Nach der Revolution in Armenien im Frühjahr 2018 wurde das Atmen leichter. An der gesellschaftlichen Stigmatisierung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans* hat sich aber nichts geändert, so die Journalistin Jekaterina Fomina, die ein halbes Jahr in Armenien gelebt hat. Im zweiten Teil ihres Beitrags stellt sie uns Mariam (26) und Narina vor, die sich zusammen mit anderen Eltern für die Rechte von LGBT einsetzt.

Schwestern

Gegenüber Schwulen ist die armenische Gesellschaft unerbittlich. Lesben werden von vielen komplett abgelehnt.

„Für uns ist es in Armenien eigentlich einfacher. Es ist Tradition, dass Mädchen Hand in Hand spazieren gehen können, sie sind Schwestern, beste Freundinnen“, sagt Mariam.

Sie ist 26 Jahre alt, streng gekleidet, trägt eine Kurzhaarfrisur und hat ein kindliches Gesicht.

Mariam war kein Wunschkind: Ihre Eltern wollten – wie die meisten armenischen Familien – lieber einen Sohn. Einen Jungen zur Welt zu bringen ist aus vielerlei Gründen von Vorteil: Er ist ein künftiger Soldat und unterstützt die Eltern im Alter. Bei gezielten Abtreibungen aufgrund des Geschlechts nimmt Armenien den dritten Platz in der Welt ein.

Die ersten Klassen absolvierte Mariam in Russland, danach kam sie nach Armenien – in eine von russischen Molokanen gegründete Kleinstadt in der Sewansenke.

„Eine sehr depressive Stadt, völlig abgeschottet – so eine Art Twin Peaks“

Ihre konservative Großmutter tadelte sie, ganz im Geiste der Stadt, sogar wegen des ganz normalen Umgangs mit Klassenkameraden und nannte sie eine „Rumtreiberin“. Mariam erzählt, dass sich dadurch bei ihr ein verkrampftes Verhältnis zum männlichen Geschlecht entwickelt habe – wozu auch das aufdringliche Verhalten eines Cousins beitrug.

„In der Schule war ich in einen Jungen verliebt. Seinetwegen habe ich mir ein blaues Auge geholt – ich fiel hin, als ich ihm nachrannte. Das alles hat letztlich auf dasselbe Konto eingezahlt, und das Leben hat mich zur Lesbe gemacht“, sagt sie lachend.

Mariam war immer unangepasst. Nach ihrer Rückkehr aus Russland trug sie in der Schule kurze Röcke, was in Armenien als absolut tabu galt. „Bis heute bekomme ich zu hören: ‚Du hast in der Schule damals eine Revolution ausgelöst.‘ Klassenkameraden verliebten sich in mich, liefen mir hinterher. Aber diese Aufmerksamkeit hat mich nur wütend gemacht.“

Irgendwann begriff Mariam, dass die Neckereien keine Kinderspiele mehr waren, und die Jungs, die nach ihr griffen, dies nicht mehr im Spiel taten.

„Bei den armenischen jungen Männern gibt es eine klare Trennung zwischen armenischen Mädchen, mit denen man in einigen Jahren eine stabile patriarchalische Familie gründen kann, und diejenigen, mit denen man bis dahin seine Zeit verbringen kann. Mir war unangenehm, dass ich zur zweiten Gruppe gezählt wurde. Ich habe keine Männer mehr angesehen, weil ich keinen Rüffel bekommen wollte. Ich begriff, dass ich, wenn ich in dieser Stadt bleibe, mit jemandem verheiratet werde, den meine Verwandten aussuchen. Junge Männer nahm ich als Gefahr wahr. Heute fällt es mir sehr schwer, mit einem Mann zu sprechen, selbst wenn es auf der Arbeit erforderlich ist.“

Mariam schnitt sich die Haare ab und begann Schlabberlook zu tragen.

„Ich habe schon lange verlernt, zu träumen“

„Ein Mädchen in Armenien steht ständig unter Kontrolle: durch die Eltern, durch Männer. Bei uns auf der Arbeit gilt eine ungeschriebene Regel: Erst wenn das Projekt einer Frau von drei Männern gebilligt wurde, ist es ein gutes Projekt. Mein Gehalt ist niedriger als der der männlichen Teammitglieder und reicht gerade so zum Leben.“

Zugleich rechtfertigt sie aber in gewisser Weise auch diese Ungleichheit: „Die Männer verhalten sich nicht aus Boshaftigkeit sexistisch. Ihnen wurde von klein auf beigebracht, dass Mädchen mehr Aufmerksamkeit brauchen und schwach sind. Häufig wollen sie wirklich einfach nur helfen.“

Mit sechzehn Jahren verliebte sich Mariam zum ersten Mal in eine Frau – eine Freundin ihrer älteren Schwester. Zwar habe sie auch vorher schon gewusst, dass es Lesben gibt, aber diese seien für sie wie Wesen von einem anderen Stern gewesen, die es auf Erden nicht gibt und schon gar nicht in Armenien. Bis heute wissen nur wenige von ihrer sexuellen Orientierung. Sie lebt verdeckt und geht keine Beziehungen ein.

Schon allein, überhaupt in Armenien zu leben, ist für Mariam und viele andere Lesben und Schwule ein Akt des Protests.

Ich frage Mariam, was für ein Leben sie führen möchte. „Das weiß ich gar nicht“, sagt sie unsicher. „Ich habe schon lange verlernt, zu träumen, Pläne für die Zukunft zu machen und zu überlegen, was mir gefällt. Das hat sich für mich einfach nicht ergeben.“

„Goldkinder“

Sara wurde im Sommer 2018 vergewaltigt, von einem Freund, der sie besuchte. Da war sie 17.

In Armenien glauben viele, wenn eine Lesbe Sex mit einem Mann hat, verliebt sie sich sofort in ihn und ist dann „geheilt“.

Doch Sara wurde nicht „geheilt“. Anzeige bei der Polizei hat sie trotzdem nicht erstattet. „Warum sie noch einmal verletzen?“, fragt Saras Mutter Narine. „Sie würden nur sagen, es sei meine Schuld.“

Narine wusste nicht, wie sie ihre Tochter unterstützen könnte, deshalb rasierte sie sich die Schläfen und färbte sich die Haare in einer hellen Farbe wie Sara.

Narine sagt, Sara habe sich immer von anderen gleichaltrigen Mädchen unterschieden – glamourösen jungen Armenierinnen, bei denen es als schick gilt, sich auffällig zurechtzumachen und ebenso zu kleiden. Deshalb wurde sie in der Schule häufig gemobbt. Aber verraten wurde sie von einem, dem sie vertraute.

Viele Schwule und Lesben versucht man zu „heilen“

Zu erfahren, dass ihre Tochter lesbisch ist, war für Narine ein schwerer Schlag, denn sie hatte schon einmal eine ähnliche Situation erlebt. In den Neunzigern hatte Narine einen Freund. Nach einiger Zeit gab er zu, dass er sich nur mit ihr trifft, um ihrem Bruder nahe zu sein.

So erfuhr die Familie, dass Ruben, Narines Bruder, schwul ist – eine Tragödie. Die Mutter rief damals im Zorn aus, sie werde Ruben wegen dieser Schande mit der Bratpfanne erschlagen.

„Alle Verwandten drängten darauf, ihn zu verheiraten, und er versuchte auch, sich mit Frauen zu treffen. Aber er hat sich sofort verändert: er wurde zum Grobian, es war zu spüren, dass das nicht sein Ding war. Eines Tages sagte ich bei einem Streit mit ihm: ‚Ich liebe dich als Schwulen. Nur dann bist du du selbst.‘“

Narines Bruder Ruben unterschied sich von anderen armenischen Männern durch sein blendendes Aussehen und seine Tattoos. Er wurde auf der Straße verprügelt und wie Sara eines Tages vergewaltigt. Narine streift dieses Thema nur flüchtig – es ist zu schmerzhaft.

2013 ging Ruben ins Ausland, machte dort Karriere und ist seither nicht in die Heimat zurückgekehrt. Da ist es nur zu verständlich, dass Narine ein derartiges Schicksal auch für ihre Tochter befürchtet.

„Ich nenne sie Goldkinder“, sagt Narine. „Sie haben, glaube ich, einen höheren IQ als wir. Aber ich glaube, dass kein Mensch aus eigenem Wunsch ein solches Goldkind sein möchte. Es ist ein schwieriger, sehr dorniger Weg. Die Seelen dieser Kinder sind traumatisiert. Das haben sie sich nicht selbst ausgesucht.“

Narines Haus wurde zum Zufluchtsort für Saras Freunde: „Wie viele Kinder haben nicht schon bei mir gewohnt… Sie waren von zu Hause weggelaufen, die Mutter schlug sie, der Vater verprügelte sie, sie wurden ständig drangsaliert. Ich bin es aber langsam müde, Hausherrin eines solchen Hotels zu sein. Diese Kinder tun mir sehr leid, sie müssen ständig kämpfen.“

Auf Betreiben von Narine und anderen Müttern begann die Organisation PINK Armenia, die sich bereits seit 2007 für die Rechte von LGBT einsetzt, Beratung für Eltern von LGBT-Kindern anzubieten. „Man schämt sich noch immer, einer Freundin oder Verwandten zu erzählen, dass man ein solches Kind hat – sich einer Fremden in der gleichen Lage zu offenbaren, ist weitaus einfacher“, sagt Narine.

„Die Seelen dieser Kinder sind traumatisiert“

Mit ihren Verwandten spricht sie nicht mehr, genauer gesagt: Sie sprechen nicht mehr mit ihr, seit klar ist, dass Sara kein typisches armenisches Mädchen ist, das man mit Bekannten von Bekannten verheiraten kann, um dann auf baldigen Kindersegen zu warten.

„Sara und ich waren einmal zusammen in Spanien. Eine trans* Person stieg in den Bus ein und keiner scherte sich darum. So muss es sein – jeder nach seiner Fasson, keiner beleidigt keinen.“

Nicht allen Familien gelingt es, die Kinder so anzunehmen, sagt die Psychologin Rusanna Aslikjan, die mit Eltern von LGBT-Kindern arbeitet:

„Viele Schwule und Lesben versucht man zu ‚heilen‘: man bringt sie in psychiatrische Kliniken oder in die Kirche, damit sie zu einem ‚normalen Leben‘ zurückfinden. Die Eltern tun das mit bester Absicht, sie möchten, dass ihre Kinder eine Familie gründen. Manche von ihnen lassen sich überzeugen, dass ihre Kinder nicht ‚krank‘ sind. Trotzdem fürchtet man sich vor dem Gerede der Leute. Den Nachbarn wird gesagt, der Sohn sei zur Ausbildung oder zur Arbeit im Ausland. Man möchte nicht, dass die Leute erfahren, dass er schwul ist und hier nicht leben kann.“

Rusanna arbeitet mehr als zwei Jahre mit PINK Armenia zusammen und sieht erste kleine Veränderungen.

„Die Eltern beginnen, ihre Kinder anzunehmen, und jagen sie nicht mehr so oft aus dem Haus. Die Öffentlichkeit beginnt zaghaft darüber zu reden. Aber die Politiker_innen schweigen weiter – aus Furcht vor Stimmenverlusten. So kann das aber nicht länger weitergehen.“

Die Homophobie kann man nach Rusannas Meinung bekämpfen, indem man offen und anders als bisher über die LGBT spricht, auch im Fernsehen.

„Man hat den Leuten eingeredet, das sei Sünde, vor allem Vertreter der Kirche. Viele sagen, dass man die Schwulen verbrennen sollte, aber weiß man, wie viele unter ihnen selbst schwul sind? In Armenien kennt jeder jeden, das Land ist klein.“

Französischer Kaffee

Seit Nikol Paschinjan im Mai 2018 Premierminister wurde, hat er mehrmals das Thema LGBT aufgegriffen.

Als im November 2018 in Jerewan ein von den „LGBT-Christen in Osteuropa und Zentralasien“ organisiertes Forum stattfinden sollte, befanden die Abgeordneten, diese Veranstaltung stelle „eine ernste Gefahr für die armenische Staatlichkeit und die nationalen Interessen“ dar, weshalb die Verantwortung für die Durchführung Paschinjan übertragen wurde.

Paschinjan erklärte damals: „Ich sage es noch einmal: Für mich persönlich hat die Familie und ihr armenisches Modell höchsten Stellenwert. Ich habe das immer gesagt und werde es wieder und wieder sagen. Das steht außer Zweifel.“

Er stellte aber auch klar, dass es in Armenien wie in jedem anderen Land auch „Menschen mit nichttraditioneller Orientierung“ gibt – und dass dies der Regierung Kopfschmerzen bereite.

Als Beispiel nannte er die Geschichte eines jungen Armeniers, den er während einer  Diplomatenreise in Frankreich kennengelernt hatte. Dieser habe ihm einen Kaffee aufs Zimmer gebracht und auf die Frage Paschinjans nach seinem Leben in Frankreich erzählt, dass er wegen der Homophobie aus Armenien geflohen sei.

„Wenn du in Armenien schwul bist, bist du rechtlos“

„Wenn du in Armenien schwul bist, bist du rechtlos. Bist du schwul und HIV-infiziert, kannst du als Ausländer sogar des Landes verwiesen werden“, erzählt Muscho, eben jener Armenier, der Paschinjan damals den Kaffee servierte.

Laut Arbeitsvertrag darf er keine Einzelheiten über die Begegnungen mit Gästen berichten. Er bittet  darum, seinen Namen zu ändern: „Wenn du noch eine Familie hast, musst du sorgfältig darauf achten, dass dich niemand erkennt.“

Muscho führt jetzt ein glückliches Leben. In Paris hat er armenische Freunde, die wie er geflohen sind. Einigen von ihnen hat er selbst dabei geholfen.

„Einen Armenier brachten sie halbtot hierher, vom Flughafen kam er sofort auf die Intensivstation. Er hatte Aids. In Armenien hat man ihn nur wegen Tuberkulose behandelt und ihn so fast umgebracht. Jetzt ist er glücklich – er lebt und arbeitet. Sie haben ihn gerettet.“

Aids ist in Armenien ein Tabuthema, sagt Muscho. Er ist stolz darauf, in einer aufgeklärten Familie aufgewachsen zu sein, und erinnert sich, wie seine Eltern ihm erklärten, woran Freddie Mercury gestorben war. Aber trotz dieser Freizügigkeit im Denken konnte er nicht zu Hause bleiben.

Vor einigen Jahren hat Muscho in Paris geheiratet. Er rief seine Eltern in Armenien an, um ihnen diese Neuigkeit mitzuteilen. Der Vater sagte kein Wort und sprach dieses Thema nie wieder an. Die Mutter bat Muscho: „Sprich bitte nicht mit den Verwandten darüber. Ich habe nicht die Kraft, ihnen das zu erklären.“

Während seiner Rede im Parlament sagte Nikol Paschinjan, dass er die Region, aus der Muscho stammt, nicht nennen wird – „um die Gefühle der dortigen Bewohner_innen nicht zu verletzen.“

Teil 1 dieses Beitrags ist hier zu finden: https://magazin.hiv/2019/05/28/armenien-keine-revolution-fuer-lgbt-1/

*Der russische Originalbeitrag Несексуальная революция wurde am 15. März 2019 auf opendemocracy.net veröffentlicht. Wir danken der Autorin Jekaterina Fomina und der Plattform openDemocracy herzlich für das Recht zur Zweitveröffentlichung. Übersetzung: Macfalane, Redaktion: Holger Sweers

Weitere Informationen:

ILGA Europe: Bericht zur Menschenrechtssituation von LGBTIQ in Armenien, Berichtszeitraum Januar bis Dezember 2018, online verfügbar unter https://www.ilga-europe.org/sites/default/files/armenia.pdf

Armenien: Keine Revolution für LGBT – Teil 1

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