Am 12. Juni 2022 starb Hunter Reynolds, der in den 1980er und 90er Jahren mit seinen Performances Aufsehen erregte und sich unter anderem mit seinem Alter Ego Patina du Prey gegen Homophobie und das Verschweigen von HIV und Aids wandte. Ulmann Hakert erinnert an den US-amerikanischen Künstler und Aktivisten, den er während dessen Berliner Zeit freundschaftlich und kunstkritisch begleitete.

Als Hunter Reynolds Anfang der 1990er Jahre nach Berlin kam, war die Stadt im Aufbruch. Verschlafener Aufbruch zur Fahrt in den Urlaub. Die Eltern stehen ohnehin schon unter Druck, reagieren gereizt aufeinander und auf den Kleinen. Er hat seinen Teddy auf dem Bett liegen lassen und weint. Der Vater ist unbeeindruckt und bestimmt: Der Teddy bleibt zu Hause. Sind die Tränen unmännlich? Ist der Teddy Urbild des Maskottchens der Lederschwulen? Sehr spekulativ, aber diese Verletzung bleibt ein Leben im Gedächtnis.

Noch ein Aufbruch im Morgengrauen oder auch erst, wenn die Sonne hoch genug steht, um zu blenden. Erschöpfung nach vielen Stunden einer durchtanzten Nacht. Dennoch voller Energie (oral oder nasal appliziert), um den Club in Begleitung zu verlassen.

Eine Verbundenheit mit Hunter: Aufbruch des erlegten Rehs. Mein Großvater war Jäger. Warmbraun, rot glänzen Leber und Herz, etwas heller die Nieren. Die Köttel wie eine Kette schwarzer Perlen, die in dem langen, dünnen, milchig weißen Schlauch des Darms aufgereiht liegen. Das Kind, das ich war, blieb auch als Erwachsener vom Ekel fasziniert. Schock und Abjektion wurden in den 1980ern zu einem wichtigen Aspekt der Kunst. (Anm. der Redaktion: Abjektion könnte man als Ablehnung der Dinge, die bei uns Ekel erregen, uns abstoßen, umschreiben.) Die Diagnose HIV-positiv galt als Todesurteil.

Schock und Abjektion als wichtiger Aspekt der Kunst

Hunter kommt 1993 als Stipendiat nach Berlin. Im Künstlerhaus Bethanien am Mariannenplatz in Kreuzberg bezieht er ein großzügiges Atelier, das mir als Raum voller Licht, Wärme und Ruhe in Erinnerung ist. Hunter als ein großer, kräftiger Mann. Als hätte er den Urschleim seines Herkunftsstaats Minnesota nie abgestreift, trägt er in in eben diesem Erinnerungsbild permanent ein Holzfällerhemd überm T-Shirt. Seine Stimme ist zarter und zögerlicher als erwartet, doch sonor. Bei Bedarf stark und durchdringend.

Noch in New York, Ende der 80er, hatte er die Persona Patina du Prey kreiert, deren non-binärer Charakter erst Jahrzehnte später im Kontext queerer Theorie zu einem Begriff finden würde. Ein großer Mann mit kräftiger Statur, der einen Reifrock enormer Ausmaße trägt. Dieser lässt wie schon bei Damen des frühen 19. Jahrhunderts den Unterleib in einem Nirwana aus Metall oder Korb, Leinen und prächtigen Stoffen verschwinden. Umso präsenter sind die flache behaarte Männerbrust und die fleischigen Schultern, die sich über dem trägerlosen Mieder erheben. Eine Büste nach antikem Zuschnitt, die nochmals verwirrt, weil das Gesicht stark geschminkt ist und durch mit Heftpflastern hochgezogene Brauen und gestraffte Stirn einen stark femininen Ausdruck bekommt. Das Kopfhaar ist männlich, soldatisch kurz geschoren.

Das Ungreifbare und Unbegreifbare dieser Figur

Für Hunter, der seine frühe Kindheit nicht in Minnesota, sondern in Florida verbrachte, war wesentlich, dass er unter anderen Vorfahren hatte, über die er von den Ureinwohner*innen der USA abstammte. Wichtig war ihm das Konzept des Schamanen, ein ebenfalls non-binäres Wesen, das in der Performance von Patina du Prey aufgehoben war. Die Akzeptanz für das Ungreifbare und Unbegreifbare dieser Figur, die männliche und weibliche, überzogene, hyperbolische Bilder von Geschlechtlichkeit in sich vereinte, sah Hunter Reynolds als Chance zur Heilung. Patina verkörpert das in vielen Kulturen existierende Bild einer Vollendung, in der weibliche und männliche Aspekte unauflöslich ineinander verwoben sind. Gebrochen wird dieses Pathos in der Erscheinung Hunters als Dragqueen.

Homosexualität wurde der Kampf angesagt, HIV und Aids wurden totgeschwiegen

In den 80ern in New York engagierte sich Hunter bei ACT UP und gründete ART+ Positive. Nicht zuletzt ging es um den Kampf gegen Homophobie, die in der Kunstwelt nicht weniger verbreitet war als in der Gesamtgesellschaft. Diese „gewöhnliche“ Homophobie hatte eine paradoxe Zuspitzung darin gefunden, dass Homosexualität mit dem Stigma Aids zu einer Bedrohung der Gesundheit wurde. In überzogenen Reaktionen wurde quasi zur Sicherung der Gesundheit des „Volkskörpers“ der Homosexualität der Kampf angesagt. Zugleich war die Haltung der offiziellen Politik, repräsentiert durch den Präsidenten Ronald Reagan, der fast die gesamten 80er Jahre regierte, eine schiere Negation. HIV und Aids wurden totgeschwiegen. Das seltsame Gebräu aus Stigmatisierung und Verleugnung war hoch toxisch. Die Aufklärung über Selbstschutz und den Schutz anderer vor einer HIV-Infektion wurde dadurch ebenso behindert wie die Entwicklung von Therapien, die erst in der zweiten Hälfte der 90er Jahre erste Erfolge zeigen würden.

Hunter Reynolds im „Memorial Dress“, einem schwarzen Seidenkleid, das mit 25.000 Namen von Menschen bedruckt ist, die an HIV/Aids gestorben sind. Foto: © Maxine Henryson 1993 and the Estate of Hunter Reyn

Hunter brachte seine große Garderobe mit nach Deutschland, würdig der Magd aus dem Märchen, die zu jedem Ball ein noch prächtigeres Kleid trägt. Ein schwarzes Kleid, bedruckt in Gold mit über 25.000 Namen von an den Folgen von Aids verstorbenen Personen. Memorial Dress. Ein weißes Kleid mit einem Stoff voller Blutflecke und Haarsträhnen. Ein anderes weißes Kleid erinnert in seiner jungfräulichen Reinheit eher an ein Brautkleid. Und bei einer Ausstellung in Hamburg in den späten 90ern gibt es ein Kleid, das ein etwas klischeehafter Couturier als Traum in Rosa und Hellblau anpreisen würde, fehlte da beim Model nicht der Kopf. Hunter Reynolds Hände waren gefesselt. Über das Gesicht hatte er einen aus dem Kleiderstoff gefertigten Sack gezogen, und das Rokoko-Design des Ausstellungsraums suggerierte einen Bezug zu Marie-Antoinette, die zum Hinrichtungsplatz mit Guillotine geführt wird.

Ein unerschöpflicher Quell kleiner und großer Dramen

Hunter Reynolds war ein Geschichtenerzähler, unerschöpflicher Quell kleiner und großer Dramen, seine eigene Person und Freunde betreffend. Nach der Trennung seiner Eltern blieb er mit der Mutter in Florida, bis diese ihn als etwa 14-Jährigen aus der Wohnung warf, nachdem er eine Gruppe schwuler und lesbischer Schüler*innen gegründet hatte. Er zog zum Vater nach Kalifornien. Dort wurde er zum Opfer einer Entführung – nicht zur Erpressung von Lösegeld, sondern um ihn zu pornografischen Bild- und Filmaufnahmen sadomasochistischen Gehalts zu zwingen. Nach drei Tagen kam er gegen Unterzeichnung einer schon wegen seiner Minderjährigkeit wertlosen Einwilligungserklärung frei. Die Täter wurden verurteilt.

Ebenfalls noch an der Westküste begann Hunter eine künstlerische Ausbildung, zog aber schon 1984 nach New York. Vermutlich fiel es auch in diese Zeit, dass er sich mit HIV infizierte. Eine Infektion, die bestimmend für seine künstlerische Arbeit werden sollte.

In Berlin begegnete Hunter eine romantische Liebe. Und er war als Sexarbeiter tätig. Der Partner war in einer Ausbildung zum Homöopathen. Hunter erzählte von einem Meditationskurs, der im Fisting gipfelte, hatte aberwitzige Schilderungen zu sexuellen Begegnungen privater und professioneller Art auf Lager. Er spann unendlich Geschichten, Gewebe wie das, was er „Photo Wavings“ nannte – große und kleinere Tableaus miteinander vernähter Fotoprints, die in ihrer Montageart an Quilts erinnern. Mal sind sie motivisch organisiert – Bilder von Blumen oder Portraits von Patina du Prey – mal sind es aber auch Kompositionen, in denen aus fotografischen Teilen ein ganz neues Bild entsteht.

Die Geschichte eines Selbstmordversuchs

Später, nach der Rückkehr in die USA, folgten schwerere Phasen: Drogenmissbrauch, Abhängigkeit von Crack und gesundheitliche Tiefschläge. In Erholungsphasen gab es wichtige Ausstellungen und künstlerische Erfolge. Eben aus jener Zeit stammt auch Hunters Geschichte eines Selbstmordversuchs. Diese ist mit ihrer Verknüpfung von Dramatik und Komik typisch für all seine Geschichten. Lebensmüde, sehnsüchtig nach Rettung schluckte er alle Tabletten, die sein Medikamentenschrank zu bieten hatte. Unerklärlicherweise waren keine Tabletten seiner Kombinationstherapie dabei. Da es sich aber hauptsächlich um Tabletten zur Förderung von Haarwuchs handelte, hielt sich der Schaden durch die Überdosis in Grenzen: Auf dem ohnehin stark behaarten Körper spross es noch mehr. Unauflösbar bleibt die Frage, ob die Verzweiflung, über die er sprach, oder der Erfolg des Lachers ihm wichtiger war.

Am 12. Juni 2022 wurde ihm von Atropos der Lebensfaden abgeschnitten. Er starb in seiner Wohnung im New Yorker Stadtteil Greenwich Village. Durch die Operation eines bösartigen Tumors hatte Hunter einige Zeit zuvor sein rechtes Auge verloren. Der Tumor hatte dadurch aber nicht aufgehört zu wuchern.

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