Was muss passieren, damit es Menschen, die Drogen gebrauchen, viel besser geht?
Prohibition, also das Verbot von Drogen, schadet viel mehr als sie nützt.
Solange wir mit ihr weitermachen, werden wir Drogen gebrauchenden Menschen nicht wirklich aus ihrer Misere helfen, und der Gedenktag für Menschen, die unnötig sterben mussten, wird nie an Aktualität verlieren.
Gedenktag für verstorbene Drogengebraucher_innen als Anlass für umfassende Besinnung nehmen
Was ist die Alternative? Schulung, Begleitung, Akzeptanz, angemessene Strukturen. Besinnung auf die Würde jedes Menschen.
Lassen Sie uns den diesjährigen Gedenktag für verstorbene Drogengebraucher am 21. Juli zum Anlass für eine umfassende Besinnung nehmen.
Viel gefährlicher als die Drogen ist das Verbot der Drogen, die Prohibition
Dieser Tag hat vor allem zwei Funktionen:
- Menschen wenigstens ein bisschen von der Würde zurückzugeben, die ihnen während ihres zu kurzen Lebens versagt wurde.
Darin brauchen Eltern, Angehörige, aber auch alle Freunde der Verstorbenen unsere umfassende Solidarität.
Denken wir darüber nach: Das ist leichter geschrieben und gelesen als gelebt. Ernst genommen, führt es uns immer wieder zur Frage: Wie viel tragen wir selbst dazu bei, dass es anderen durch Abgrenzungs-Diskriminierung richtig schlecht geht?
Zwangsläufig mündet es in die zweite Bedeutung des 21. Juli: - Veränderungen anzustoßen, damit es Drogen gebrauchenden Menschen besser geht. Wir haben uns über Jahrzehnte daran gewöhnt, dass sich immer nur ein bisschen ändert, aber viel zu viel bleibt, wie es halt ist. Es wird weiter so bleiben, wenn wir nicht grundsätzlicher werden.
Viel gefährlicher als die Drogen ist das Verbot der Drogen, die Prohibition! Ich kenne viele Patienten, die mit Drogen ein gelingendes, würdiges Leben leben oder die es leben konnten, solange sie nicht verfolgt wurden – Zerstörung und Entwürdigung begannen erst mit der Verfolgung und Bestrafung.
Auch die Mehrzahl derer, deren Tod wir am Gedenktag beklagen, ist nicht eigentlich an den Drogen, sondern an den Umständen des Drogengebrauchs gestorben.
Drogennot- und Drogentodesfälle sind nach wie vor an der Tagesordnung
Ich habe über 100 von meinen ursprünglich heroinabhängigen Patienten gefragt, ob sie schon mal eine Reanimation (Wiederbelebung) oder einen Fast-Todesfall bei sich erlebt haben. Bei immerhin 60 Prozent war das der Fall, durchschnittlich 2,4 Mal!
Die Qualität von Drogen wird nicht kontrolliert, und aus Angst vor der Polizei ruft man keine Hilfe
Eine Reanimation oder einen Todesfall in ihrer unmittelbaren Umgebung hatten schon 85 Prozent erlebt, durchschnittlich 5,3 Mal!
Auf die Frage, ob sie sich erklären könnten, wie es dazu kam, kamen zwei Antworten immer wieder:
- „Du weißt nie, was du kaufst.“ Die Qualität ist überhaupt nicht kontrolliert und unterliegt lebensgefährlichen Schwankungen. Klare Prohibitionsfolge!
- „Aus Furcht vor der Polizei ruft man keine Hilfe.“ Sonst käme die Polizei oft vor dem Notarzt und ermittle auch gegen die, die Hilfe gerufen haben. Klare Prohibitionsfolge!
Also: Prohibition entwürdigt und tötet, wahrscheinlich mehr als die Drogen selbst.
Es gibt keine drogenfreie Gesellschaft
Wir müssen uns besinnen und handeln. Schauen wir zuerst in die Geschichte und auf die weltweite Dimension.
Bewusstseinsverändernde Substanzen gehören zur Menschheit seit Adam und Eva. Schon die – sagt die Geschichte – mussten ein Verbot und dass sie trotzdem nach der Frucht griffen teuer bezahlen.
Der Irrweg Prohibition ist erst 100 Jahre alt
Die Menschheit hat immer Wege gefunden, den Gebrauch bewusstseinsverändernder oder abhängig machender Substanzen in die Kultur zu integrieren oder anderweitig in den Griff zu bekommen, letztlich mit ihm zu leben.
Den Irrweg eines systematischen Verbotsversuchs gibt es erst seit gut 100 Jahren.
Von 1919 bis 1933 hat man es in den USA mit dem Alkohol versucht. Tatsächlich gingen die Leberzirrhosen und die alkoholbedingten Todesfälle zunächst zurück. Aber es gab mehr als 10.000 Todesfälle durch Vergiftungen, teils durch unkontrollierte Streckmittel.
Prohibition sichert der Drogenkriminalität höchst gewinnbringende Geschäfte
Aus ehrbaren Weinhändlern wurden plötzlich Kriminelle. Man wich auf Hochprozentiges aus und ging in die Heimlichkeit. Im Nu bildete sich ein kriminelles Milieu und es entwickelten sich bewaffnete Banden, die riesige Umsätze machten.
Es dauerte 14 Jahre, bis man erkannte: Der Weg ist falsch. Er war grandios gescheitert. Vieles war viel schlechter und kaum etwas besser geworden.
Die Prohibition ist grandios gescheitert
Warum hat man aus dieser Erfahrung nicht die notwendigen generellen Lehren gezogen?
Vielleicht mussten die Verbotsbefürworter ihr Gesicht wahren und die Gesellschaft darin vereinen, dass man doch wenigstens die „Drogen“ verbieten muss. Auf jeden Fall waren die mittlerweile gut organisierten Gangs an einem weiteren Verbot interessiert, denn es sicherte unglaubliche Geschäfte.
Die Profite der sogenannten Drogenmafia zählen heute weltweit zu den größten Gewinnen. Man hat inzwischen über 100 statt nur 14 Jahre Zeit gehabt. Aus Gangs sind Kartelle geworden, die sich regelrechte Kriege leisten, Regierungen unterwandern und Systeme von Korruption oder Terror über weite Teile der Welt verbreiten.
Der „Krieg gegen Drogen“ ist ein Krieg gegen Menschen
Dem mexikanischen „Drogenkrieg“ zum Beispiel sind über 200.000 Menschen zum Opfer gefallen. In den Philippinen missbraucht der Herrscher den „Krieg gegen Drogen“, um zu beseitigen, wen immer er loshaben will. Auch hier gab es schon über 10.000 Tote.
Warum ist der Westen an Afghanistan so interessiert? Als die amerikanischen Soldaten in Vietnam waren, wurden viele von ihnen heroinabhängig. Aber sehen wir eine offene Diskussion darüber, dass sich amerikanische Soldaten jetzt dauerhaft im Hauptanbauland für Opium, dem Rohstoff für Heroin, aufhalten?
Wenn die Amerikaner doch die Prohibition so stark forcieren und überall international durchsetzen – wie kommt es, dass sich die Opiumproduktion Afghanistans seit dem US-Einmarsch im Jahr 2001 vervielfacht hat? Milliarden für die Taliban – ist das nicht eigentlich eine terroristische Vereinigung? Was ist dran an den nicht endenden Gerüchten, dass die CIA selbst zentral in den Opiumhandel involviert ist?
Wie auch immer, der ganze „War on drugs“, wie ihn erstmals Präsident Nixon nannte, steckt voller Lug und Trug, mit unvorstellbaren Gewinnen in den falschen Händen, mit Waffen, schwersten Menschenrechtsverletzungen und durch und durch subversiven Grundhaltungen.
Auch das Betäubungsmittelgesetz bedeutet mehr Schaden als Nutzen
Unser Hebel der Prohibition ist das Betäubungsmittelgesetz. Auch hier stelle ich die Hypothese in den Raum, dass es mehr schadet als nützt.
Es ist ein Gesetz voller Härte und abschreckender Regelungen. Ärzte brauchen eine spezielle Lizenz zur Behandlung sogenannter Drogenabhängiger. Die Folge: Abhängige finden keine Ärzte, haben kaum eine Auswahl und weite Wege.
Ärzt_innen werden zu Misstrauen, Kontrollen und Strafen gezwungen
Schon allein das erschwert eine Lebensnormalisierung. Hinzu kommt die untherapeutische Konzentrierung Betroffener an den wenigen Behandlungszentren. So haben viele keine Chance! Nicht, weil sie nicht wollten oder die Drogen sie so kaputt machen würden, sondern weil wir ihnen unter der Überschrift der Prohibition keine angemessene Chance geben!
Unser ärztliches Verhältnis zu den Patienten ist unter den Maßgaben des Betäubungsmittelgesetzes untherapeutisch. Denn das Gesetz verlangt, zu misstrauen, strikt zu kontrollieren und zu bestrafen – alles das Gegenteil eines guten therapeutischen Ansatzes!
Auch ein Arzt aus meiner Region wurde erst in den letzten Jahren inhaftiert, weil er letztlich nicht genug bestraft hatte. Was für Dimensionen, wenn man das alles gegeneinanderhält!
Blockiert wird so die Entwicklung einer wirklich guten Behandlung, wo es eigentlich besonders einfühlsame Hilfe bräuchte.
Unbedingt erforderlich wären Rahmenbedingungen, die die Entwicklung von Vertrauen begünstigen. So aber gibt es keine Entwicklung der bestmöglichen Behandlung, der bestmöglichen Dosis, ihrer Verteilung über den Tag, der bestmöglichen Substanzen oder ihrer Kombinationen und auch nicht der bestmöglichen Behandlungsbedingungen. In alledem sind Suchtkranke viel mehr entrechtet als andere Patienten.
Eine menschliche Versorgung von Drogengebraucher_innen ist möglich
Wie leicht und wie wichtig wäre es, alle Ärzte fit für die Behandlung Suchtkranker zu machen! Angemessene menschlich-medizinische Versorgung hieße, dass jeder Suchtkranke kompetent von seinem Hausarzt behandelt werden kann – wie jeder Diabetiker auch.
Auch die Entwicklung der bestmöglichen Behandlung für Alkoholabhängige stagniert, stärker als bei fast allen anderen vergleichbar schweren und verbreiteten chronischen Krankheiten. Längst haben wir dokumentiert, dass auch hier Opioide eine hervorragende therapeutische Rolle spielen können. Aber es gibt keine Entwicklung – wegen der Härte und Kompliziertheit des Betäubungsmittelgesetzes. Wie häufig wird Suchtkranken das Menschenrecht auf die bestmögliche Behandlung verwehrt!
Vielleicht mag man einwenden: Aber das Verbot ist doch pädagogisch wichtig. Es hält viele davon ab, süchtig zu werden. Ein wichtiger Einwand. Aber der Preis ist zu hoch, die Mittel sind falsch. Wir spielen der Korruption, der Bewaffnung mit böser Intention von vielen bösen Dingen in die Hände.
„Ich glaube, dass Drogen viele Leben zerstört haben, aber falsche Regierungspolitik hat viel mehr Leben zerstört.“ (Kofi Annan)
In der Summe ist das alles furchtbar. Deutlich ist, dass die Prohibition viel, viel mehr schadet als nützt und damit ein Verbrechen ist.
Auch der 2018 verstorbene Friedensnobelpreisträger Kofi Annan, von 1997 bis 2006 der siebte Generalsekretär der Vereinten Nationen, fasste 2016 in einem Beitrag für den SPIEGEL zusammen: „Globally, the ‚war on drugs‘ has not succeeded. … I believe that drugs have destroyed many lives, but wrong government policies have destroyed many more.” Auf Deutsch etwa: „Global gesehen ist der ‚Krieg gegen Drogen‘ nicht erfolgreich. Ich glaube, dass Drogen viele Leben zerstört haben, aber falsche Regierungspolitik hat viel mehr Leben zerstört.“
Das alles sehen wir längst. Warum gibt es dann nicht ein normales Fehlermanagement wie sonst doch fast überall? Vielleicht wegen der unvorstellbar hohen Profite mit den Schwarzmärkten? Oder der allgegenwärtigen, damit verbundenen Korruption?
Die überwiegende Mehrheit der Menschen wünscht sich eine bessere Welt mit mehr
– Solidarität
– vertrauenswürdiger Liebe
– Gerechtigkeit und
– Vertrauen.
Verlieren wir nie aus den Augen, dass wir für- und nicht gegeneinander auf dieser Welt sind. Ein viel besserer und zugleich professionellerer Umgang mit unseren Suchtkranken kann dazu ein Anfang sein.
Der Allgemeinmediziner Dr. Albrecht Ulmer war bis 2018 über 40 Jahre lang ärztlich tätig und setzt sich auch weiterhin für Belange von Patient_innen und Weiterentwicklungen ein, zum Beispiel im Rahmen von Studien. „Das Lernen von Patienten ist die Basis in meinem Beruf“, schrieb er 2018. „Das Interesse am Menschen hinter der Krankheit und ein genaues Zuhören verhelfen immer wieder zu neuen Sichtweisen. Erstaunlicherweise entstehen daraus auch wichtige medizinische Ansätze und letztendlich eine Medizin, die sich in besonderer Beziehung zum Menschen entfaltet.“ Ulmer beschreibt das besonders bei Patienten mit HIV und Suchterkrankungen, seinen Spezialgebieten. Seine Erfahrungen hat er im Buch „Lernen von Patienten“ veröffentlicht, das im Mabuse-Verlag erschienen ist; eine Leseprobe kann auf den Seiten des Verlags angesehen werden (136 Seiten, 15,00 Euro, als PDF-Datei 12,99)
Veranstaltungen zum Gedenktag für verstorbene Drogengebraucher_innen
In vielen Städten in ganz Deutschland finden rund um den 21. Juli Veranstaltungen zum Gedenktag für verstorbene Drogengebraucher_innen statt. Hier eine Auswahl:
- Augsburg, Freitag, 19.7., 13 Uhr, Königsplatz
- Berlin, 21.7., 13 Uhr, Kottbusser Tor
- Düsseldorf, Sonntag, 21.7., Gedenkgottesdienst St.-Elisabeth-Kirche
- Frankfurt a. M., Freitag, 19.7., mehrere Termine
- Halle/Saale, Sonntag, 21.7., 13–19 Uhr, Würfelwiese (neben AOK)
- Köln, Samstag, 20.7., 12–16 Uhr, Bühne auf dem Rudolfplatz
- München, Montag, 22.7., 11–14 Uhr, Marienplatz
- Osnabrück, Montag, 22.7., 17 Uhr Gottesdienst Gertrudenkirche
- Peine, Montag, 22.7., Fußgängerzone
- Wuppertal, Samstag, 20.7., Gedenkgottesdienst Citykirche
Weitere Veranstaltungen in NRW finden sich in der Zusammenstellung der Aidshilfe NRW.
Weitere Beiträge zum Thema (Auswahl)
„Ich kenne keinen anderen Menschen, der sich so nach dem Leben sehnte“
Weitere Beiträge zum Thema Drogen, Prävention und Drogenpolitik auf magazin.hiv finden sich unter https://magazin.hiv/?s=Drogen.
http://supportdontpunish.org/: „Unterstützen statt betrafen“: Webseite einer internationalen Initiative für eine menschliche Drogenpolitik
Die Polizei löst keine Drogenprobleme: Deutsche AIDS-Hilfe zum Bericht „Rauschgiftkriminalität 2017“ (aidshilfe.de, 23.05.2018)
Link zur Broschüre „Eine moderne Drogenpolitik nützt allen“ der Deutschen AIDS-Hilfe
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