immer ließen sich die Wut und Betroffenheit der US-Mitstreiter_innen in gleichem Maße auf Deutschland übertragen, wie etwa beim Marlboro-Boykott (dessen Herstellerkonzern Phillip Morris den homophoben US-Senator Jesse Helms unterstützte).

Unterstützung, aber auch Ablehnung von Aidshilfen

Erfolgreicher, weil von einer breiteren Basis getragen, war ACT UP bei Themen, die enger mit dem Leben von Schwulen und von Menschen mit HIV in Deutschland zu tun hatten: dem Kampf um mehr Gelder für HIV-Präventionsprojekte und für die Einbindung der HIV-Community bei Aids-Kongressen und Medikamentenstudien.

Vieles vermag Würdemann in der Kürze nur anreißen, wie etwa das bisweilen schwierige Verhältnis der schwulen Community mit den schwulen HIV-Aktivisten, das mitunter in Unverständnis und Moraldebatten mündete; ebenso die – je nach Stadt – durchaus ambivalente Wechselbeziehung zu den Aidshilfen. „Erfuhren einige ACT-UP-Gruppen von ‚ihrer‘ Aidshilfe Unterstützung (…), sahen sich andere eher mit Ablehnung konfrontiert“, schreibt Würdemann.

Homo- und Aids-Aktivismus gehen Hand in Hand

Bei diesem wie so manch anderem spannenden Unterpunkt – etwa die Kritik an der Aktionsform des „Die-In“ (Blockade-Demos, bei denen sich die Teilnehmenden wie Tote auf die Erde legen) –  wünscht man sich, dass sich ihnen vielleicht demnächst ein wissenschaftliche Arbeit ausführlicher widmet.

Enge Verbindungen zur Schwulenbewegung

Im Gegensatz zu ACT UP in den USA waren die deutschen Gruppen personell wie auch thematisch viel enger mit der Schwulenbewegung verbunden und machten auch auf Missstände aufmerksam, die nicht im direkten Zusammenhang mit HIV und Aids standen. ACT UP Köln etwa protestierte gegen Diskriminierung von Schwulen im städtischen Agrippa-Bad und gegen eine Hausanweisung des WDR, in der TV-Serie „Lindenstraße“ keine weiteren Schwulenküsse mehr zu zeigen (an alle Twenty-Somethings: Ein Männerkuss im deutschen Fernsehen zur besten Sendezeit taugte 1990 tatsächlich noch zu einem Skandal).

Doch anders als etwa ACT-UP-Gruppen in New York City oder in Paris (die bis heute aktiv sind) haben sich die deutschen Ableger nie zu einer breiten Bewegung entwickeln können. 1992/1993 hatten sich die meisten Gruppen hierzulande bereits wieder aufgelöst.

Nüchterne Bilanz von ACT UP in Deutschland

Ist ACT UP in Deutschland also gescheitert? Ganz so enttäuscht und desillusioniert fällt Würdemanns Bilanz dann doch nicht aus. ACT UP Deutschland habe viele Themen auf die Agenda gesetzt, etwa im Bereich der Gesundheitspolitik – sei es bei der Frage nach einer zügigeren Zulassung von Arzneimitteln oder der Beteiligung von Patient_innen an der Ausgestaltung von Medikamentenstudien.

„Du bekommst gar nichts, wenn du nicht dafür kämpfst“

„ACT UP war vielleicht eher eine Phase des Aids-Aktivismus, an der sich vieles festmachte und die anschließend auf vielen anderen Ebenen weitergeführt wurde“ – innerhalb der Aidshilfen, des Therapie- und LGBT-Aktivismus.

Das Schlusswort überlässt Würdemann dem ACT-UP-Begründer Larry Kramer: „Du bekommst gar nichts, wenn du nicht dafür kämpfst, vereint und in wahrnehmbarer Anzahl. Wenn ACT UP uns eines gelehrt hat, dann dies.“

Ulrich Würdemann: „Schweigen = Tod, Aktion = Leben. ACT UP in Deutschland 1989 bis 1993“. Epubli, 172 Seiten, 14 Euro (E-Book bis Ende 2017 0,99 Euro, danach 1,99 Euro).

 

Lesetipp:

 

auf aidshilfe.de ist kostenfrei das Begleitbuch zu der 1992 von Patrick Hamm konzipierten Wanderausstellung „Auslöser“  mit Fotografien über den Kampf von Schwulen gegen Aids in den Jahren 1983-1992 als PDF abrufbar.

 

 

 

Weiterführende Beiträge auf magazin.hiv:

„Die Männer konnten froh sein, dass wir dabei waren!“ Interview mit der New Yorker ACT-UP-Mitgründerin Anne-christine d’Adesky

„So jung und schon so böse!“ – Erinnerung an den ACT-UP-Aktivisten Andreas Salmen

Die Kraft der Wut – Die erste ACT-UP-Aktion in New York 1987 in der Wallstreet

„Randalierende Aids-Positive“ – Die-ACT UP-Aktion 1991 im Dom zu Fulda

Der Aktivist, der nichts zu verlieren hatte – Porträt des New Yorker ACT-UP-Urgesteins Peter Staley

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