Selbst-Interview

Das Interview, welches ich gern einmal zu Rassismus führen würde

Von Gastbeitrag
Tupoka Ogette
Tupoka Ogette ist Expertin rund um das Thema Rassismus. Sie gibt viele Interviews für Radio, TV und Printmedien. Und jedes Mal bekommt sie die gleichen, „weißen“ Fragen gestellt. Deshalb hat sie jetzt ein Interview mit sich selbst geführt – über die wirklich wichtigen Fragen.*

Ich arbeite als Trainerin, Beraterin und Keynote-Speakerin rund um das Thema Rassismus.

Auf meiner Website nenne ich mich Rassismus-Expertin, Aktivistin und Autorin.

Gemeinsam mit meinem Mann Stephen Lawson führe ich bundesweit, in Österreich, der Schweiz und Italien Workshops zum Thema Rassismus durch.

In den letzten sechs Jahren durfte ich mit hunderten von Menschen über das Thema Rassismus sprechen.

Ich habe auch ein Buch herausgebracht – „exit Racism. Rassismuskritisch denken lernen.“

Die Rückmeldungen, die ich von meinen Leser_innen erhalte, sind überwiegend sehr positiv.

Ich verdiene mein Brot damit, andere auf eine rassismuskritische Reise mitzunehmen

So weit, so wunderbar.

Zu meiner Arbeit gehören auch Pressetermine. Interviews für Radio, Printmedien und ein paar Mal auch fürs Fernsehen.

Im Zuge der #MeTwo-Debatte gab es – wie immer, wenn das Thema Rassismus mal wieder Konjunktur hat in der deutschen Medienlandschaft – eine große Zahl an Interviewanfragen für Menschen wie mich, die ihr täglich Brot damit verdienen, andere Menschen auf eine rassismuskritische Reise mitzunehmen.

Und vorweg, damit mich niemand falsch versteht: Ich freue mich über das Interesse der Journalist_innen.

Interessant aka ermüdend ist allerdings, dass ich, seitdem ich diese Arbeit mache – also seit knapp zehn Jahren –, jedes Mal fast ausnahmslos exakt die gleichen Fragen gestellt bekomme.

Ich sage „fast“, weil es natürlich einige sehr ermutigende Ausnahmen gab und gibt.

Auch in Redaktionen sitzen inzwischen immer mehr Schwarze Menschen und People of Color und insgesamt Menschen auf einem rassismuskritischen Weg.

Aber in gefühlter Endlosschleife kommt die Frage danach, ob ich denn selbst auch Rassismus-Erfahrungen mache? Oder ob es in Deutschland denn wirklich Rassismus gebe?

In Interviews zu Rassismus bekomme ich jedes Mal die gleichen, „weißen“ Fragen gestellt

Und auch wenn Teil meiner Jobbeschreibung ist, dass ich bestimmte Inhalte, Mechanismen und Zusammenhänge immer wieder neu erklären, besprechen, analysieren muss, und ich dies auch wirklich gern und mit großer Leidenschaft tue, frage ich mich doch ernsthaft, warum es in den deutschen Medien, in der gesamtdeutschen Rassismus-Debatte nur wenig Bewegung zu geben scheint.

Es ist überhaupt nicht so, dass ich alle Journalist_innen anprangern will. Was mich nur wundert, ist, warum es beim Thema Rassismus scheint, als wären wir im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ gefangen, wo wir immer wieder am selben Tag aufwachen.

Ich bin keine Journalistin. Aber ich habe hier einmal das Interview mit mir selbst geführt, welches ich gern einmal mit einer Journalistin führen würde:

Frau Ogette, wir führen in Deutschland ja nicht das erste Mal eine öffentliche Debatte zum Thema Rassismus. Haben Sie das Gefühl, dass sich die Qualität dieser Debatten verändert?

Im Gegenteil. Die Diskussion erfolgt fast ritualisiert immer wieder nach dem gleichen Muster.

Jemand benennt Rassismus öffentlich.

Daraufhin gibt es Menschen, die von Rassismus betroffen sind, die sich nun trauen, auch ihre Erlebnisse zu schildern.

Direkt im Anschluss gibt es einen Aufschrei aus der gesellschaftlichen Mitte.

Nicht etwa ein allgemeines Entsetzen darüber, wie so viele unserer Mitbürger_innen Alltagsrassismus ausgesetzt sind, sondern ein Infrage-Stellen, ob diese Erfahrungen denn überhaupt valide sind.

Jedes Mal wird diskutiert, ob unsere Erfahrungen überhaupt Rassismus genannt werden dürfen

Ob sie überhaupt Rassismus genannt werden dürfen.

Ob diese Menschen nicht vielleicht doch zu emotional und übersensibel seien.

Ob sie überhaupt ein Recht darauf haben, ihre Erfahrungen zu benennen.

Und dann beginnt eine nicht enden wollende Diskussion, in der die einen immer wieder fragen: „Ach, ihr erlebt wirklich Rassismus?“ und die anderen, wenn die Gefragten dies dann bestätigen, sagen: „Das ist aber übertrieben. Das müssen Sie erst einmal beweisen. Wir sind doch keine Rassist_innen!“

Es dauert dann nicht lange, und es legt sich wieder der Mantel des Schweigens über das Thema.

Die einen schweigen, weil sie frustriert sind, mal wieder nicht gehört worden zu sein, obwohl sie sich durch das Erzählen ihrer persönlichen, schmerzhaften Erfahrungen verletzlich gemacht haben.

Und die anderen schweigen, weil sie sich nicht länger sagen lassen wollen, dass sie Rassist_innen sind. Und auch (Sarkasmus an), weil sie oft diejenigen sind, die in den Schaltzentralen sitzen und Diskurse an- und abschalten können, wenn sie unbequem werden (Sarkasmus aus).

Einschub: Übrigens reicht eigentlich ein kurzer Blick auf die Kommentarspalten der Erfahrungsberichte oder die Antworten auf die #MeTwo-Tweets, um zu wissen, wie viel rassistischem Müll Schwarze Menschen und People of Color auch heutzutage ausgesetzt sind.

Warum, denken Sie, ist die Debatte dermaßen emotionalisiert, und warum gibt es diesen starken Impuls der Relativierung durch Menschen, die gar nicht von Rassismus betroffen sind?

Weil das Thema Rassismus wahnsinnig emotional ist. Und weil wir mit einem falschen Rassismus-Verständnis in diese Diskussionen gehen.

Rassismus wird immer noch als individuelle böse Tat eines oder einer Einzelnen verstanden.

Und natürlich: Das Erstarken der Rechten und das Salonfähig-Werden offen rechter Parolen in diesem Land und weltweit ist etwas, das vielen Menschen Angst macht – und dies zu Recht.

Rassismus ist keine individuelle böse Tat eines oder einer Einzelnen

Und da ist eine klare gemeinsame antirassistische Haltung von allen Menschen, die sich nicht bewusst rechts positionieren, wichtig, essenziell und klar gefordert.

Aber: Rassismus nur aus dieser Perspektive zu betrachten, ist kurzsichtig und fatal.

Denn wenn solche Debatten wie #MeTwo etwas zeigen, dann, dass die überwiegende Mehrheit der Alltagsrassismus-Erfahrungen in dieser Gesellschaft dort passieren, wo die Menschen sitzen, die sich selbst für klar antirassistisch halten.

Die denken, dass „Nicht-rassistisch-sein-Wollen“ reicht, damit Rassismus nicht reproduziert wird.

Und diese Menschen aus der gesellschaftlichen Linken und Mitte sehen sich dann durch solche Erfahrungsberichte plötzlich in ihrer Selbstwahrnehmung bedroht.

Was ist Ihrer Meinung nach der Rassismus-Begriff, mit dem wir arbeiten sollten, um in der Debatte wirklich voranzukommen?

Wir müssen begreifen, dass Rassismus ein gesellschaftliches Konstrukt ist.

Rassismus ist nicht nur die Ausnahmetat einzelner böser Individuen. Rassismus ist verflochten in allen Strukturen, allen Institutionen, allen Bereichen unserer Gesellschaft.

Wir sind alle rassistisch sozialisiert worden

Wir alle wurden in eine Welt hineingeboren, in der Rassismus in unseren Denkmustern, unserer Sprache, unseren Bildern steckt.

Wir alle sind rassistisch sozialisiert worden. Das ist nicht das Gleiche wie „Rassist_in sein“.

Gilt das nur für Rassismus?

Nein, das gilt natürlich auch für alle anderen gesellschaftlichen Diskriminierungsformen wie Sexismus, Heteronormativität, Ableismus [Anm. der Red.: die alltägliche Reduktion eines Menschen auf eine Beeinträchtigung und damit einhergehen eine Abwertung oder Aufwertung; vgl. hier].

Haben Sie manchmal das Gefühl, dass wir Rassismus so diskutieren, als ob wir es das erste Mal täten?

Ja, absolut. Das Interessante und gleichzeitig Frustrierende ist, dass es seit vielen Jahren eine umfassende Forschung dazu gibt.

Viele Menschen haben sich im deutschen Raum bereits damit beschäftigt.

Es gibt keinen Raum, in dem Rassismus nicht existiert

Auch mein Buch reiht sich eine rassismuskritische Tradition von vielen anderen Büchern und Artikeln, wissenschaftlichen Schriften und Debatten ein, die es seit Langem gibt und die bereits lange geführt wurden und werden.

Viele Studien haben immer wieder empirisch belegt, dass es keinen Raum gibt, in dem Rassismus nicht existiert.

Rassismus ist also die Norm und nicht die Ausnahme.

Wenn wir Rassismus so diskutieren würden, dann müssten wir nicht mehr Zeit damit verschwenden, darüber nachzudenken, ob Rassismus nun wirklich real ist und ob tausende Tweets über Rassismus-Erfahrungen in ganz Deutschland nicht vielleicht doch nur subjektive und individuelle Rachefeldzüge einzelner frustrierter „Ausländer_innen“ sind.

Wir könnten Talkshows und Zeitungskolumnen mit echten produktiven Debatten über Veränderungen führen, die dieses Land tatsächlich rassismusärmer machen.

Was ist der Bereich, in dem Sie sofort etwas ändern wollen würden, und was genau würden Sie sich für diesen Bereich wünschen?

Es gibt so viel zu tun. Und jeder einzelne Bereich, in dem Rassismus wirkt, ist einer zu viel.

Aber mir ganz persönlich liegt das Thema Rassismus im Schulsystem ganz besonders am Herzen.

Natürlich auch deshalb, weil ich als Mutter jeden Tag ein Schwarzes Kind in die Schule schicke.

Wo ist der Aufschrei über Rassismus in den Schulen?

Und auch die #MeTwo Debatte hat – einmal mehr – ganz klar gezeigt, wie viele der Alltagsrassismus-Erfahrungen in Schulen stattfinden. Und zwar vom Lehrpersonal ausgehend.

Wo ist der Aufschrei von Lehrer_innen, von Menschen im Schulsenat, in den Schulaufsichten, von den Schulpsycholog_innen, den Schulsozialarbeiter_innen darüber, wie viele Kinder in ihrer Obhut täglich solche traumatisierenden Erfahrungen machen?

Mir fehlt die öffentliche Betroffenheit über diese Erfahrungen.

Ich wünschte, sie würde dazu führen, dass Rassismus-Kritik und generelle Diskriminierungskritik, die Selbstreflexion zum Thema Rassismus und der Umgang mit dem Thema im Kollegium und im Klassenzimmer ab sofort als obligatorisches und umfassendes Modul in jede Lehrer_innenausbildung gehört.

Wie erleben Sie denn Schulen in Ihrer Arbeit und auch privat, wenn es um das Aufzeigen von Rassismus geht?

Auch und besonders in Schulen gibt es einen extremen Verteidigungsmechanismus, wenn Rassismus benannt wird.

Ich habe bereits von Fällen gehört, wo Eltern, die Rassismus in Bezug auf ihre Kinder benannten, rechtliche Konsequenzen angedroht wurden.

Dabei wäre es auch hier viel wichtiger und auch zielführender für alle, wenn Schulen sagen würden: Ja, Rassismus ist ein gesellschaftliches Problem, und wir nehmen ihn ernst, wann immer wir ihn erkennen oder aufgezeigt bekommen.

Auch wenn ich viele engagierte und mutige Lehrer_innen kennenlernen durfte und wir in Berlin derzeit eine unglaublich mutige, engagierte und kompetente Antidiskriminierungsbeauftragte für Schulen haben – solche Schulen suche ich leider noch.

Bitte zeichnen Sie uns doch ein Bild davon, wie Schule Ihrer Meinung nach aussehen sollte, damit sie ein rassismusärmeres Umfeld für die Menschen innerhalb dieses Systems wird?

Ich würde mir Schulen wünschen, denen es wichtiger ist, sich mit den Wirkungsweisen von Rassismus und der eigenen Positioniertheit zu beschäftigen, als damit, ob der Rassismus-Vorwurf überhaupt legitim ist.

Schulen, die Materialien schaffen und nutzen, die diskriminierungsfrei, realitätsnah und – wenn ich träumen darf – sogar empowernd, stärkend sind für alle Kinder.

Ich wünsche mir vielfältige Schulen, die Kinder stärken

Schulen, in denen Grenzüberschreitungen jeglicher Art nicht geduldet werden und Kinder ermutigt werden, aktiv gegen Ungerechtigkeiten anzugehen, anstatt mit stereotypisierten Bildern über die „Anderen“ gefüttert zu werden.

Schulen, wo auch die Lehrer_innen heterogen, multiperspektivisch, vielfältig sind und alle gesellschaftlichen Perspektiven und Positionierungen abbilden.

Schulen, wo eben diese Lehrendenschaft regelmäßig Räume des Austauschs und der Weiterbildung zu allen Diskriminierungsformen erhält.

Kurz: Schulen, die in Bezug auf ihre gesamte Ausrichtung und Vision als Spiegel einerseits und auch als Fenster in die Welt andererseits wirken.

Wenn Sie in der öffentlichen Debatte ein Plädoyer halten dürften, was würden Sie den Menschen sagen wollen?

Ich will nicht mehr darüber diskutieren müssen, ob Rassismus überhaupt ein Thema ist in Deutschland.

Ich möchte nur noch darüber nachdenken, wie wir Rassismus in jeder Form – als Alltagsrassismus, als strukturellen oder institutionellen Rassismus und natürlich auch rechte Strömungen wie die AfD in jedem Winkel dieser Gesellschaft – entlarven und dekonstruieren können. Und das mit möglichst vielen Menschen zusammen!

Und ich möchte echte, ehrliche, mutige und vor allem selbstkritische Debatten zum Thema Rassismus erleben. Und dies als Gesamtgesellschaft.

Ich möchte die rechten besorgten Wutbürger_innen aus dem momentanen Rampenlicht wissen und ein Spotlight auf die vielen Menschen legen, die sich aktivistisch, künstlerisch, politisch, sozialpolitisch, akademisch oder auch ganz einfach im Kleinen und Großen im Alltag für ein pluralistisches, diskriminierungsbewusstes und diverses Deutschland einsetzen.

Und da ich mich ja beruflich täglich in Institutionen und Organisationen bewege und mit Menschen zum Thema Rassismus arbeite, fordere ich nochmals, dass alle Menschen, vor allem und besonders die, die mit der Bildung von Kindern und jungen Menschen beauftragt sind, sich in ihrer Ausbildung intensiv und ausführlich mit rassismuskritischen Inhalten auseinandersetzen müssen.

Ich wünsche mir eine Revolution der Liebe. Und damit meine ich nicht (nur) die romantische zwischenmenschliche Liebe, sondern die politische, aktivistische, mutige, hoffnungsgebende, widerständige Liebe.

* Der Beitrag wurde zuerst im Oktober 2018 auf migazin.de veröffentlicht. Wir danken Tupoka Ogette und MiGAZIN-Chefredakeur Ekrem Şenol herzlich für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung!

1 Kommentare

Podl 28. März 2019 21:31

Super Artikel, viele spannende Debatten und eine sehr aufgeklärte Sicht.

Zwei Widersprüche: a) der Rassismusbegriff ist viel zu breit und ungenau. Besser wieder so begriffsscharf wie in den 80ern drüber reden. b) was soll das Reden über weisse Fragen.

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