„Eine Gesellschaft, die sich für die Rechte aller einsetzt, lässt sich nur schwer manipulieren“
Von Tobias Sauer
In den vergangenen Tagen sorgte ein homophobes Propaganda-Video aus Russland für einen Skandal. Der Film, der in den sozialen Netzwerken zu sehen ist, spielt im Russland des Jahres 2035.
In einem Waisenhaus wird ein Junge von seinen Adoptiveltern abgeholt, zwei Männern. Einer der beiden wird als verweiblichte Figur lächerlich gemacht, das Wohl des Kindes als gefährdet dargestellt, als der Vater dem Jungen ein Kleid schenkt. Eine Mitarbeiterin des Waisenhauses spuckt kommentierend auf den Boden. Die Botschaft ist klar: So soll sich Russland auf keinen Fall entwickeln.
Um das zu verhindern, müsse man bei der am 1. Juli anstehenden Volksabstimmung über die Änderung der russischen Verfassung mit Ja stimmen. Einen wirklichen Unterschied macht diese Abstimmung allerdings nicht, denn die neue Verfassung ist bereits in Kraft getreten.
Das Gespräch mit dem Arzt und Aktivisten Dr. Nikolay Lunchenkov hatte mit dem Video einen naheliegenden Aufhänger. Wir erreichen den 26-Jährigen, der vom United Nations Population Fund als einer von zehn „jungen Menschen, die die Welt verändern“ ausgezeichnet wurde, in München, wo er derzeit ein weiteres Studium absolviert. Da das Gespräch am Telefon auf Englisch stattfindet, sprechen wir uns mit den Vornamen an – und kommen direkt auf das Propaganda-Video zu sprechen.
Deutsche Aidshilfe: Nikolay, du hast das neue homophobe Propaganda-Video im Netz gesehen. Hat es dich überrascht?
Nikolay Lunchenkov: Nein. Ich frage mich eher, warum die Leute so geschockt reagieren. In Russland kommt es doch immer wieder zu Hassverbrechen und systematischer Diskriminierung.
Dieses Video ist deshalb nur ein Beispiel von vielen, das zeigt, wie die russische Regierung mit LGBTIQ+ umgeht. Wie sie die Community zu Feinden erklärt und so versucht, die Öffentlichkeit zu manipulieren. Das Video entspricht dem, was zu erwarten war – und ist deshalb für mich auch keine Überraschung.
Immer mehr beginnen, sich für LGBTIQ+-Rechte einzusetzen
Angesichts dieser feindseligen Haltung von Seiten des Staates: Wie sichtbar ist die russische LGBTIQ+-Community im Land überhaupt noch – müssen sich queere Menschen pausenlos verstecken?
Russland ist ein sehr großes Land und entsprechend unterscheidet sich die Situation der LGBTIQ+-Community von Gegend zu Gegend. In Tschetschenien und im nördlichen Kaukasus kommt es zu furchtbaren Verbrechen. In der Moskauer Innenstadt dagegen ist es normalerweise nicht besonders gefährlich, jedenfalls wenn man wohlhabend ist und einem angesehenen Beruf nachgeht.
Zwischen diesen Extremen liegt das übrige Land, liegen auch die anderen großen Städte. Dort ist die LGBTIQ+-Community teilweise unsichtbar. Immerhin aber nimmt die Zahl der Aktivist_innen zu. Junge Leute, auch heterosexuelle, beginnen, sich für LGBTIQ+-Rechte einzusetzen. Es wird also langsam besser.
Ein Grund für die Frage nach Sichtbarkeit: Mir ist unklar, wer eigentlich die Zielgruppe dieses ja recht einfachen Propaganda-Clips ist.
Ich habe dazu zwei Theorien. Die erste ist recht einfach: Der Clip richtet sich an Leute, die außerhalb von Moskau leben, keine anderen Sprachen sprechen, die viel Fernsehen schauen, durch die Regierungspropaganda beeinflusst sind, nur einen eingeschränkten Zugang zu unabhängigen Nachrichten haben. Der Clip zeigt ihnen: Wenn ihr nicht für die Verfassungsreform stimmt, wird dies eure Zukunft sein.
Das klingt naheliegend. Wie lautet die andere Theorie?
Die Regierung verfolgt eine klassische „teile und herrsche“-Strategie
Vielleicht ist die Regierung aber auch besorgt, dass, etwa aufgrund der Corona-Krise, am 1. Juli nicht genügend Menschen zur Wahl gehen. In dem Fall wäre ausgerechnet der liberale Teil der Öffentlichkeit die Zielgruppe.
Beispielsweise haben mir Freunde berichtet, dass sie eigentlich nicht an der Abstimmung teilnehmen wollten, weil diese ohnehin sinnlos sei. Nun aber wollen sie doch wählen gehen, um angesichts dieses Videos die Verfassungsänderung abzulehnen. Vielleicht soll das Video also so sehr polarisieren, dass die Wahlbeteiligung steigt. Siegt Putin, wäre eine höhere Wahlbeteiligung gut für seine Legitimation.
Aus der Ferne betrachtet, scheint es bei der Verfassungsänderung vor allem darum zu gehen, die Rolle des Präsidenten zu stärken und den Weg für weitere Amtszeiten von Wladimir Putin freizumachen. In diesem Zusammenhang verwundert es, dass ein so völlig anderes Thema wie die Definition der Ehe so prominent ins Zentrum gerückt wird.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das Video im Jahr 2035 spielt. Das ist die Zeit, bis zu der Putin Präsident bleiben könnte, wenn er noch zwei Mal wiedergewählt würde. Das Video versucht also auszudrücken: Das wird aus unserem Land, wenn Putin nicht gewählt wird.
Und Präsident Putin inszeniert sich als Verteidiger des Vaterlands, der Familie, der Ehe von Mann und Frau?
Es ist die klassische Strategie von „divide et impera“, von „teile und herrsche“. Würde sich die Gesellschaft gemeinsam für die Rechte aller einsetzen, ließe sie sich nur schwer manipulieren. Tatsächlich aber werden in Russland zahlreiche Gruppen unterdrückt. Nicht nur LGBTIQ+, sondern beispielsweise auch Frauen und ethnische Minderheiten.
Fällt diese Taktik auf fruchtbaren Boden?
In vielen Fällen schon. In Russland steigen Hasskriminalität, Morde und Überfälle. Es begehen auch besonders viele Teenager Suizid. Wir wissen natürlich nicht, wie viele davon LGBTIQ+ waren. Denn bis zum 18. Geburtstag darf per Gesetz niemand mit Jugendlichen über Homosexualität sprechen. Das bedeutet auch, dass junge Leute beispielsweise nicht zum Schulpsychologen gehen können, um dort über ihre Gefühle zu sprechen.
„Viele zivilgesellschaftliche Organisationen wollen das Leben der Menschen konkret verbessern, egal, was die Regierung will“
Menschenrechtsfragen sind oft auch verknüpft mit der öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Wie stehen Diskriminierung und Stigmatisierung in Russland mit der HIV-Krise in Verbindung?
In Moskau ist es natürlich kein Problem, sich auf HIV testen zu lassen und sich in Behandlungen zu begeben, sollte der Test positiv ausfallen. Auf dem Land und in anderen Städten aber ist das oftmals anders. Viele Leute haben einfach Angst, sich einem Arzt zu offenbaren. Sie fürchten, Gerüchte könnten die Runde machen, unter Verwandten oder am Arbeitsplatz. Also vermeiden sie HIV-Tests, gehen nicht in Behandlung.
Was bedeutet das aus epidemiologischer Sicht?
Vor allem zwei Dinge: Wer HIV-positiv ist und den eigenen Status nicht kennt, bekommt auch keine Behandlung. Also schreitet die Erkrankung fort. Dies kann zu Aids-Symptomen und letztendlich zum Tod führen. Und das obwohl man HIV an sich auch in Russland gut behandeln kann und man als HIV-Positive_r genauso lange leben kann wie jede andere Person.
Die zweite Folge ist, dass die Infektion weitergegeben werden kann. Menschen in Behandlung dagegen können, wenn ihre Viruslast unter der Nachweisgrenze ist, niemanden mehr infizieren. Deshalb sind HIV-Tests entscheidend, und deshalb ist es für HIV-Positive so wichtig, so bald wie möglich mit der Behandlung zu beginnen.
Mit dieser Gesundheitskrise sind noch weitere Menschenrechtsfragen verbunden, etwa, wenn es um die Kriminalisierung von Drogengebrauchenden geht.
In Russland drohen Drogengebrauchenden Festnahmen und sogar mehrjährige Gefängnisstrafen. Das führt dazu, dass es sehr schwer ist, diese Menschen zu erreichen. Sie sprechen manchmal nicht einmal mit den Mitarbeitenden von NGOs über ihre Situation. Es gibt in Russland auch keine staatlichen Programme zum Spritzentausch, und auch keine Substitutionstherapie.
Betroffene trauen dem Staat nicht, was dann den Erfolg von HIV-Präventionsprogrammen behindert?
Das passiert, ja. Gleichzeitig gibt es natürlich im ganzen Land viele Ärzt_innen, die sehr professionell arbeiten.
Als ich zuletzt ich im Land unterwegs war, habe ich mit vielen Aktivist_innen gesprochen und beeindruckende Initiativen kennengelernt, die es in zahlreichen Städten gibt. Die kümmern sich um die Menschen vor Ort und wollen deren Leben konkret verbessern, egal wie schwierig das ist und was die föderale Ebene in Russland will. Deshalb gehen sie mit ihrer Arbeit aber auch nicht an die breite Öffentlichkeit.
„Proteste, auch wenn sie neben der russischen Botschaft stattfinden, richten sich nicht nur an die Regierung, sondern ermutigen die Bevölkerung“
Gerade die föderale Ebene, also die russische Regierung, hat auch in Deutschland immer wieder Kritik aus der Zivilbevölkerung auf sich gezogen. Es gab beispielsweise eine Reihe von Protesten vor der russischen Botschaft – auch wenn diese letztlich anscheinend keinen großen Einfluss hatten.
Dennoch ist es gut, sich einzusetzen. Letztendlich richten sich diese Proteste, auch wenn sie neben der Botschaft stattfinden, nicht an die Regierung, sondern an die russische Zivilbevölkerung. Aktivist_innen spüren dadurch, dass sie Verbündete haben und dass sich Leute rund um die Welt für sie einsetzen. Dass sie nicht allein sind. Das ist der wichtigste Punkt. Ich denke nicht, dass sich die russische Regierung groß um diese Proteste schert. Aber für die Menschen in Russland sind sie wichtig.
Auf den Straßen, aber auch bei Treffen zwischen russischen und ausländischen zivilgesellschaftlichen Organisationen, manchmal auch auf Behörden- und Regierungsebene, wird über Menschenrechte gesprochen. Aber ist das Verständnis von Menschenrechten in Russland und Deutschland überhaupt dasselbe? Oder wird die Idee von Menschenrechten durch die russische Regierung als etwas Fremdes dargestellt?
Nein. Auch in den russischen Medien sprechen Vertreter_innen der russischen Regierung über Menschenrechte, gerade jetzt etwa mit Blick auf die Lage in den Vereinigten Staaten und den Protesten dort. Das russische Außenministerium hat die amerikanische Regierung in diesem Zusammenhang aufgefordert, die Menschenrechte stärker zu respektieren. Und in Russland selbst gibt es einige großartige Organisationen, die sich für die Menschenrechte einsetzen, von LGBTIQ+, Gefangenen, Drogengebraucher_innen oder den Opfern häuslicher Gewalt.
Noch mal mit einem anderen Beispiel gefragt: Wenn bei einem Protest vor der russischen Botschaft Regenbogenflaggen geschwenkt werden, und dies in russischen Mainstream-Medien gezeigt wird, hilft das dem Anliegen? Oder wird dieses Symbol vielleicht gegen die LGBTIQ+-Community verwendet, also ganz anders, als es geplant war?
Ich bin kein Medienexperte. Ich kann die Folgen deshalb nicht im Einzelnen benennen. Aber wenn du mich als Person fragst, würde ich sagen, dass diese Demonstrationen sehr wichtig sind, weil sie zeigen, dass die Menschen in Russland wenigstens ideelle Unterstützung haben. Die regierungsnahen Medien werden solche Proteste ohnehin ignorieren und stattdessen lieber noch ein Stück bringen, das Putin in einem guten Licht erscheinen lässt. Aber andere, liberale Medien werden versuchen, die Proteste zu zeigen.
Was können die Zivilgesellschaft hier in Deutschland und Organisationen wie die Deutsche Aidshilfe noch tun, um Aktivist_innen in Russland zu unterstützen? Was würdest du dir wünschen, als Person und Aktivist?
Wenn es ganz konkret um das Video geht, über das wir am Anfang gesprochen haben, denke ich, dass es am besten wäre, es komplett zu ignorieren. Es ist selbstverständlich schrecklich. Aber je mehr Aufmerksamkeit wir dem Video schenken, je mehr wir darüber reden, desto eher wird damit das Ziel erreicht, das es erreichen sollte.
Wenn es darum geht, was Organisationen machen können, dann können sie auf jeden Fall andere NGOs in Russland unterstützen, die sich vor Ort für Menschenrechte einsetzen. Manchmal benötigen diese finanzielle, manchmal technische Unterstützung, oder Informationen. Vielleicht kann man voneinander lernen.
Ich persönlich bin ein großer Freund des Voneinander-Lernens. Und wenn Mitarbeitende zusätzliche Kenntnisse erwerben, die ihnen bei der Arbeit helfen, wenn man Best-Practices teilen kann, dann sind das auch Formen der Unterstützung dieser Organisationen und der Menschen in Russland.
Vielen Dank für dieses interessante Gespräch!
Nikolay Lunchenkov, 26, ist ein LGBTIQ+-Aktivist und Arzt für Infektionskrankheiten aus Moskau. Beim dortigen Aids-Center, einer Stiftung, leitete er unter anderem ein Kooperationsprojekt mit UNAIDS. Als unabhängiger Berater unterstützte er den Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen bei der Entwicklung eines Präventionsprogramms für Männer mit hohem HIV-Risiko im Iran. Heute studiert Lunchenkov an der TU München Gesundheitswissenschaften und arbeitet phasenweise weiterhin als Arzt in der Moskauer H-Clinic.
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