„Ich frage mich, ob das alles ‚echt’ war“
Wenn ich in Minsk bin, verspüre ich als ehemaliger Bürger Rumäniens unter Ceaușescu fast so etwas wie Enttäuschung, dass das autoritäre belarussische Regime – „die letzte Diktatur Europas“ – gar nicht sichtbar ist. Aufgeräumtes Stadtbild, perfekte, breite Straßen, gründlich renovierte, nachts gekonnt beleuchtete stalinistische Klassikarchitektur, kaum sichtbare Polizeipräsenz, kein Bild des Präsidenten, kein protziger Reichtum, aber auch keine Not bei den extrem zurückhaltenden, aber weder depressiv noch ängstlich wirkenden Menschen. Viele Baustellen, solide Wohnsilos für die wachsende Stadt und neue Metro-Stationen, dazwischen akkurat geschorener Rasen, viel Grün und alles derart ordentlich und vornehm, dass es fast skandinavisch wirkt.
„Wir Belarussen hassen doch niemanden“
Auf dem zentralen Platz dominiert wie eh und je Lenins Denkmal. „Wir Belarussen möchten unsere Geschichte nicht korrigieren, wir stehen dazu“, sagt der freundliche Taxifahrer. Die einzigen patriotischen Sprüche beschränken sich auf „We love Belarus“-Plakate mit ökologisch anmutenden Herzchen in der Mitte. Die beiden Attentäter vom Bombenanschlag in der U-Bahn am 11. April 2011 sind gefasst und zum Tode verurteilt. „Es gab 15 Tote und 300 Verletzte“, so mein Chauffeur.
Es herrscht Frieden im Land. Der Taxifahrer ist froh, dass die Regierung jetzt im Winter wieder bis zu 89 Prozent der Wohnnebenkosten übernimmt, dass für alle benachteiligten Kinder ein Studienplatz garantiert ist und dass es keinen wilden Kapitalismus wie in den Nachbarländern gibt. Er weiß aber auch genau, wo es einen schwulen Club gibt und wie im Sommer der „Slavic Pride“ abgelaufen ist: „Kurz, aber viel friedlicher als bei den Russen. Wir Belarussen hassen doch niemanden“. Was er nicht weiß, ist, dass der berühmte Modemacher Sascha Varlamov kurz nach seinem öffentlichen Selbstouting als Schwuler wegen „Veruntreuung öffentlicher Gelder“ (falsch abgerechnete Dienstreise-Tagegelder) festgenommen wurde und in Haft einen Selbsttötungsversuch unternahm.
Als ich dem Fahrer sage, dass ich hier bin, um den belarussischen Entscheidungsträgern Argumente zu liefern, weshalb man straffälligen Drogenabhängigen besser eine Therapie anbietet, statt sie ins Gefängnis zu stecken, ist er sichtlich enttäuscht („Ich dachte, Sie bringen etwas Vernünftiges aus Deutschland!“) und fährt mich wortlos zum fast am Stadtrand gelegenen Tagungszentrum „Johannes Rau“ bei der deutschen Botschaftin Minsk.
Die Haltung gegenüber Drogen gebrauchenden Menschen ist noch etwas streng
Dort findet am nächsten Tag ein Nationaler Runder Tisch zu „Therapie statt Strafe“ statt. Initiiert wurde er von unserer belarussischen Partnerorganisation „Mütter gegen Drogen“. Diese seit mehr als zehn Jahren tätige NGO, die heute mehr ehemalige Drogengebraucher als Mütter in ihren Reihen hat, hatte auch die Gesetzesveränderung angestoßen. Vertreter der Organisation waren 2010 bereits zweimal auf unsere Einladung in Deutschland, haben Einrichtungen der Drogenhilfe und -therapie in Nordrhein-Westfalen und Berlin besucht und ließen sich im letzten Sommer von Experten der Deutschen AIDS-Hilfe und von Vista in Minsk zu Drogenberatern ausbilden. Finanziert wird all das vom Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria.
Die Haltung der belarussischen Kollegen gegenüber Drogen gebrauchenden Menschen ist noch etwas streng. Das Gefängnis möchten sie ihnen jedoch ersparen, auch weil sie überzeugt sind, dass eine vom Gericht auferlegte Therapie große Chancen bietet. Dabei hoffen sie auch, dass es mit der Qualität und dem Ausbau der Therapieangebote im Land vorangeht: Bisher nämlich dürften NGOs keine Therapie anbieten, und über medikamentös unterstützten Drogenentzug und etwas Psychotherapie hinaus es gibt noch nicht viel.
Ich stelle überrascht fest, dass die Gesetzesveränderung von allen begrüßt wird
Mit am Runden Tisch sitzen Delegierte aller relevanten Behörden und Strukturen (Gesundheit-, Justiz-, Bildung- und Innenministerium), einige interessierte Parlamentarier, Vertreter der Zivilgesellschaft und von NGOs im Bereich Drogenhilfe sowie etwas Presse. Bloß aus dem Präsidialamt ist niemand erschienen, und es liegt vor dort auch keine schriftliche Stellungsnahme vor.
Nachdem die Ministerien und NGOs ihre Sichtweise präsentiert haben, stelle ich überrascht fest, dass die Gesetzesveränderung von allen begrüßt wird. Im Vorlauf hatte es eine erste positive Lesung im Parlament gegeben, dann folgte ein Pilotprojekt zu „Therapie statt Strafe“, das von unserer Partnerorganisation koordiniert und zusammen mit dem Justizministerium und mit örtlichen Gerichten aus vier Regionen – Pinsk, Svetlogorsk, später auch Zhlobin und Grodno – durchgeführt wurde. Außerdem gibt es bereits mehrere Gerichtsurteile, die eine Therapie vorsehen, sobald das Gesetz vom Parlament endgültig beschlossen ist.
Ich darf anschließend die Situation von „Therapie statt Strafe“ in Deutschland und anderen Ländern erläutern und nutze die Zeit, um – unter anderem am Beispiel Portugals – die Vorteile der Entkriminalisierung des Drogenkonsums darzulegen. Eine rege Diskussion kommt in Gang, in der sich zeigt, dass die „Mütter gegen Drogen“ und wohl auch der führende Drogenarzt der Republik, der weltoffene Oleg Eisberg, der in Deutschland studiert und promoviert hat, enorme Vorarbeit geleistet haben.
Unstimmigkeiten gibt es nur, als man auf die Erfolgsquoten im Pilotprojekt zu sprechen kommt, die einige in der Runde als recht niedrig empfinden. Ich versuche deutlich zu machen, dass die Zahl derer, die ihr Drogenproblem in den Griff bekommen, durch die Substitutionsbehandlung erheblich ansteigen kann. Weil diese Therapieform in Belarus erlaubt und zugänglich ist, bin ich dann doch etwas erstaunt, dass sie für die anwesenden Mediziner keine ernstzunehmende Option darstellt – sie bewirke ja nur „eine andere Form von Abhängigkeit“.
Ich frage mich, ob das alles „echt“ war
Die Runde entscheidet sich für den Aufbau eines Netzes von Therapiezentren, und einige Anwesende beteuern auch gleich ihr großes Interesse an den neuen Patienten. Man beschließt eine Ausschreibung, um geeignete Therapiezentren zu identifizieren und ihre Qualität vor Inkrafttreten des Gesetzes zu verbessern. Dabei ist die Unterstützung von Experten aus Deutschland erwünscht, und wir haben bereits Potenziale und viel Bereitschaft für ein solches Engagement ausgemacht. Zuletzt wird beschlossen, Zeitungen mit nationaler Reichweite über die gesetzliche Neuerung zu informieren, auf dass sie die breite Öffentlichkeit darauf einschwören.
Und dann verschwinden alle leise im belarussischen Nebel. Ich bleibe im Gästehaus der deutschen Botschaft zurück und frage mich, ob das alles „echt“ war und das Gesetz tatsächlich wie vorgesehen in Kraft treten wird. Dass eine so tiefgreifende strukturelle Veränderung ohne erbitterten Widerstand Wirklichkeit werden soll, ist fast unvorstellbar. Aber die Belarussen hassen ja niemanden, sind also ein friedliebendes Volk. Und Minsk ist nur 1.000 Kilometer von Berlin entfernt…
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2 Kommentare
Roman 5. Dezember 2011 2:49
Es ist absolut richtig, so nah wie möglich an unsere Grenzen für Menschenrechte und Demokratie zu werben! In der Vorstellung meister von uns, ist Belarus weiter als China! Macht doch noch etwas Sinnvolles auch in Russland, in der Ukraine, in Serbien – das sind unsere Nachbarn!
postagebuch - ein positives tagebuch 30. Dezember 2011 3:42
Vielen Dank für den Bericht über Belarus und die dortigen Verhältnisse.
Es ist gut zu wissen, dass sich auch Deutsche dort engagieren.