HIV-Prävention in Russland

„Wenn der Staat uns nicht stört, ist das die größte Hilfe“

Von Kriss Rudolph
HIV-Prävention in Russland
Die HIV-Epidemie hat sich in Osteuropa und Zentralasien in den letzten Jahren dramatisch zugespitzt. Vladimir Averin (40) aus Sibirien kämpft seit 18 Jahren dagegen an – und gegen die staatliche Vernachlässigung und Behinderung der HIV-Prävention in Russland. Sein Schwerpunkt: Männer, die Sex mit Männern haben. Averin ist Verwaltungsdirektor des Zentrums „Sibalt“ in Omsk mit 12 Mitarbeitern.

Vladimir, wie arbeitet „Sibalt“?

Es ist ein Community-Zentrum, eins der größten dieser Art in ganz Russland. Unsere Projekte haben eigene Namen: „Pulsar“ zum Beispiel richtet sich an die LGBTI-Community. Wir gehen in die schwulen Clubs in Omsk und verteilen Kondome und Gleitmittel. Auch HIV-Schnelltests kann man dort machen. Dann haben wir ein Projekt für Menschen mit HIV und bieten Fortbildungen für Sozialpädagogen an. Wir haben im Jahr 250–300 Veranstaltungen und beraten etwa 1.400 Klienten im Jahr. Hauptsächlich junge Leute zwischen 20 und 30, ab und zu auch Leute über 60.

Unser Service ist komplex: HIV-Prävention und Beratung bei Fragen sexueller Gesundheit, aber auch soziale und psychologische Unterstützung, sozusagen Case-Management. Wir versuchen, in jeder Lebenslage zu helfen. Entweder bei uns im Zentrum oder online oder über unsere Hotline.

Staatlicher Gegenwind statt Unterstützung

Wie sehr schränkt das seit 2013 landesweit geltende Gesetz gegen „Homopropaganda“ eure Arbeit ein?

Es hat eine sehr ernste Wirkung: Wir dürfen unsere Hilfe niemandem unter 18 anbieten. Viele haben ihr Coming-out, bevor sie 18 werden, und oft quälen sie suizidale Gedanken. Die können in ihrem näheren Umfeld auch keine Unterstützung finden. Hilfe für diese Personengruppe fehlt. Was die Arbeit unserer Organisation aber noch mehr betrifft, ist das Gesetz gegen „ausländische Agenten“ – weil wir als NGO von den Spenden ausländischer Geldgeber leben.

Keine Hilfe für Schwule unter 18

Was bedeutet das in der Praxis?

Wir stehen unter besonderer Beobachtung der Behörden und der Staatsanwaltschaft, denen wir ständig Rechenschaft schuldig sind. Als ausländischer Agent bekommt man eine andere Steuerklasse und muss eine andere Buchhaltung führen. Viele Vereine sind gar nicht in der Lage, das zu machen, und mussten deshalb ihre Arbeit einstellen. Wir hatten schon einen Konflikt mit den Behörden wegen einer Broschüre, mit der wir über Menschenrechte für MSM in Russland berichteten. Dass es da Probleme gibt. Das war ganz vage formuliert. Aber man hat uns vorgeworfen, dass wir uns politisch betätigen. Die Behörden suchen immer nach einem Grund.

Wie sähe eure Arbeit ohne die Gelder aus dem Ausland aus?

Ohne könnten wir nicht existieren, denn aus Russland bekommen wir gar kein Geld. Nie, auch vor diesem Gesetz nicht.

HIV-Prävention in Russland: Moral statt Kondome?

Seit Jahren steigen die HIV-Neuinfektionen in Russland. Experten warnen vor einer Katastrophe. Warum tut man in Russland nichts dagegen?

Schwer zu sagen, das Land ist sehr groß. Hilfsangebote für Menschen mit HIV gibt es eigentlich nur in Ballungszentren, in Großstädten. Es gibt aber noch mehr Gründe. Sexuelle Aufklärung in der Schule ist verboten. Und vonseiten der Gesundheitspolitiker werden Kondome oder Safer Sex nicht thematisiert. Lieber wirbt man für eine moralische Lebensweise. Treue sei das beste Schutzmittel gegen HIV, heißt es in Russland. Das hat mit der Realität leider gar nichts zu tun.

Treue als bestes Schutzmittel gegen HIV?

Wer ist am häufigsten von HIV betroffen?

Traditionell haben sich vor allem Drogenkonsumenten infiziert. Als die Aids-Krise losging, haben sich in Russland viele Hilfsorganisationen gegründet, um Prävention für die schwule Community zu machen. Das hatte Erfolg, auch weil schwule Männer zu Anfang nicht so stark betroffen waren. Dadurch konnte die Epidemie etwas gebremst werden. Die Zahlen steigen aber jetzt jedes Jahr. Das liegt auch am veränderten Umgang mit der Krankheit. Sie führt nicht mehr zum Tod, sondern gilt als behandelbare chronische Krankheit. Schwule Männer nehmen sie nicht mehr ernst und haben unsafen Sex.

Offizielle Statistiken sind nicht realistisch

Wie gehen die Medien mit dem Thema HIV und den steigenden Infektionszahlen um?

Man sucht ja immer einen Sündenbock. Mal sind Drogenkonsumenten schuld, mal sind es Schwule: Aids sei die Strafe für ihre Homosexualität. Die Statistik zeigt, dass Drogenabhängige stärker betroffen sind. Schätzungsweise hat in den Großstädten jeder zehnte Schwule HIV; bei den Drogenkonsumenten, die intravenös konsumieren, sogar 40 bis 50 Prozent. Es gibt allerdings hohe Dunkelziffern. Die offiziellen Zahlen kommen von den HIV-Zentren, die eigens für HIV-Patienten gegründet wurden. Diese Zahlen sind aber nicht realistisch. Wer dort hingeht, muss einen Fragebogen ausfüllen und seine sexuelle Orientierung offenbaren. Kaum jemand gibt die Wahrheit an. Deshalb kann man die offizielle Statistik vergessen.

„Man sucht immer einen Sündenbock“

Wie gut sind die Testmöglichkeiten in Russland?

Das variiert von Region zu Region. Bei uns ist es sehr einfach. Wir bieten verschiedene Tests an oder begleiten die Leute ins HIV-Zentrum zum Test. Aus Angst vor Diskriminierung lassen sich aber viele nicht testen. In vielen Regionen gibt es keine Einrichtung, die so was vorurteilsfrei anbietet. Der Haken ist auch: Es ist zwar vorgeschrieben, den Test anonym anzubieten. Die Ärzte verschweigen das aber oft und nehmen die Personalien der Leute auf. Das ist ein Problem: Ich kenne viele Fälle von Arbeitgebern, die HIV-Positive ablehnen. Medizinisches Personal muss für die Einstellung ein Gesundheitszeugnis vorlegen. In anderen Branchen ist das nicht vorgeschrieben, da machen es Arbeitgeber dann willkürlich.

Zum Teil unzureichende Versorgung

Gibt es für alle einen Zugang zur antiretroviralen Therapie?

Das hängt von der Region ab und davon, wie stark die Vorbehalte gegenüber Schwulen in den Kliniken sind. Eigentlich hat jeder Anspruch auf die Therapie, aber sie ist nicht auf dem aktuellsten Stand. Die Menschen müssen eine ganze Handvoll Tabletten nehmen, das ist der Tablettencocktail, den man in Deutschland noch vor 10 Jahren genommen hat. Es sind oft Generika, die nicht die volle Wirkung haben, sondern nur fast wie das Original. Und dieses „fast“ reicht für viele Patienten nicht.

Ein Grund, warum die HIV-Infektionen in den USA oder Großbritannien zurückgehen, ist die PrEP. Ist das in Russland ein Thema?

Nein, die PrEP gibt es hier nicht. Wir sehen zwar, dass das Interesse sehr groß ist und immer mehr Leute in der Community davon erfahren. Aber Ärzte wissen darüber in der Regel nicht Bescheid, nicht über die PrEP und nicht über die PEP [die Post-Expositions-Prophylaxe verhindert mit hoher Wahrscheinlichkeit eine HIVInfektion nach einem Risikokontakt]. Aber das wird in nächster Zukunft ein Thema für uns.

Viele Ärzte wissen nichts über die PrEP und die PEP

Sprecht ihr mit Medien, um breitere Schichten zu erreichen?

Wir haben es in der Vergangenheit versucht, aber alles, was wir sagen, wird immer so verdreht, dass wichtige Teil ausgelassen und manipuliert werden, sodass am Ende das Gegenteil herauskommt. Daher verzichten wir darauf. Die Medien suchen Details, die skandalträchtig sind. Objektive Informationen interessieren sie nicht.

Der Bedarf an Prävention ist riesig

Die Zahlen steigen weiter. Was muss deiner Meinung nach passieren?

Wir brauchen mehr Ressourcen. Mehr Aktivitäten. Für die nächste Zukunft können wir keine Erfolge erwarten, weil nichts investiert wird. In Moskau gibt es ein einziges Präventionsprojekt. Dort leben mindestens 100.000 MSM, von dem Projekt werden aber nur 2.000 Männer erreicht. Die Prävention ist so minimal, dass man da keine Erfolge erwarten kann. Dafür braucht man Kontinuität, man muss nachhaltig arbeiten. Da hängt in Russland alles am seidenen Faden, es ist alles unsicher. Viele Vereine wissen nicht, ob sie morgen überhaupt noch existieren. In anderen Ländern gibt es die Forderung, der Staat müsste die NGOs mehr unterstützen. Bei uns ist es schon ein großer Erfolg, wenn er sich nicht einmischt. Wenn der Staat uns nicht stört, ist das für uns die größte Hilfe.

„Die Prävention ist minimal“

Wie viele andere Organisationen in Russland wenden sich speziell an die LGBTI-Community?

Wir sind insgesamt fünf Vereine, die sich an MSM richten und Prävention rund um HIV und andere Geschlechtskrankheiten machen. Die verteilen sich auf fünf Regionen, unter anderem Moskau und Petersburg. Aber es gibt insgesamt 83 Regionen. In Nowosibirsk, der größten Stadt Sibiriens, gibt es zum Beispiel überhaupt nichts. alle diese Vereine werden aus dem Ausland finanziert, aber immer nur kurzfristig. Und Ende 2017 läuft deren Finanzierung aus. Das ist eine Katastrophe.

Ihr seid mit „Sibalt“ aber gut aufgestellt?

Wir haben es so organisiert, dass wir mehrere Geldgeber haben, und existieren seit 2000. Nicht mal in Moskau gibt es so was. Es geht natürlich immer noch besser, aber wir sind gut aufgestellt. Über die Jahre haben wir ein System entwickelt, um zu überleben. Wir bewerben uns auf jede Ausschreibung. Es kommen sogar manchmal auch Geldgeber von sich aus auf uns zu, um uns eine Veranstaltung zu finanzieren.

Was plant ihr für die Zukunft?

Die HIV-Prävention ist ja kein isolierter Bereich, es gibt viele soziale Themen. In Zukunft wollen wir ein Projekt für ältere Männer starten, dafür benötigen wir Gelder. Oder für die Opfer homophober Gewalt oder für die Eltern homosexueller Kinder. Das Arbeitsfeld ist sehr groß … (lacht)

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