„Ich mag dich nicht, aber ich unterstütze deine Arbeit“
Am 15. März 2019 war Bertho Makso, Mitbegründer der LGBTIQ-Organisation Proud Lebanon, zum zweiten Mal in Berlin. Bei einer Informations- und Diskussionsrunde erzählte er von der Situation von Menschen mit HIV und der queeren Communities sowie von der Versorgungssituation im Libanon. Eingeladen hatten die Deutsche Aidshilfe, die Schwulenberatung Berlin und das Aktionsbündnis gegen AIDS.
Von der dritten Geberkonferenz für Syrien nach Berlin
Zuvor hatte Bertho Makso als Vertreter der libanesischen LGBTIQ-Community an den Dialogtagen der dritten Geberkonferenz zur Unterstützung Syriens und der Region teilgenommen.
Der Bedarf ist riesig: Über 11 Millionen Syrerinnen und Syrer sind derzeit auf humanitäre Hilfe angewiesen. 5,6 Millionen Einwohner_innen sind wegen des Krieges ins Ausland geflohen.
Libanon: 6 Millionen Einwohner_innen, bis zu 2 Millionen Geflüchtete
Alleine der Libanon hat geschätzt bis zu zwei Millionen Geflüchtete aufgenommen (etwa eine Million sind registriert) – bei geschätzten sechs Millionen Einwohner_innen und einer Fläche, die mit 10.452 Quadratkilometern etwa halb so groß ist wie das Bundesland Hessen.
Dieser Vergleich dürfte deutlich werden lassen, was das für die Situation vor Ort bedeutet.
Die Arbeitsfelder von Proud Lebanon
Proud Lebanon tritt für den Schutz, die Stärkung und die Gleichstellung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans*, inter* und queeren Personen (LGBTIQ) sowie für gesellschaftliche Akzeptanz ein. Dazu informiert die Organisation über die Lebenswelten von LBGTIQ-Communities und tritt Stigmatisierung und Diskriminierung entgegen, zum Beispiel durch selbstbewusste und öffentlichkeitswirksame Kampagnen, Werbespots und Aktionen.
Durch den Krieg in Syrien sind in der letzten Zeit aber Hilfen für queere Geflüchtete in den Vordergrund getreten. Die Hilfen umfassen zum Beispiel die psychische, soziale und medizinische Begleitung von Geflüchteten und Libanes_innen mit HIV, rechtliche Beratung, die Versorgung mit Wohnraum und Lobbyarbeit.
Proud Lebanon engagiert sich darüber hinaus auch in der zielgruppenspezifischen Prävention. Die Organisation berät zum Beispiel in Cruising-Gebieten und auf Veranstaltungen der Szene zu HIV und anderen Geschlechtskrankheiten und bietet auch Tests an.
HIV im Libanon
Nach Schätzungen von UNAIDS sind im Libanon insgesamt ca. 2.200 Menschen mit HIV infiziert (etwa 1.700 Männer und 500 Frauen).
2017 hatten etwa 60 Prozent der Menschen mit HIV Zugang zu HIV-Therapien – von der Erreichung der 90-90-90-Ziele ist das Land damit weit entfernt.
Die 90-90-90-Ziele bedeuten: 90 Prozent aller Menschen mit HIV sollen eine HIV-Diagnose bekommen haben, 90 Prozent der Menschen mit einer HIV-Diagnose sollen eine lebensrettende antiretrovirale Therapie machen und 90 Prozent der Menschen unter einer HIV-Therapie sollen eine Viruslast unter der Nachweisgrenze haben, sodass HIV auch beim Sex nicht mehr übertragen werden kann.
HIV-Infektionen vor allem bei schwulem Sex
2018 meldete das Nationale Aids-Programm 160 HIV-Neuinfektionen.
94,4 Prozent der Infektionen finden unter Männern statt, 98,8 Prozent durch sexuelle Kontakte.
76,8 Prozent der Diagnostizierten geben homosexuelle Kontakte als Übertragungsweg an. Bei Männern, die Sex mit Männern haben, liegt der Anteil der Menschen mit HIV je nach Schätzung zwischen neun und 27,5 Prozent.
Übertragungen durch den gemeinsamen Gebrauch von Spritzen und Nadeln zum Drogenkonsum gibt es laut dem nationalen Aids-Programm derzeit nicht. Bertho Makso meinte dazu, dass es bei der Abfrage möglicher Übertragungswege offensichtlich leichter falle, eine sexuelle Übertragung anzugeben als eine Übertragung beim Drogenkonsum.
Natürlich gebe es auch im Libanon Chemsex, doch fielen damit einhergehende Infektionen in die Kategorie „Sexualität“. Ob die Aussage, es gebe im Libanon keine HIV-Infektionen durch Drogengebrauch, aufrechterhalten werden kann, muss offen bleiben. Zu vermuten ist, dass hier ein blinder Fleck vorliegt.
Zwangstests und Ausweisungen wegen HIV
Paare, die im Libanon heiraten möchten, müssen eine Reihe medizinischer Tests machen, darunter auch einen HIV-Test. Maßnahmen wie diese sind in arabischen Ländern relativ weitverbreitet. Sie sollen die in der Region verbreiteten Erbkrankheiten eindämmen, die Kindersterblichkeit reduzieren und auch Übertragungen verhindern helfen.
Auch wer sich länger als drei Monate im Land aufhalten möchte, muss einen HIV-Test nachweisen. Bei einer HIV-Infektion wird die Einreise verweigert. Wer als Ausländer_in oder Arbeitsmigrant_in bereits im Land lebt, muss zur Erneuerung des Aufenthaltstitels ebenfalls – in der Regel alle drei Jahre – einen HIV-Test vorlegen. Wird eine HIV-Infektion nachgewiesen, erfolgt die Ausweisung.
Diese Maßnahmen können auch Europäer_innen betreffen: Bertho Makso berichtete von dem europäischen Besitzer eines Beiruter Restaurants, der innerhalb von 24 Stunden nach seinem positiven HIV-Test das Land verlassen musste. Erst ein Jahr später sei es einem Mitglied der Familie gelungen, das Restaurant aufzulösen. Die persönlichen und finanziellen Tragödien, die sich hinter solchen Geschichten verbergen, kann man sich kaum vorstellen.
Unter Druck: Queere Lebenswelten im Libanon
Im Libanon können gleichgeschlechtliche Handlungen gemäß Artikel 534 des Strafgesetzbuches verfolgt werden, der „widernatürlichen Geschlechtsverkehr“ mit einem Bußgeld und einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr bedroht.
Zwar gab es im Juli 2018 ein wegweisendes Urteil eines Berufungsgerichts, wonach ein 2017 erfolgter Freispruch von neun Männern aufrechtzuerhalten sei, die wegen homosexueller Handlungen angeklagt worden waren.
Der freisprechende Richter hatte sich damals auf Artikel 183 berufen. Er besagt, dass man nicht für das Ausüben eines Rechts verurteilt werden kann, solange dabei niemand anderes beeinträchtigt wird. Dies treffe auch auf die Ausübung von einvernehmlichen gleichgeschlechtlichen Sex unter Erwachsenen zu.
Fortschrittliche Urteile, rückschrittliche Praxis
Dennoch steht der Artikel 534 weiter im Strafgesetzbuch, und seine Auslegung ist von den Überzeugungen und Überlegungen der Richter abhängig. Mitglieder von LGBTIQ-Communities werden weiterhin Opfer willkürlicher Inhaftierung und außergerichtlicher Verhaftungen. Dies betrifft besonders ärmere Personen, die dann häufig auch für längere Zeiträume und manchmal unter sehr schlechten Bedingungen inhaftiert sind.
Aktivist_innen fordern die Abschaffung des Artikels 534. Ein ermutigendes Zeichen setzten hier rund 100 Kandidat_innen für die Parlamentswahlen im Mai 2018, die sich öffentlich für die Streichung des Artikels aussprachen.
Auch wenn der Libanon im Vergleich zu anderen Ländern der Region als relativ liberal wahrgenommen wird – Beirut galt viele Jahre als das „Paris des Nahen Ostens“ – sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass Abweichungen von der „normalen“ Sexualität oder sexuellen Identität in vielen Teilen des Landes aufgrund patriarchalischer Stereotypen und religiöser Einflüsse immer noch mit häuslicher Gewalt und Verbrechen im Namen der „Ehre“ beantwortet werden.
Auch das Versammlungsrecht von LGBTI steht unter Druck. 2017 fand der Beirut Pride trotz Drohungen zwar statt, eine geplantes Begleit-Seminar wurde aber aus Sicherheitsgründen abgesagt. Der Pride 2018 musste komplett ausfallen, Organisator Hadi Damien wurde sogar kurzzeitig in Gewahrsam genommen.
„Ich mag dich nicht, aber ich unterstütze deine Arbeit“
Die Widersprüchlichkeit der libanesischen Situation kann in der Praxis durchaus dazu führen, dass Orte der Community durch die libanesische Polizei geschützt werden, wie etwa nach der Attacke in Orlando vor einer schwulen Disko in Beirut beobachtet: Polizeiautos parkten vor dem Eingang, um mögliche Angriffe durch Nachfolgetäter abzuwehren. Auch in Rotlichtbezirken durchgeführte HIV-Tests werden von der Polizei geschützt.
„Der Grat zwischen Unterstützung und Verfolgung ist schmal“, erklärte Bertho Makso.
Deutlich wird dies etwa an der Situation von LGBTIQ und Menschen mit HIV in Haft: Auf der einen Seite hat Proud Lebanon landesweit Zugang zu Gefängnissen, um Häftlinge mit HIV oder aus der LBGTI-Community begleiten zu können. „I don‘t like you but I support your work“, bekam Bertho Makso von einem Verantwortlichen aus dem Haftbereich zu hören.
„Der Grat zwischen Unterstützung und Verfolgung ist schmal“
Andererseits kommt es gerade in Gefängnissen immer wieder zu Folter, Misshandlungen und Maßnahmen ohne jede gesetzliche Grundlage. Und auch wenn das heute seltener als früher vorkommt, können Männer, die homosexueller Handlungen „verdächtigt“ werden, zu Analuntersuchungen gezwungen werden – es sei denn, sie outen sich „freiwillig“.
Auch das „Recht auf Privatsphäre“ wird im Libanon häufig verletzt. Das kann Mitgliedern queerer Communities zum Verhängnis werden: Werden Daten und Dating-Apps wie Grindr auf Mobiltelefonen gefunden, versucht man die Männer zum Eingeständnis ihrer Homosexualität zu bringen, um sie nach Artikel 534 des Strafgesetzbuches anklagen zu können.
Wie im alten Hollywood-Kino: Kurz vor dem Sex kommt die Abblende
Um die Kunstfreiheit steht es ebenfalls eher schlecht. Die Liste der zensierten Filme zu Lebenswelten von LGBTI ist lang…. So wurde der Streifen Brokeback Mountain zwar gezeigt, allerdings ohne die Szenen, in denen es hautnah zur Sache ging. Das erinnert alles ein wenig an das prüde Amerika der 50er-Jahre und das Abblende-Faible Hollywoods. Das libanesische Zensurbüro verweist übrigens auf den Artikel 534 als Grund für die Zensur dieser Filme.
Laut Bertho Makso sind die Kulturangebote diverser Botschaften wie Filmreihen und Festivals für die libanesische LGBTIQ-Community oft die einzige Möglichkeit, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die für die Szene relevant sind. Angesichts der fehlenden Unterstützung durch staatliche Institutionen habe dieser durch manche Botschaften bereitgestellte Schutzraum für die Community eine große Bedeutung.
„Man muss nicht schwul sein, um für die Rechte von Schwulen einzutreten“
Es sind vor allem religiöse Würdenträger, die sich dagegen wehren, wenn sich queere Lebensrealitäten zu laut an die Öffentlichkeit wagen.
2016 zum Beispiel intervenierte der maronitische Bischof von Beirut, um die Absage einer Veranstaltung gegen Homophobie zu erwirken. Bei einer vom ihm veranstalteten Pressekonferenz forderte er die Medien auf, sich nicht so oft LGBTIQ-Themen zu widmen, schließlich brächten LGBTIQ Krankheiten in die Gesellschaft und zerstörten das Zusammenleben in der Familie. Außerdem seien LGBTIQ geistig krank.
2017 wurde die Arbeit von Proud Lebanon durch einen Vertreter einer radikal-islamischen Sekte bedroht, was zur Absage eines weiteren Events durch die Behörden führte.
Insbesondere religiöse Würdenträger wollen queere Sichtbarkeit unterdrücken
Proud Lebanon greift solche Vorgänge in Kampagnen und Videoclips auf. Daran beteiligen sich im Libanon bekannte Persönlichkeiten aus Kultur und Öffentlichkeit.
Die Kampagnen richten sich an die breite Öffentlichkeit, um für eine offenere Gesellschaft zu werben: „Gesetze sollen schützen, nicht dem Missbrauch dienen“, so die Aussage eines Videos, gefolgt von: „Man muss nicht schwul sein, um für die Rechte von Schwulen einzutreten.“
Externe Unterstützung fördert nicht unbedingt den Zusammenhalt
Staatliche Gelder für Aktivitäten der LBGTIQ-Communities gibt es kaum, was NGOs von ausländischer Unterstützung abhängig macht. Der Kampf um die begrenzten Mittel führt dazu, dass NGOs aus dem LGBTIQ-Bereich häufig gegeneinander und nicht miteinander arbeiten.
Eine Lösung der Misere würde sich wahrscheinlich erst dann ergeben, wenn Mittel durch die Regierung bereitgestellt und gleichgerecht verteilt würden. Dass es jemals dazu kommt, ist aber bisher nicht absehbar.
Könnte da nicht der Globale Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria einspringen?
Nun, er ist tatsächlich im Libanon engagiert, allerdings vor allem in der Tuberkulose-Versorgung in Lagern für syrische Geflüchtete – womit wir wieder beim Anfang dieses Beitrags wären. Eine direkte Förderung von Programmen für Libanes_innen dagegen ist aufgrund der strengen und verbindlichen Förderrichtlinien des Fonds nicht möglich: Für Länder mit mittleren und höheren Einkommen wie den Libanon dürfen Fondsgelder nicht verwendet werden.
Für NGOs aus diesen Ländern mit Regierungen, die nicht für die Belange und Rechte von LGBTIQ-Communities interessieren, sind derlei Sachzwänge kaum nachvollziehbar.
Quellen
Beitrag zur dritten Syrien-Geberkonferenz: https://www.consilium.europa.eu/de/meetings/international-ministerial-meetings/2019/03/12-14/
HIV-Test und Screening im Vorfeld einer Eheschließung: http://easternbiotech.com/resource_Pre%20marital%20Screening.php
Einreisebestimmungen für Menschen mit HIV: http://www.hivtravel.org/Default.aspx?PageId=143&CountryId=105
Videoclips von Proud Lebanon: https://www.youtube.com/channel/UCsoyZpT7u3Smak7v0KXfx6g
Webseite von Proud Lebanon: https://www.proudlebanon.org/
Facebookseite von Proud Lebanon: https://www.facebook.com/ProudLebanon/
Fact Sheet Lebanon/UNAIDS: http://www.unaids.org/en/regionscountries/countries/lebanon
Förderrichtlinien des Globalen Fonds: https://www.theglobalfund.org/en/funding-model/before-applying/eligibility/
Arbeit des Globalen Fonds in Flüchtlingslagern: https://www.theglobalfund.org/en/specials/2016-06-20-providing-tb-care-in-a-refugee-camp/
Peter Wiessner, 17. März 2019
Kontakt: peter-wiessner@t-online.de
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