Leben mit HIV

Empowerment von Frauen mit HIV in Osteuropa

Von Gastbeitrag
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Vom 22. bis zum 24. November 2019 fand in Minsk die von der Deutschen Aidshilfe organisierte Konferenz Empowerment von Frauen mit HIV in Osteuropa statt. Die Atmosphäre war sehr vertraulich: Manche Frauen teilten ihre persönlichen Erfahrungen, andere weinten. AIDS.CENTER-Korrespondentin Alexandra Savinich berichtet von den spannendsten Diskussionen und Vorträgen und erklärt, was Geschlechterdiskriminierung mit HIV zu tun hat.*

„Meine Erfahrung zeigt, dass auf Konferenzen oft Männer das erste Wort haben, selbst wenn das Thema Frauen direkt betrifft“, so die Organisatorin Sascha Gurinova. „Und Frauen, die mit HIV leben, haben selten die Möglichkeit, offen über ihre Probleme und Erfolge zu sprechen.“ Daher wurde die Konferenz zu einem Ort, an dem Frauen mit Frauen sprechen konnten, ohne Verurteilung und Kritik befürchten zu müssen. „Und wo keine Quotenfrauen auf die Bühne eingeladen werden, um zumindest den Anschein von Gleichberechtigung der Geschlechter zu erwecken“, fügt sie hinzu.

Geschlechterungleichheit ist nach Ansicht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine der Hauptursachen der HIV-Epidemie. Sie führt dazu, dass HIV-positive Frauen verwundbarer sind und Vorurteile entstehen, zum Beispiel, dass Frauen mit HIV Drogen nehmen oder promisk leben.

Gewalt gegen Frauen mit HIV kommt häufig vor

Hinzu kommt ein weiteres Muster: Diese Frauen werden häufig Opfer körperlicher und/oder sexueller Gewalt, und viele Menschen denken, dass sie keine guten Mütter und Ehefrauen sein könnten.

„Mehr als die Hälfte der von uns befragten Frauen hat unmittelbar nach der HIV-Diagnose Gewalt erlebt“, betont Alexander Dawidenko, Programmdirektor beim Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen in Weißrussland.

Die Statistik zur Gewalt gegen HIV-positive Frauen bestätigt sich aktuell in der Ukraine: In diesem Jahr startete die Stiftung ПОЗИТИВНІ ЖІНКИ („Positivnye Schenschtschiny“, positive Frauen) ein Monitoring-Projekt und befragte 1000 Frauen, um herauszufinden, wie sich die Diagnose auf ihr Leben ausgewirkt hat.

Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen, aber aus den bisher ausgewerteten 940 Fragebögen ergibt sich eine direkte Verbindung: Bei jeder dritten Befragten (33 %) setzte direkt nach der HIV-Diagnose körperliche, psychologische und sexuelle Gewalt ein.

„Frauen mit HIV haben selten die Möglichkeit, offen über ihre Probleme und Erfolge zu sprechen“

Die körperliche Gewalt gegenüber diesen Frauen nahm unterschiedliche Formen an: Ohrfeigen (ca. 50 %), Ziehen an den Haaren (49 %), Stöße und Faustschläge (83 %), Würgen (33 %), Verbrennungen (4,2 %), Morddrohungen (0,4 %).

Begleitet wurden alle diese Formen von Gewalt von Erniedrigungen. In meinen Gesprächen mit ihnen erinnerten sich die Frauen an den Wortlaut der Sätze, die sie von ihren Partnern zu hören bekamen, während sie geschlagen, gewürgt oder gestoßen wurden. Praktisch jeder Satz ist Ausdruck eines tiefen Hasses, der erst infolge der Diagnose der Frau zum Vorschein kam. „Lieber bringe ich dich um, als dass du an HIV verreckst“ – so äußerte sich der Partner einer befragten Frau.

Andererseits sehen manche Frauen ihre Diagnose auch selbst als Bestrafung an. Fast jede dritte hat sich wegen der HIV-Infektion keine Hilfe gesucht, und jede zweite hat sich aus Angst vor Offenlegung ihres HIV-Status und öffentlicher Verurteilung entschieden, die Gewalt zu erdulden. Besonders alarmierend: Osteuropa und Zentralasien gehören heute zu den wenigen Regionen, in denen die Zahl der Menschen mit HIV nach wie vor steigt.

HIV ist kein Verbrechen

Warum aber gibt es diesen Hass auf HIV-positive Menschen, woraus entsteht er und wie lässt er sich bekämpfen? Diese Fragen waren in jeder Diskussion und jedem Workshop Thema. Denn in Wirklichkeit ist es das Stigma oder, wie Alexandra Wolgina vom Globalen Netzwerk der Menschen mit HIV (GNP+) mit Sitz in den Niederlanden es nennt, der „Glaube“ [Anm. d. Red.: im Sinne einer Religion, aber auch einer Ideologie oder gesellschaftlichen Moral], der die Menschen daran hindert, sich gegenseitig zu akzeptieren.

Der Hass auf Menschen mit HIV ist tief verwurzelt

Auch heute noch gelte jeder Mensch, der mit HIV lebt, [in Russland und Weißrussland] als potenzieller Verbrecher. „Wenn Sie die Diagnose HIV erhalten, müssen Sie ein Dokument unterschreiben, demzufolge Sie strafrechtlich verfolgt werden können, wenn Sie andere in Gefahr bringen“, erklärt sie.

Sex mit dem Ehemann haben, das eigene Kind stillen – all das könne als mutwillige Herbeiführung eines Infektionsrisikos angesehen werden. Dies gelte selbst für Menschen, bei denen das Virus im Blut nicht nachweisbar ist, wodurch HIV sexuell nicht mehr übertragbar ist.

„Dieser Hass ist tief verwurzelt: Vor 20 Jahren gab es schließlich noch keine Therapie, HIV galt als tödliche Krankheit und wurde als ‚Seuche‘ bezeichnet“, erklärt Wolgina. „Wo aber Angst und Diskriminierung vorherrschen, spiegelt sich der Hass auch im Handeln wider: Menschen mit HIV werden Arbeitsplätze verweigert, sie dürfen keine Kinder adoptieren… Eigentlich kannst du mit HIV keine Familie, keine Kinder und keine Arbeit haben. Im Prinzip hast du gar kein Recht, zu leben. Diese Kriminalisierung ist jedoch die rechtswidrige Anwendung des Strafrechts auf Menschen mit HIV einzig und allein auf Basis ihres Status. Und all das basiert auf der Situation von vor zwanzig Jahren – als es eben noch keine Therapie gab.“

Und was hat das alles mit Frauen zu tun? Ganz einfach: Sie sind verwundbarer, und wenn sie obendrein drogenabhängig sind oder der Sexarbeit nachgehen, werden sie umso häufiger strafrechtlich verfolgt, erklärt Wolgina.

Zwar wird für solche Bestimmungen zur HIV-Übertragung (§ 157 des Strafgesetzbuchs der Republik Weißrussland oder § 122 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation) immer angeführt, sie dienten dem Schutz von Frauen. In der Praxis führt die Kriminalisierung jedoch zu noch mehr Stigmatisierung und Diskriminierung.

Warum die HIV-Kriminalisierung nicht funktioniert

„Man sagt uns, dass Menschen, die eine HIV-Infektion weitergeben, um anderen Schaden zuzufügen, dafür bestraft werden müssen“, so Wolgina. „Die Fakten sprechen jedoch eine andere Sprache: Die meisten Übertragungen passieren zu einem Zeitpunkt, an dem die Person ihren HIV-Status noch gar nicht kennt. Wenn aber die Betroffenen selbst nichts von ihrem Status wissen, wovor sollen sie dann andere warnen können?“

Die strafrechtliche Verfolgung stoppt HIV-Übertragungen und die Epidemie nicht, sondern verschlimmert die Situation. Es entsteht ein falsches Gefühl von Sicherheit, wenn die gesamte Verantwortung an der HIV-positiven Person hängen bleibt: Sie „muss warnen“, „muss es sagen“, „muss Kondome kaufen“.

HIV-Kriminalisierung schafft ein falsches Gefühl von Sicherheit

Deshalb machen sich die Menschen keine Gedanken mehr über ihre Gesundheit oder über Safer Sex. Und der „beste“ Weg, sich vor strafrechtlicher Verfolgung zu schützen, ist Unwissen. Die Menschen haben Angst, sich testen zu lassen, deshalb werden sie nicht behandelt – und HIV wird weitergegeben.

Als die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs zur HIV-Übertragung vor einigen Jahrzehnten ausgearbeitet wurden, ging der Gesetzgeber davon aus, dass HIV eine tödliche und unheilbare Erkrankung sei. Aber die Welt hat sich verändert. Bereits seit 1996 gibt es eine effektive Therapie, mittlerweile gibt es zudem eine Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP) und eine Post-Expositions-Prophylaxe (PEP). Alles hat sich geändert, nur die veralteten Gesetze nicht. „Ich bin der Meinung, dass eine strafrechtliche Verfolgung nicht gerechtfertigt ist, wenn kein Ansteckungsrisiko bestand: bei einer Viruslast unter der Nachweisgrenze (n = n), bei Küssen, Speichelkontakt, Bissen, oralem Kontakt, wenn ein Kondom benutzt wurde oder wenn eine Prä-Expositions-Prophylaxe gemacht wird“, so Wolgina. „Dies gilt auch für Fälle, in denen die Betroffenen nicht mit böser Absicht gehandelt haben, zum Beispiel, weil sie nichts von ihrer HIV-Infektion wussten, nicht über die Übertragungswege informiert waren, ihre HIV-Infektion aus Angst vor Gewalt verschwiegen oder Maßnahmen getroffen haben, um das Risiko zu mindern.“

Die Community kämpfe seit langer Zeit dafür, den Kriminalisierungsparagraphen aus dem weißrussischen Strafgesetzbuch zu streichen. Und die Aktivist_innen fänden es „zutiefst beleidigend“, dass er lediglich mit einer Fußnote versehen wurde, wonach bei Offenlegung des HIV-Status und freiwilliger Einwilligung von strafrechtlicher Verfolgung abgesehen werden soll. „Aber eine Fußnote löst das Problem nicht, damit haben wir nur einer kleinen Gruppe HIV-positiver Menschen geholfen. Und es bleiben immer noch Menschen übrig, die rechtswidrig im Gefängnis sitzen.“

„B20“ oder das Mädchen ohne Namen

Marina (so möchte sie genannt werden) lebt bereits seit sieben Jahren mit HIV. Die junge Frau ist zur Konferenz gekommen, um ihre Geschichte und ihre persönlichen Erfahrungen mit Schwangerschaft und Geburt zu teilen. Sie ist Aktivistin und Bürgerrechtlerin. Dennoch bittet sie darum, nicht fotografiert zu werden. In ihrer Heimatstadt weiß niemand, dass sie HIV-positiv ist.

„Vor ein paar Jahren wurde ich schwanger und bekam meinen Zweitnamen ‚B20‘“, erzählt Marina. „So haben sie mich getauft, als ich in die Entbindungsklinik kam. Und bis zu meiner Entlassung habe ich meinen eigenen Namen eigentlich nie gehört, nur ‚B20‘ – den Diagnosecode für HIV aus der Internationalen Klassifikation der Krankheiten.“

Die Diskriminierung wegen ihres HIV-Status hatte jedoch schon früher begonnen – als sie sich entschied, in einem privaten Zentrum zu entbinden. Dort bekam zu hören, man könne sie nicht aufnehmen, es seien keine Plätze frei. „Dann bat ich darum, zu einem anderen Arzt überwiesen zu werden“, erzählt sie weiter. „Die Krankenschwester und der Arzt gingen verschiedene Varianten durch, und ich konnte ihr Gespräch zufällig mithören: ‚Die nehmen sie nicht, die auch nicht, die sagen nein.‘ Sie haben nicht direkt gesagt, dass mein Status der Grund ist, sie haben mich einfach nur abgelehnt, angeblich eben aus Platzmangel.“

Abgelehnt in der Entbindungsklinik – angeblich aus Platzmangel

Marina ging dann in eine normale Entbindungsklinik. Sie sagt, sie sei die ideale Patientin gewesen: alle Laborwerte dabei, schon seit einigen Jahren Einnahme von HIV-Medikamenten, nicht nachweisbare Viruslast. In der staatlichen Klinik bekam sie jedoch zu hören: „Na ja, ich weiß nicht, es ist schon eine Problemschwangerschaft.“ Auf die Frage, was denn das Problem sei, wollte ihr aber niemand antworten.

Schlussendlich wurde sie aber doch aufgenommen und auf eine neue Therapie umgestellt. Alles lief gut, bis die Wehen einsetzten und sie in den Kreißsaal gebracht wurde. Das Erste, was sie dort zu hören bekam, war: „B20 ist da.“

„Vielleicht wollten die Ärzte sogar normal mit mir umgehen, aber sie haben es nicht geschafft. Nach der Geburt haben mich mehrmals Ärzte im Gang angesprochen und gefragt, wie ich mich nach einem Kaiserschnitt so schnell erholen konnte“, erinnert sie sich. „Und dann musste ich jedes Mal erklären, dass eine vaginale Geburt auch mit HIV möglich ist – das ist mein gutes Recht.

Am allerletzten Tag verlor ich schließlich die Geduld: Als ich durch den Gang lief, hörte ich, wie eine Krankenschwester am Telefon von mir erzählte. ‚B20‘ – also ich – sei zu ihnen ins Krankenhaus gekommen und befinde sich jetzt auf dieser Station. Offensichtlich war sie schockiert von mir und meiner Entbindung. Auf die Frage, warum sie meinen Status öffentlich mache, antwortete die Krankenschwester nicht: Sie legte auf und fing an, sich zu entschuldigen. Sie versuchte, sich herauszureden, aber ich habe ihr klar zu verstehen gegeben, dass ich das nicht einfach so hinnehme. Ich wollte einfach nicht, dass andere Frauen das durchmachen müssen, was ich durchgemacht habe. Ich wollte, dass andere Frauen mit ihrem Namen angesprochen werden und nicht als ‚B20‘, so wie ich.“

Freiwillige, anonyme und kostenlose Untersuchungen auf HIV helfen

Laut Statistiken steigt die Anzahl der Frauen mit HIV, erklärt Jelena Kasnatschejewa, Infektionsärztin am Städtischen Krankenhaus in Gomel, der zweitgrößten Stadt Weißrusslands. Sie hat analysiert, wie sich die Situation dort in den letzten zehn Jahren verändert hat: „Insgesamt ist die Oblast Gomel die Region mit den meisten HIV-Infizierten in Weißrussland. Hier leben 38 % der Menschen mit HIV in diesem Land. Interessant ist aber etwas anderes: Während im Jahr 2009 die meisten HIV-Übertragungen intravenös erfolgten – 53,2 Prozent –, findet der Löwenanteil der Ansteckungen im Jahr 2019 auf sexuellem Weg statt – 93 Prozent.“

Auch die Altersgruppen haben sich geändert: 2009 bestand die Gruppe der Menschen mit HIV hauptsächlich aus jungen Menschen zwischen 20 und 24 Jahren (31 %) sowie Personen zwischen 25 und 29 Jahren (25,5 %). Heute handelt es sich überwiegend um Männer und Frauen über 40 (57,3 %). Dabei ist der Anteil der Männer mit HIV innerhalb von zehn Jahren um 3,5 % gesunken, während der Anteil der betroffenen Frauen dementsprechend gestiegen ist.

Positive HIV-Tests bedeuten auch, dass Menschen mit HIV eine Therapie beginnen können

Laut Kasnatschejewa war die Oblast Gomel im Jahr 2013 die erste, die ein Screening auf HIV einführte – als anonyme, kostenfreie und freiwillige Maßnahme bei jeder medizinischen Erstversorgung und jeder ärztlichen Untersuchung. Dabei glaubten die Behörden lange nicht, dass ein Bedarf für eine solche Lösung besteht. Dennoch hat die Initiative Früchte getragen: Dank des Screenings wurde im Jahr 2017 bei 327 von 805 Personen HIV diagnostiziert, 2018 bei 460 von 814 getesteten Personen und in den ersten neun Monaten des Jahres 2019 bei 247 Personen von 418.

„Natürlich waren die Behörden in den ersten Jahren unzufrieden, die Zahlen waren schließlich erschreckend“, so die Infektionsärztin. „Aber wir erklären jedes Mal: Das ist eine positive Dynamik, denn das bedeutet, dass wir mehr Menschen helfen können, sodass sie eine Therapie beginnen und zugleich das HIV-Verbreitungsrisiko sinkt. Besonders erfreulich sind die jüngsten Statistiken aus dem Frauengefängnis Nummer 4 in Gomel: Erst gestern bekam ich einen Anruf und erfuhr, dass die Therapieakzeptanz dort 86 % beträgt.“

HIV in der Schwangerschaft

Oft erfahren Frauen erst bei Untersuchungen im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft von ihrer HIV-Infektion. Und sofort kommt die Frage auf: Was soll ich tun? Durch das Stigma und die Angst ist eine solche Diagnose immer schwer zu akzeptieren, aber während der Schwangerschaft ist es noch viel schlimmer. Die Frau denkt an ihr ungeborenes Kind: Wie reagiert es auf die Therapie, kommt es gesund auf die Welt, wie soll ich es am besten füttern, was, wenn es auch HIV hat? Manchmal endet das damit, dass die Frau eine HIV-Behandlung ablehnt.

In Russland läuft seit 2018 das Projekt „Rawnaja Podderschka“, zu Deutsch etwa „Unterstützung auf Augenhöhe“, für schwangere Frauen in schwierigen Lebenssituationen. Schwangerenberatung bieten viele Expert_innen an, aber wenn eine Frau dies übernimmt, die selbst HIV-positiv ist und Kinder hat, ändert sich die Situation grundlegend. Eine junge oder werdende Mutter mit HIV hat dann ein klares Vorbild vor sich und kann Fragen zu Geburt, Therapie und Erziehung stellen.

Wichtig für Frauen mit HIV: Unterstützung auf Augenhöhe

„Unsere größte Errungenschaft ist, dass wir heute mit staatlichen medizinischen Einrichtungen in drei Städten kooperieren: Nowosibirsk, Jekaterinburg und Moskau“, berichtet die Projektkoordinatorin Natalja Suchowa. „Unsere Beraterinnen arbeiten mit den Gynäkolog_innen im Krankenhaus zusammen und machen gegebenenfalls auch Hausbesuche.“

Ein persönliches Beratungsgespräch dauert mindestens 40 Minuten und besteht aus Fragen, Erläuterungen, Unterstützung und manchmal auch Tränen. „Meistens werden wir von einem Arzt oder einer Ärztin hinzugerufen und sprechen dann mit der Frau direkt auf der Station, neben ihr auf einem Sofa. Dabei ist die Frage der Vertraulichkeit natürlich sehr wichtig“, betont Suchowa. „Und manchmal sprechen wir mit Frauen nach der Geburt, in den vier Tagen, wenn eine junge Mutter im Krankenhaus liegt. Der Kontakt ist uns sehr wichtig, damit sie unsere Telefonnummer bekommt und in jeder schwierigen Situation eine Beraterin erreichen kann.“

Die Fälle sind unterschiedlich: Manchmal haben junge Mütter schlicht kein Geld für eine Therapie, da sie ihr letztes Geld lieber für Babynahrung ausgeben statt für die Fahrt zur Apotheke. Daher stellt das Projekt Babynahrung, Windeln und Spielzeug bereit.

Kürzlich wurde die Finanzierung in der Oblast Leningrad eingestellt, aber laut Suchowa werden die Beraterinnen ihre Arbeit dennoch fortsetzen – nun eben per Telefon. Jeden Tag wenden sich mehrere Frauen an sie.

Wenn das Kind HIV hat

Die Schwierigkeiten im Leben einer Mutter sind ein eigenes Thema mit vielen Facetten: Kindergarten, Schule, Pubertät und Studienbeginn. Wenn aber das Kind von Geburt an HIV hat, kommt noch ein Punkt hinzu: Wie sage ich es ihm?

Die sechzehnjährige ukrainische Aktivistin Alena ist extra zur Konferenz gereist, um zu berichten, wie sie ihre HIV-Infektion zu akzeptieren lernte. Heute geht sie in Schulen und hilft jungen Menschen mit dieser Diagnose. Sie hat ihre HIV-Infektion akzeptiert, dennoch kann sie bis heute nur unter Tränen an den Tag zurückdenken, als sie davon erfuhr.

„Seit meiner Kindheit musste ich Vitamine und Herztabletten einnehmen. Zumindest dachte ich das, weil meine Eltern es mir so erklärt hatten. Erst mit 13 haben sie mir gesagt: ‚Alena, du hast HIV, und deine Tabletten sind HIV-Medikamente.‘ Alles, woran ich mich danach erinnern kann, sind Tränen. Ich wusste nicht, was ich tun und wie ich damit weiterleben sollte. Ich habe tagelang durchgehend geweint und konnte nicht mal mehr mein Zimmer verlassen. Dann haben mich meine Eltern in ein Ferienlager für HIV-positive Kinder geschickt.“

Wie spreche ich mit meinem Kind am besten über seine HIV-Infektion?

Sie erzählt, wie sie mit einem Mal von einem gewöhnlichen zu einem besonderen Kind wurde: „Es gab dieses spezielle Ferienlager, im Krankenhaus wurde ich anders behandelt, ich bekam irgendwelche Geschenke. Mich hat das genervt – ich wollte die Zeit zurückdrehen und wieder eine normale Jugendliche werden.“

Nach Alinas Vortrag brachten sich die Mütter auf der Konferenz aktiv in die Diskussion ein und fragten: Wie spreche ich mit meinem Kind am besten über seine Infektion, in welchem Alter sollte ich das tun, braucht es spezielle Ferienlager und Selbsthilfegruppen?

Die junge Frau antwortete, sie hätte gerne früher von der HIV-Infektion erfahren, zum Beispiel gleich zur Einschulung. Dann hätte sie sich selbst nicht anders wahrgenommen, sondern einfach schon als Kind gewusst, dass sie HIV hat und „das ist keine große Sache“ ist. Natürlich haben ihr die Ferienlager und Selbsthilfegruppen auch geholfen, aber Alina möchte eigentlich weniger über das Thema HIV sprechen: „Mit der Infektion schien es so, als würde sich mein ganzes Leben nur noch um HIV drehen: zu Hause, im Ferienlager, in der Selbsthilfegruppe. Ab einem gewissen Zeitpunkt hat mich das belastet, so als gäbe es keine anderen Themen und mein Leben stünde still.“

Der Workshop endete mit der bestärkenden Botschaft: HIV ist kein Todesurteil, sondern einfach ein Teil des Lebens, der niemanden daran hindert, Kinder zu haben und eine Familie zu gründen.

*Übersetzte und leicht redaktionell bearbeitete Fassung des Beitrags Гендерная дискриминация и ВИЧ. Почему женщины уязвимее при болезни? auf https://spid.center. Wir danken der Autorin und dem AIDS.CENTER herzlich für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung. Übersetzung: Macfarlane

Ein Video zur Konferenz ist auf dem YouTube-Kanal der Drug Users News zu sehen: https://www.youtube.com/watch?v=_oydi60mvKg&feature=youtu.be

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