Schwester Febby: Workshops für Kinder und Jugendliche zu Sex und HIV
Die Jungen und Mädchen, die an diesen Veranstaltungen teilnehmen, sind neun bis achtzehn Jahre alt. Alle leben mit HIV.
In den Workshops mit jeweils etwa 20 Teilnehmer_innen erfahren sie, was sie rund um ihre Gesundheit wissen müssen. Sex und HIV spielen dabei eine wichtige Rolle.
HIV-Workshops für Kinder?
Geleitet werden die Workshops von engagierten Ärztinnen und Beraterinnen. Man könne gar nicht früh genug mit der Aufklärung über diese schwierigen Themen anfangen, sagen sie, denn in Sambia würden die Kinder schon sehr früh sexuell aktiv.
Atlas2018 durfte an einem der Workshops teilnehmen. Sowohl die Leiterinnen als auch die Teilnehmer_innen haben uns mit ihrem Engagement, ihrer Offenheit, ihrer Freude am Lernen und ihrem Lerneifer tief beeindruckt. Am nachhaltigsten aber bleibt uns in Erinnerung, wie mutig und stark diese Jungen und Mädchen waren, als sie die höchst intimen und komplexen Themen miteinander besprachen und wie sie miteinander lachten.
„Man kann gar nicht früh genug mit der Aufklärung anfangen“
„Ich wollte die Stimme der Kinder sein“, sagt Schwester Febby.
„2006 war die Sterblichkeitsrate in unserem Krankenhaus sehr hoch. Viele Kinder starben an Lungenentzündung. Die meisten hatten ein kompliziertes Krankheitsbild. Ich vermutete HIV als Ursache und war der Meinung, dass wir etwas dagegen tun mussten.
Mein Vorschlag war, alle Kinder auf HIV zu testen. Aber nicht alle Ärztinnen und Ärzte waren davon begeistert. Man beschloss, die Sache weiter zu untersuchen. Nach sechs Monaten war der Zusammenhang zwischen dem klinischen Bild, der Sterblichkeitsrate und HIV dann klar und wir konnten endlich anfangen.“
Ein langer Weg mit vielen Hürden
Schwester Febby wird ganz leise und schaut mir fest in die Augen. Sie sagt alles, ohne ein Wort zu sprechen.
Alle diese Maßnahmen, um Kinder mit und ohne HIV zu unterstützen, sie aufzuklären und ordentlich zu versorgen, waren nicht einfach. Es war ein langer Weg, viele Hürden mussten überwunden werden.
„Die Eltern sollten verstehen, warum die Tests so wichtig sind“
„Es waren nicht alle Eltern und Erziehungsberechtigten dafür, die Kinder zu testen. Zu Beginn geschah das auf freiwilliger Basis.
Eltern, die gegen die Testung waren, habe ich Beratung angeboten. Sie sollten verstehen, warum HIV-Tests so wichtig sind.
Ich habe sie dann immer wieder hergebeten, bis sie einwilligten.
Später war der Widerstand geringer. Die Eltern der positiv getesteten Kinder sahen, dass ihre Kinder Medikamente bekamen und gesund blieben. Nach und nach stieg die Anerkennung für unsere Arbeit.“
Viel erreicht und noch viel zu tun
Sie schiebt mir ihr Sandwich rüber und sagt, ich müsse etwas essen. Dann bittet sie ihre erwachsene Tochter, die hinter uns am Computer arbeitet, um frischen Tee für uns.
Nun kehrt ihr strahlendes Lächeln zurück. Ihre angenehme, entspannte Sprechweise kann kaum ihren großen Ehrgeiz verbergen.
Sie hat viel erreicht, aber es gibt noch jede Menge zu tun. Für die Ungeborenen, Kleinkinder, Heranwachsenden und ihre Eltern oder Erziehungsberechtigten. Gegen falsche Informationen und Vorurteile rund um HIV. Gegen sexuelle Gewalt und für Therapietreue, damit HIV-Medikamente nicht nur verfügbar sind, sondern auch regelmäßig eingenommen werden.
„Die Babys und Kleinkinder von damals sind heute Teenager. Für Heranwachsende bringt das Leben mit HIV neue Fragen und Probleme mit sich.
„HIV-Workshops für Kinder ab neun oder zehn? Das fanden nicht alle toll“
In diesem Alter experimentieren Kinder gerne, das ist normal. Sie entdecken sich gegenseitig, sie entdecken den Sex, ganz normal.
In Sambia sind die Kinder schon in jungen Jahren sexuell aktiv. Manche Mädchen werden mit 14 schwanger. Daher wollten wir die HIV-Workshops für Kinder schon ab neun oder zehn Jahren anbieten.
Das fanden natürlich nicht alle sofort toll. Aber jetzt nehmen alle Kinder mit HIV, die hier behandelt werden, an diesen Workshops teil.
In den HIV-Workshops für Kinder wird über alles gesprochen
Wir sprechen über alles. Absolut alles! Sex, Familienplanung, gutes Benehmen (zum Beispiel Respekt gegenüber anderen), sexuell übertragbare Infektionen, HIV, die Medikamente …
Als wir anfingen, fragten wir die Kinder, was sie wichtig finden und worüber sie gerne mehr wissen würden.
Alle Kinder in den Workshops haben HIV. Manche nehmen noch die Medikamente ihrer ersten Therapie, andere mussten schon ein- oder zweimal umstellen. Aber unabhängig davon müssen alle lernen, ihre Tabletten regelmäßig einzunehmen.“
„Schwanger mit 16? Das ist einfach zu jung“
Wir müssen es dabei belassen. Ihre Pause ist vorbei, und sie möchte dabei sein, wenn die Kinder über das Thema Schwangerschaft diskutieren.
„Ich selbst bin mit 16 Jahren schwanger geworden“, erzählt sie. „Sie haben ja meine Tochter schon kennengelernt, eine wunderbare junge Frau. Ich liebe sie sehr. Aber 16 ist einfach zu jung, um schwanger zu werden.“
Die Diskussionen, jeweils zwischen einem Jungen und einem Mädchen geführt, sind erfreulich offen. Die Mädchen geben zu verstehen, dass ihre Meinung genauso wichtig ist wie die der Jungs. Nach jedem Beitrag gibt es als Dankeschön einen lauten Applaus und einen ausgelassenen Tanz.
Ich frage Schwester Febby, ob ich mit einem der Mädchen und Jungen sprechen darf.
Gespräch mit Gloria*
Einige Minuten später sitze ich an einem ruhigen Ort mit Gloria zusammen. Sie ist eines der taffsten Mädchen der Gruppe.
„Hallo Gloria. Kannst du uns etwas von dir erzählen? Wie lebst du und wie alt bist du?“
„Ich heiße Gloria und ich bin 13 Jahre alt. Ich lebe bei meiner Mutter hier in Lusaka. Sie ist Lehrerin, und ich gehe noch zur Schule. Geschwister habe ich nicht. Wir sind nur zu zweit.“
„Machst du viel zusammen mit deinen Freunden?“
„Oh ja! Meistens treffe ich mich mit Natascha und Victoria. Wenn wir frei haben, gehen wir oft in den Park. Am schönsten sind der Botanische Garten und der Zoo. In der Schule spiele ich mit den Mädchen aus meiner Klasse.“
„Was sind deine Lieblingsfächer?“
„Lesen, Englisch, Mathematik und Chemie. Ich bin noch nicht fertig mit der Schule. Später möchte ich Anwältin werden, deshalb möchte ich weiter an dieser Schule lernen.“
„Wenn ich die Jungs nicht küssen möchte, mache ich das auch nicht!“
„Und warum möchtest du Anwältin werden?“
„Weil manche Menschen einen zu etwas zwingen, was man nicht möchte. Und man muss es dann trotzdem tun… Und dann werden Menschen fälschlicherweise beschuldigt. Ich möchte, dass sie geschützt werden. Dass nicht behauptet wird, dass sie gestohlen oder etwas anderes getan haben.“
„Ist dir das schon einmal passiert?“
„Ja…“
Sie zögert einen Moment. Ein paar Mal setzt sie an, aber dann entschließt sie sich, doch keine Geschichte zur Erklärung ihrer Aufregung und Wut zu erzählen.
„Wie findest du die Workshops?“
„Ich finde sie gut. Man lernt viel Neues über die Medikamente. Die Lehrerinnen sind nett. Sie sind immer bei uns.“
„Was denkst du über die Jungs?“
„Sie sind okay. Ich habe keine Angst vor ihnen. Wenn ich sie nicht küssen möchte, dann mache ich das auch nicht!“
„Aber wenn du später mal einen netten Jungen triffst, möchtest du dann heiraten und Kinder haben?“
„Nein, ich möchte nicht heiraten… und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich Kinder möchte oder nicht. Manchmal ja… und dann wieder nein… Ich möchte nur dann Kinder, wenn ich verheiratet bin.“
„Machst du dir Sorgen über deine Zukunft, über deine Gesundheit?“
„Manchmal. Manchmal ist es schwierig. Dann möchte ich etwas essen, aber meine Mutter passt da immer auf. Sie lebt sehr gesund.“
Sie belässt es dabei. So ein Gespräch ist wirklich gut, aber aus dem Nebenraum ist Musik zu hören. Gleich fängt der nächste Teil des Workshops an, und den möchte sie nicht verpassen.
Gespräch mit Tom*
In der Zwischenzeit hat Schwester Febby Tom zu mir geschickt. Tom ist ein netter, freundlicher Junge. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass er jemals etwas tun könnte, was Mädchen abstoßend fänden.
So denke ich über alle Jungen und Mädchen hier: Mir scheinen sie lustige, lebendige und verantwortungsvolle Kinder zu sein.
Schwester Febby hat mir allerdings Geschichten über sexuellen Missbrauch und unerwünschte Schwangerschaften erzählt, an denen einige Jugendliche aus dieser Gruppe beteiligt waren.
„Hallo Tom, ich glaube es ist Zeit für ein Gespräch von Mann zu Mann, meinst du nicht auch?“
Er lacht und nickt.
„Kannst du uns etwas über dich erzählen? Wie alt bist du, mit wem lebst du zusammen und wo?“
„Ich bin 14 und gehe in die 8. Klasse. Ich lebe mit meiner Familie zusammen, wir sind viele zu Hause.
Ich habe sechs Brüder und Schwestern, nein, neun … plus meine Mutter und mein Vater. Ja, ich liebe meine Mutter und meinen Vater.“
„Gefällt es dir in der Schule? Was sind deine Lieblingsfächer?“
„Lesen, Geschichte, Sozialwissenschaften, Mathematik, Musik … Wenn ich mit dieser Schule fertig bin, möchte ich auf eine Privatschule gehen. Ich möchte weiterlernen, weil ich gerne Arzt werden möchte.“
„Warum?“
„Um anderen zu helfen.“
„Bist du oft krank?“
Er nickt.
„Ich habe oft Probleme mit meinem Magen.“
„Meinst du, dass das an dem Virus liegt?“
Er nickt wieder.
„Ich habe das Virus von meiner Mutter bekommen. Sie hat es mir erzählt, als ich schon älter war. Ich bekam ganz schön Angst, als sie mir das erzählte. Ich dachte, ich würde sterben.
Meine Eltern kümmern sich gut um mich. Sie geben mir alles, was ich brauche.
Die Tabletten zu nehmen, finde ich nicht schwer. Ich nehme sie täglich ein.“
„Ich möchte Arzt werden, um anderen zu helfen“
„Wissen deine Brüder und Schwestern, dass du das Virus hast?“
„Nur meine Eltern.“
„Was hast du für Hobbys? Was machst du gerne?“
„Ich spiele gerne Fußball mit meinen Freunden. Ich bin Verteidiger. Aber wir sehen auch zusammen fern. Manchmal gehe ich auch mit meinen Schwestern in den Park.“
„Wenn du später mal ein nettes Mädchen kennenlernst, möchtest du dann heiraten und Kinder haben?“
„Ja, ich möchte gern heiraten und denke, dass ich ein nettes Mädchen treffen werde. Ich möchte Kinder. Gesunde Kinder … zwei oder drei … vielleicht.“
Wir verabschieden uns, wie Männer das so tun: Wir geben uns die Hand und klopfen uns auf die Schultern. Er muss mir versprechen, dass er ein guter Arzt wird.
Tom sagt mir, dass er im allerbesten Krankenhaus arbeiten und Menschen mit HIV heilen möchte.
Wieder eine Pause. Zeit für uns, Abschied zu nehmen.
Zum Dank möchten die Kinder einen Tanz von uns. Das machen wir.
Anschließend gehen wir alle nach draußen und machen ein Gruppenfoto.
Wir waren zu Gast in einer ganz besonderen Klasse mit fantastischen, netten Kindern.
* Gloria und Tom sind Pseudonyme.
Text: Erwin Kokkelkoren
Fotos: Marjolein Annegarn
Übersetzung: Agentur MacFarlane
Der Beitrag erschien zuerst auf atlas2018.org. Auf der Website zum Projekt „ATLAS2018“ erzählen die niederländischen Künstler Erwin Kokkelkoren und Bert Oele die Geschichten von Menschen mit HIV aus aller Welt (wir berichteten auf magazin.hiv). Die Porträts und Interviews wurden zur Welt-Aids-Konferenz in Amsterdam präsentiert (23.–27. Juli 2018).
Eine Auswahl stellen wir hier vor und danken Erwin Kokkelkoren und Bert Oele für das Recht zur Zweitveröffentlichung. Bisher erschienen sind
Sexarbeiterinnen in Kempton Park: Vier Kurzporträts (Südafrika)
Männergespräch über HIV: Moses aus Simbabwe (Südafrika)
Truck Stop Pomona: Fernfahrer, Prostituierte und HIV (Südafrika)
Leben mit HIV in Suriname (Ethel, Jennifer, Frau Malats, Richard)
HIV mit 16 – ist das ein Witz?! (Alexej, Russland)
„Ich liebe meinen Vater sehr“ (Herr Kachidza und Enock, Sambia)
„Wir können Aids besiegen“ (Carsten Schatz, Deutschland)
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