Ein Signal für die LGBTI-Community in Russland, aber kein Grund zum Feiern
Seit 2006 wurden in mehreren Regionen Russlands Gesetze gegen „Propaganda für Homosexualität“ verabschiedet, seit 2013 stellt ein landesweites Gesetz „Propaganda für nichttraditionelle sexuelle Beziehungen unter Minderjährigen“ unter Strafe: Es verbietet die positive Darstellung von Homosexualität in der Öffentlichkeit, das heißt, Schwule und Lesben dürfen ihre sexuelle Orientierung nicht vor Minderjährigen thematisieren.
Aktivisten aus der LGBT-Community in Russland klagten in Straßburg
Drei Aktivisten aus Russland – Nikolay Viktorovich Bayev, Aleksey Aleksandrovich Kiselev und Nikolay Aleksandrovich Alekseyev– hatten Klagen gegen solche Gesetze beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht. Mitte Juni haben die Straßburger Richter_innen nun ihr Urteil gefällt: Ihnen zufolge verstößt das russische Gesetz gegen die Meinungsfreiheit und das Diskriminierungsverbot und fördert Homophobie. Den Aktivisten sprach das Gericht finanzielle Entschädigungen zu.
„Ein gutes Signal, aber kein Grund zum Feiern“
Das Urteil ist aber noch nicht rechtskräftig. Moskau kann beantragen, die Entscheidung noch einmal überprüfen zu lassen. Zudem wurde Ende 2015 in Russland ein Gesetz erlassen, wonach das nationale Verfassungsgericht EGMR-Urteile überprüfen kann – auch wenn Russland verpflichtet ist, sich an die Entscheidungen des Gerichtshofs zu halten.
Bei russischen LGBTI-Aktivist_innen stößt das Urteil auf Zustimmung, allerdings glaubt niemand, dass das homophobe Gesetz zurückgenommen oder entschärft wird. „Das Urteil aus Straßburg ist ein gutes Signal, wir haben uns sehr gefreut“, sagt Gulya Sultanova vom russischen LGBTI-Filmfestival Side by Side, das jährlich in St. Petersburg und Moskau stattfindet.
„Das Urteil ist wichtig für die Moral in der LGBTI-Community“
Ein Grund zu feiern sei es aber nicht, weil es keinen direkten Einfluss auf die Praxis in Russland habe. „Europäische Gerichte haben schon ein paar Mal gesagt: Ihr müsst diese oder jene Praxis stoppen, Russland hat sich immer geweigert.“
LGBTI: Erfolgreich aus der russischen Öffentlichkeit verdrängt
Das homophobe Gesetz wird nicht abgeschafft, glaubt die lesbische Aktivistin. „Aber das Urteil ist ein gutes Argument in der gesellschaftlichen Diskussion und bei Verhandlungen mit staatlichen Institutionen, bei der Abstimmung mit Behörden über Veranstaltungen oder Demonstrationen. Wenn sie auf das Propagandagesetz verweisen, können wir das Straßburger Urteil zitieren. Für die Moral in der Community ist es natürlich gut und wichtig.“
„Viele unsere Partner haben Angst“
Die Organisation, die in diesem Jahr ihr 10-jähriges Jubiläum feiert, konnte vor der Verabschiedung des Gesetzes relativ ruhig arbeiten, auch wenn die Presse bereits negativ eingestellt war, erzählt Gulya. Man konnte Events in den großen Kinos veranstalten und Infomaterial frei verteilen, in Cafés, Clubs oder an Universitäten. „Die Verbreitung in Unis wurde nach dem Gesetz unmöglich, weil dort Minderjährige studieren, denn in Russland beginnt man schon mit 17. Viele unserer Partner hatten Angst, dass sie sich in Gefahr bringen, wenn sie mit uns arbeiten. Auch viele Massenmedien hatte diese Befürchtung. Die Diskussion über LGBTI in der Öffentlichkeit sollte mit dem Gesetz verhindert werden, und das hat ja auch geklappt.“
In den 10 Jahren ihres Bestehens haben die Aktivist_innen viel Gegenwind erlebt: Neonazis, die Besucher_innen verprügelten, und Politiker, die am Eingang zu den Kinos gegen Gäste pöbelten. Im Jahr 2013 gab es sogar mehrere Bombendrohungen. Sie stellten sich zwar immer als falsch heraus, haben den Ablauf aber immer empfindlich gestört. „Dadurch haben wir jeden Tag zwei bis drei Stunden verloren, und so konnten wir das Programm nicht komplett zeigen“, sagt Gulya. „Allerdings waren viele Zuschauer so solidarisch, dass sie die Evakuierung abgewartet haben und dann wieder zurückgekommen sind, um das Festival weiter zu verfolgen.“
Das Gesetz gegen „Homopropaganda“ hat die Homophobie befeuert
Gulya hat auch eine Gegenreaktion auf das homophobe Gesetz beobachtet. „Es hat sich nach 2011 ein politisch-gesellschaftlicher Diskurs entwickelt, das haben wir diesem Gesetz zu verdanken. Vorher wurden Themen wie Homophobie und Transphobie als Lappalie abgetan.“ Zwar habe das Gesetz gegen „Homopropaganda“ die Stimmung im Land stark befeuert, sagt die Aktivistin, die in St. Petersburg lebt, wo das Gesetz bereits 2011 in Kraft trat. Es habe danach eine Hetzkampagne in den Massenmedien gegeben; die LGBTI-Community sei regelmäßig in TV-Sendungen diffamiert worden. Neonazi-Gruppen hätten sich ermuntert gefühlt, Schwule und Lesben anzugreifen. „2013/2014 hatte die staatliche Homophobie-Kampagne ihren Höhepunkt“, erinnert sich Gulya. „Danach ging die Aufmerksamkeit allerdings auf den Krieg in der Ukraine über, die öffentlichen Aufrufe zur Gewalt ließen nach: Es war ein neuer Sündenbock gefunden worden. Seither stand fast nichts LGBTI-Feindliches mehr in der Presse, es gab auch keine politischen Attacken mehr auf uns.“
„Homophobie ist eine Säule von Putins Traditionalismus“
Der sibirische LGBTI-Aktivist Bulat Barantaev, der im vergangenen Jahr als einer von zwei offen schwulen Kandidaten bei der Duma-Wahl antrat, bezweifelt ebenfalls, dass sich Russland von dem Straßburger Urteil beeindrucken lässt. „Da Homophobie eine der Säulen ist, auf der Putins Traditionalismus gründet, wird man mit allen Mitteln versuchen, die Vollstreckung des Europäischen Gerichtsurteils zu verhindern. Sie werden argumentieren, dass Homosexualität gegen russische Interessen sei, die Geburtenrate gefährde und all die anderen verrückten Dinge, die sie sonst behaupten. Und keinesfalls werden sie ein nationales Gesetz internationalen Gerichtsurteilen unterwerfen.“
Der Hass gegen die LGBTI-Community in Russland wird noch lange nachwirken
Allerdings weist Bulat darauf hin, dass das Gesetz gegen „Homo-Propaganda“ nur sehr selten zur Anwendung komme. Da es fast nicht durchgesetzt werde, gebe es auch eigentlich keinen Grund für das Gesetz. Was es aber tatsächlich bewirkt habe, sei die Welle von Hass und Gewalt, die es ausgelöst habe.
Auch die Betreiber des Online-Projekts Kinder 404, das Briefe von hilfesuchenden LGBTI-Jugendlichen und ihren Eltern veröffentlicht und ihnen Hilfe anbietet, begrüßen das Urteil aus Straßburg. [Anm. d. Red.: Das 404 steht für den Internet-Code „404 not found“, weil LGBTI-Jugendliche oft unsichtbar bleiben (müssen) und nur schwer andere Jugendliche in einer ähnlichen Situation finden.] Es sei „bemerkenswert und interessant“, so Jan Wesenberg, doch inwieweit Russland sich davon beeindrucken lässt, darüber möchte er nicht spekulieren. Der Zugang zu ihrem Web-Projekt, das 2013 von der Journalistin Lena Klimova als Reaktion auf das Gesetz gegen Homopropanda ins Leben gerufen wurde, sei von Russland aus immer wieder blockiert worden, ansonsten habe das Gesetz die Arbeit nicht wesentlich beeinträchtigt. Viel tiefgreifender – da stimmt Wesenberg mit den anderen Aktivist_innen überein – sei die Auswirkung auf die homophobe Stimmung im Land.
So lässt sich vielleicht Folgendes feststellen: Selbst wenn Russland das Gesetz gegen Homopropaganda entschärften oder abschaffen sollte (was wenig wahrscheinlich ist): Der Hass, den man gesät hat, wird noch lange nachwirken.
Ältere Beiträge zum Thema:
„Die Regierung macht für LGBT keinen Finger krumm“ (magazin.hiv, 15.12.2014)
„Viele Schwule haben schlicht Angst“ (magazin.hiv, 17.10.2014)
„Die Schwulen im Land sind entmutigt und haben keinerlei Hoffnung mehr“ (magazin.hiv, 13.09.2014)
Homosexualität als Politikum (magazin.hiv, 04.03.2014)
Hoffen, dass die Situation nicht noch schlechter wird (magazin.hiv, 29.01.2014)
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