Leben mit HIV

Ich wusste, ich war HIV-negativ – bis ich es plötzlich nicht mehr war

Von Philipp Spiegel
Frauen mit HIV
Dieses Symbolfoto sagt nichts über den HIV-Status der abgebildeten Person aus.
Unser Autor Philipp Spiegel schreibt über sein Leben mit HIV. In diesem Beitrag erzählt er von Frauen mit HIV, die isoliert leben und ihm von ihren Geschichten erzählt haben. Oft sind es Frauen wie Petra, die aufgrund einer viel zu späten HIV-Diagnose beinahe an Aids gestorben wäre – und ihre HIV-Infektion aus Angst vor Ablehnung bis heute verbirgt.

Vorbemerkung des Autors: In meinem Beitrag habe ich verarbeitet, was mir Menschen mit HIV erzählten und wie ich das erlebt und gedeutet habe. Ich will damit niemanden bloßstellen, sondern denen, die so häufig stumm bleiben, meine Stimme leihen. Sollte ich sie, ihre Gefühle und Motive falsch verstanden haben, bitte ich um Verzeihung.

Etwa alle zwei Wochen ist eine neue Nachricht in meinem E-Mail-Postfach. Die Absender kenne ich nicht, häufig handelt es sich um eine Kombination aus Buchstaben und Zahlen. Zunächst dachte ich, das seien Fake-Mails von Fake-Konten. Aber die Menschen hinter diesen Mails sind echt.

„Hallo Philipp! Ich habe einige deiner Beiträge gelesen. Ich bin auch HIV-positiv und finde deine Arbeit sehr wichtig.“

So oder so ähnlich fangen sie an. Immer. Freundlich, sanft – und zögernd, nervös, vorsichtig. Und ich bin dankbar, dass ich sie bekomme.

Sätze, die dutzende Male gelesen, verworfen, neu geschrieben wurden

Es ist oft eine ganz bestimmte Kombination von Wörtern, die etwas von der Energie, dem Mut und der Überwindung spüren lassen, die das Schreiben dieser Mails gekostet haben muss.

Wörter, die mit Bedacht gewählt, Sätze, die dutzende Male gelesen, verworfen, neu geschrieben wurden. Und zum Schluss schwebte die Hand minutenlang über der Tastatur, bevor der „Senden“-Knopf gedrückt wurde – auch davon erzählen diese Wörter und von der Erleichterung und der Furcht, die sie spüren würden, sobald die Mail in die Welt hinausgegangen wäre.

Ich versuche normalerweise, den Verfasser_innen so bald wie möglich zu antworten – aus Respekt vor ihrem Mut und um sie nicht lange warten zu lassen. Und indem ich ihnen antworte und für ihre Mails danke, ermögliche ich ihnen, mir im Anschluss ihre Geschichten zu erzählen.

Jede dieser Geschichten ist einzigartig, schön und herzergreifend. Und doch sind einige Elemente immer gleich.

Die meisten Schreiber_innen sind Frauen mit HIV, die nicht offen positiv leben. Sie tragen die Bürde ihrer Infektion und ihrer Geschichten allein – Geschichten, die häufig von Unrecht, Unglück und Schmerz geprägt sind.

Viele leben auf dem Land, wo man nur schwer Geheimnisse bewahren kann und die Angst vor unbekannten Viren besonders groß ist. Ein Dorf in den Alpen hier, ein Bauernhof dort.

Angst und Paranoia sind ständige Begleiter

Sie sind höchst erfinderisch, um den „viralen Teil“ ihrer Existenz vor der Umwelt zu verbergen. Zum Beispiel, indem sie ein besonderes E-Mail-Konto anlegen, um mir zu schreiben. Oder indem sie ihre Medikamentenschachteln zu Hause sammeln – damit niemand sie im Altpapier oder Müll entdeckt und Fragen stellt.

Angst und Paranoia sind ständige Begleiter. Möglichkeiten, ihre Last zu teilen, gibt es für sie so gut wie nicht. Die nächste Selbsthilfegruppe ist meist weit entfernt oder wäre aus verschiedenen Gründen sowieso keine Hilfe – eher im Gegenteil: Die meisten Frauen, die mich angeschrieben haben, können oder wollen sich mit den Menschen in diesen Gruppen nicht identifizieren.

Einige Gruppen empfinden sie als zu stark von schwulen Männern dominiert. Und häufig ist allein die Angst, beim Aufsuchen eines solchen Angebots gesehen zu werden, so groß, dass das ganze Unternehmen eher kontraproduktiv wäre und nur noch mehr Stress und Angst verursachte.

Aber dennoch oder gerade deswegen verspüren sie den Drang, sich mitzuteilen und aus dem Gefängnis ihres Doppellebens auszubrechen.

Doch mit wem können sie reden? Aus der Gesellschaft haben sie sich zurückgezogen, die Welt hat sie vergessen, und sie haben Angst vor Zurückweisung und Stigmatisierung.

Ein weiteres wiederkehrendes Element ist die Geschichte ihrer Diagnose. Meist hatten sie einfach nur Glück, dass die Infektion überhaupt festgestellt wurde – häufig viel zu spät. Schließlich gehören sie ja keiner „Risikogruppe“ an.

Eine dieser Frauen ist Petra (den Namen habe ich geändert). Sie lebt in einer größeren Stadt in Deutschland in einer Blase aus Vorsicht und Paranoia.

Nur die engsten Familienangehörigen wissen um ihren Status, Freund_innen kann sie sich nicht anvertrauen. Die Angst vor Ablehnung ist einfach zu groß. „Mittlerweile haben fast alle Kinder und reagieren beim Thema Krankheiten beinahe schon paranoid“, erzählt sie.

Die Angst vor Ablehnung ist groß

Petra hat mich vor ein paar Monaten über einen extra angelegten E-Mail-Account angeschrieben. Ihre Diagnose lag damals etwa zwei Jahre zurück. Sie hatte den gleichen Zustand der Frustration erreicht wie auch ich nach zwei Jahren – eine seltsame Mischung aus Freude, den ersten Schock überwunden zu haben, und Sorge, was nun kommen mochte.

„Werde ich mich wegen dieses Virus in meinem Leben immer so scheiße fühlen wie jetzt“, hatte ich mich gefragt, „und auf ewig in dieser schrecklichen Kombination aus Frust, Ärger und Furcht vor Entdeckung stecken bleiben?“

Nach einem ebenso intensiven wie intimen E-Mail-Austausch kam sie mich spontan in Barcelona besuchen, um ihrer Routine zu entkommen und endlich mit einer heterosexuellen HIV-positiven Person zu sprechen, auch wenn ihr eine Frau lieber gewesen wäre, wie sie betonte.

Sie wollte ihre Situation verändern, brauchte einen neuen Zugang zum Leben, weil die Furcht vor Entdeckung sie langsam von innen her auffraß. Ich kannte dieses Gefühl, mit einem fremden Virus in seinem eigenen Körper gefangen zu sein, das einen nicht von der Stelle kommen ließ.

Nachdem sie mir ihre Geschichte erzählt hatte, konnte ich sie noch besser verstehen.

Kein Arzt hielt es für nötig, Petra einen HIV-Test anzubieten

Sie hatte sich mit Anfang zwanzig bei ihrem Verlobten angesteckt und zehn Jahre ohne Diagnose mit HIV gelebt. Jahr für Jahr, Symptom für Symptom war ihr Körper immer schwächer geworden, bis sie schließlich in Lebensgefahr schwebte.

Doch kein Arzt und keine Ärztin hielt es für nötig, ihr einen HIV-Test anzubieten. Im Gegenteil: Ein Arzt schloss das sogar aus, aus welchen Gründen auch immer.

Wahrscheinlich, weil sie keiner „Risikogruppe“ angehört.

48 CD4-Zellen.

Die meisten können damit wahrscheinlich nichts anfangen. Mir dagegen läuft es selbst beim Schreiben dieser Zeilen noch kalt den Rücken hinunter. Allein der Gedanke versetzt mich in Panik.

Sie hatte, was man als „Vollbild Aids“ bezeichnet, und wäre wahrscheinlich nur wenige Wochen später gestorben, hätte nicht endlich ein Arzt sie auf HIV getestet.

(Anmerkung des Autors: Die CD4-Zellzahl ist ein Maß für den Zustand des Immunsystems. CD4-Zellen, auch CD4+-T-Zellen oder Helferzellen genannt, sind weiße Blutzellen, mit denen der Körper Infektionen bekämpft. Je mehr man davon hat, desto besser. Nimmt man keine HIV-Medikamente, zerstört HIV einen Teil der CD4-Zellen. Mit dem Fortschreiten der Infektion nimmt ihre Zahl immer weiter ab. Bei weniger als 200 Helferzellen pro Mikroliter Blut spricht man von (klinischem) Aids. Der Normbereich für CD4-Zellen wird meist mit 500 bis 1.500 angegeben. Wenn die Virenvermehrung durch eine wirksame HIV-Therapie unterdrückt wird, steigt die Helferzellzahl normalerweise wieder an.)

In den Akten hätte man wahrscheinlich vermerkt, sie sei an einer Lungenentzündung gestorben.

Von HIV wäre keine Rede gewesen.

Mut und Stärke im Umgang mit HIV

Ich denke, dass es ihr nicht leichtgefallen sein kann, mich zu besuchen und sich so ihrer Angst auszusetzen, aber zugleich auch nach einem Neuanfang zu suchen. Für mich hat sie unglaublichen Mut und unglaubliche Stärke gezeigt, wie sie mit ihrer Geschichte und der Dunkelheit umging, die HIV in ihr Leben gebracht hatte – und mit dem Versagen des kompletten Systems, nicht zuletzt der medizinischen Profis.

Ich hoffe, ich konnte ihr tatsächlich so etwas wie eine neue Perspektive eröffnen. Sie trösten. Ihr zeigen, dass man mit HIV leben kann. Dass es sogar leicht sein kann mit HIV. Dass diese Dunkelheit sich überwinden lässt.

Doch auch an mir ging dies alles nicht spurlos vorüber. Ihre Geschichte erinnerte mich an meine eigene Dunkelheit. Meine eigene Geschichte. Und sie machte mir bewusst, welches Glück ich mit meiner frühen Diagnose gehabt hatte.

In Petras Geschichte spiegelte sich meine eigene wider

In ihrer Geschichte, ihren Gefühlen, ihren Ängsten und Sorgen spiegelte sich wider, was ich selbst durchgemacht hatte. Und so kam wieder hervor, was ich sorgsam weggeschlossen hatte und trotzdem immer da sein wird. Ich konnte mich fast zu hundert Produzent mit ihrem Frust, ihrer Wut und ihrer Verzweiflung identifizieren – und ihrem Bedürfnis, sich mitzuteilen und all dem zu entfliehen. Der Last des Virus und der Stigmatisierung.

Aber muss das alles so schwer sein?

Ist nicht jeder, der Sex hat, potenziell positiv?

An den Tagen nach unserem Treffen lag ich nachts wach und dachte nach. Ihre Geschichte hätte meine sein können. Die Belastungen für ihren Körper, seine Kämpfe, die Schäden, die er erlitt – all das hätte auch mir passieren können.

Aids.

Die dramatisch niedrige Helferzellzahl.

Auch mein Arzt hatte nie an HIV gedacht, obwohl ich alle Symptome zeigte.

Das schmerzhaft geschwollene Zahnfleisch. Den hartnäckigen trockenen Husten. Den Spannungsschmerz in meinem Solarplexus. Zeichen, die in ihrer Kombination mehr als offensichtlich waren.

Ich wusste, ich war HIV-negativ, als ich vor fünf Jahren den indischen Ashram betrat.

Ich wusste, ich war HIV-negativ, als ich den obligatorischen HIV-Test machte.

Ich wusste, ich war HIV-negativ – bis ich es plötzlich nicht mehr war.

 

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