Licht und Schatten über dem Meer
Die HIV-Patienten der reichen Länder haben Zugang zu den lebensrettenden Medikamenten, während in den armen Regionen der Erde noch immer jedes Jahr Millionen von Männern, Frauen und Kindern an Aids sterben. Diese einfache Grundregel gilt heute immer noch, trotz aller nationalen und internationalen Bemühungen der letzten Jahre, immer mehr Betroffene mit den neuesten Therapien zu behandeln. Doch wie jede Regel hat auch diese ihre Ausnahme: Auf den Inseln, die im Südwesten des Indischen Ozeans liegen, selbst in extrem armen Staaten wie Madagaskar oder den Komoren, ist der Zugang zu diesen Arzneien für alle HIV-Infizierten heute Wirklichkeit. Doch alle Probleme sind damit nicht gelöst. Ein Beitrag von Simone Hillebrand
Seit mehreren Jahren schon sind es nicht mehr schwerkranke Aidspatienten aus der Region, die fast permanent die Gästezimmer im Lebenshaus der Aidshilfe RIVE im französischen Überseedepartement Réunion belegen, sondern Ärzte, Krankenschwestern und anderes medizinisches Pflegepersonal der umliegenden Inseln. Sie nehmen auf Réunion, einem Stück tropischen Europas im Indischen Ozean, an Fortbildungsprojekten im Rahmen der regionalen Zusammenarbeit gegen HIV und Aids teil.
Während sich im Erdgeschoss schon mehr als 20 mit HIV lebende Menschen zum Mittagessen eingefunden haben, zu dem RIVE zweimal in der Woche einlädt, packt in Zimmer 2 noch schnell der Arzt aus den Komoren sein Gepäck. Sein vierwöchiges Praktikum in der Immunologieabteilung des Departementskrankenhauses ist zu Ende, er fliegt heute zurück auf seine Heimatinsel. „Zu Beginn des Jahres habe ich schon einmal vier Wochen auf Réunion verbracht, um an der Ausbildung zum Erwerb des Universitätsdiploms „Behandlung von HIV und Hepatitis C“ teilzunehmen. Da ich die Abschlussprüfung dieses theoretischen Teils meiner Ausbildung bestanden habe, konnte ich für dieses Praktikum zurückkommen. Seit gestern bin ich nun endlich international anerkannter Aidsspezialist und darf die modernen Therapien verschreiben.“
Ein Besuch im Lebenshaus hilft Vorurteile abzubauen
Stolz schwingt in seinen Worten mit. Er ist einer von mehr als hundert Ärzten aus Madagaskar, Mauritius, den Seychellen und den Komoren, die in den letzten fünf Jahren auf Réunion ausgebildet wurden. Insgesamt haben mehr als 350 Mediziner, Krankenschwestern, Hebammen und Apotheker Fortbildungen in Saint-Denis, der Hauptstadt von Réunion, besucht. Sie alle haben bei RIVE gewohnt. Seit der Gründung im Jahr 1994 ist die Aidshilfe im Bereich Prävention und Unterstützung auf Réunion tätig und setzt sich zugleich unablässig für die Patienten der gesamten Region ein.
„Der Aufenthalt in unserem Lebenshaus ist sehr prägend für das medizinische Personal der anderen Inseln“, erklärt Jacques Rollin, der selber schon lange HIV-infiziert ist und regelmäßig auch in den Medien offen darüber spricht. „In ihren jeweiligen Heimatländern sehen diese Menschen die HIV-Infizierten oft nur im medizinischen Kontext, der automatisch eine bestimmte Hierarchie, ja oft auch Distanz beinhaltet. Die Tatsache, in einer Aidshilfe untergebracht zu sein, in der Betroffene unbekümmert ein- und ausgehen, von denselben Tellern zu essen wie sie, verändert ihr Verhalten und hilft Vorurteile abzubauen.“
Wenn Jacques Rollin anfängt, von den Begegnungen zu erzählen, die er in seiner Rolle als Koordinator der regionalen Zusammenarbeit auf den anderen Inseln machte, wird deutlich, dass Diskriminierung und Stigmatisierung zu den größten Hindernissen im Kampf gegen Aids gehören. Da ist diese Geschichte von den Frauen, die ihm anvertraut haben, dass sie sich ganz bewusst nicht behandeln lassen, obwohl sie wissen, dass die Medikamente frei zugänglich sind. Doch die Insel, auf der sie leben, ist so klein, dass jeder jeden kennt und die medizinische Schweigepflicht zumeist nur eine Illusion ist. „Diese Frauen haben mir unter Tränen anvertraut, dass sie lieber an Aids sterben als bereits zu Lebzeiten sozial tot zu sein. Wer in ihrer Gesellschaft HIV-infiziert ist, wird von allen verstoßen, sogar von seiner eigenen Familie. Unter diesen Voraussetzungen haben die meisten Menschen doch gar kein Interesse daran, überhaupt zu wissen, ob sie betroffen sind oder nicht!“ Ärger und Wut blitzen nun in seinen blauen Augen auf. Denn menschenverachtende Geschichten dieser Art kennt er viele, zu viele.
Fünf Inseln, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten
Auch wenn es weiterhin große Herausforderungen im Kampf gegen HIV und Aids gibt, so ist es doch erstaunlich, welche Erfolge die regionale Zusammenarbeit von fünf Inseln, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten, bereits erreicht hat.
1996 war definitiv ein Schlüsseljahr: Neue lebensrettende Medikamente, dort unter dem Namen Tritherapie bekannt, verwandelten die zuvor todbringende Krankheit Aids in eine chronische Krankheit und gaben damit Millionen von Menschen wieder Lebensmut. Genauer genommen nur solchen Patienten, die mit dieser neuen Wunderwaffe gegen Aids behandelt wurden, wie zum Beispiel die französischen Staatsbürger auf Réunion. Kaum 200 km weiter, auf Mauritius, war dies nicht der Fall, von Madagaskar, den Komoren und den Seychellen ganz zu schweigen. Doch diese Ungerechtigkeit war gleichzeitig Auslöser für die Ausbildung eines zunächst informellen regionalen Netzwerkes.
Auf Initiative von Catherine Gaud, der wohl bekanntesten Fachärztin für HIV im südwestlichen Teil des Indischen Ozeans, die zugleich Gründerin und Präsidentin der Aidshilfe RIVE ist, schlossen sich Ärzte, Krankenschwestern und Aidsaktivisten zusammen, um die Regierungen der Region zum Handeln zu bewegen. „Bei verschiedenen Reisen in die einzelnen Länder habe ich alles daran gesetzt, in meiner Rolle als Ärztin Zugang zu den jeweiligen Gesundheitsministern zu bekommen.“ Die Entschlossenheit im Blick von Catherine Gaud lässt erahnen, dass es schwer ist, diese Frau von ihrem Ziel abzubringen, wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hat. „Die Patientenzahlen auf den verschiedenen Inseln waren so gering, dass die Betroffenen noch weitestgehend ignoriert wurden. Oft hatten die politischen Entscheidungsträger auch Angst vor den Kosten, die eine moderne Behandlung nach sich zieht. Wir haben unglaublich viel Zeit und Energie investiert, um die einzelnen Regierungen zu sensibilisieren, Ausbildungsprogramme zu erarbeiten und weitreichende Subventionsanträge zu stellen.“
Wer HIV positiv ist, hat keine Zeit zu warten
Jahre gehen ins Land: Nur, wer mit HIV infiziert ist und keinen Zugang zur Tritherapie besitzt, hat keine Zeit zu warten. Auf den Inseln der Region ist der Zustand einiger Kranker dramatisch. Dank des informellen Netzwerkes werden die Patienten, für die es in ihren Ländern keine Hilfe mehr gibt, nach Réunion überstellt. Sie werden von Catherine Gaud und ihrem Team behandelt und im Lebenshaus von RIVE beherbergt. Ein kleines Wunder in Anbetracht der Tatsache, dass die Betroffenen in den meisten Fällen nicht für die Reisekosten und die medizinische Betreuung aufkommen können. RIVE ruft deshalb unerlässlich Spendenaktionen der verschiedensten Art ins Leben.
Und da ist noch ein weiteres Problem: um nach Réunion einreisen zu dürfen, brauchen die Menschen der umliegenden Inseln ein Visum. „Die Ausstellung eines Visums kann Tage oder auch Wochen dauern“, erklärt Thierry Peron, der seit mehr als 14 Jahren bei RIVE arbeitet. „Wie oft haben wir Leute vom Flughafen abgeholt und uns gefragt, ob sie die nächsten 48 Stunden überhaupt noch überleben?“ 115 schwerkranken Menschen aus der Region hat das Lebenshaus von RIVE seit 1996 Unterkunft geboten. Einige sind nur ein paar Tage geblieben, andere bis zu einem Jahr. 112 Patienten konnten gerettet werden. Für drei von ihnen kam jede Hilfe zu spät. Sie sind auf Réunion gestorben.
Heute werden nur noch sehr selten Patienten nach Réunion überführt. Seit 2006 haben alle HIV-infizierten Menschen aus der Region Zugang zu den neuen Therapien. Die einzelnen Regierungen werden von dem Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria, der Weltgesundheitsorganisation oder der Afrikanischen Entwicklungsbank finanziell unterstützt.
Alle Ziele erreicht? Ravane+ sieht das anders. Ravane+ ist das regionale Netzwerk der Menschen mit HIV, zu dem sich die verschiedenen Aidsorganisationen der Inseln im Jahre 2008 offiziell zusammen geschlossen haben. Vor wenigen Monaten noch hat es auf dem alljährlichen Kolloquium „HIV im Indischen Ozean“, das vom 8. bis zum 10. November 2010 auf den Seychellen mehrere Hundert Aktivisten, Ärzte, Repräsentanten des Pflegepersonals und Politiker zusammengebracht hat, für Aufruhr gesorgt. In der Deklaration, die Ravane+ am letzten Tag des Zusammentreffens veröffentlicht hat, war von politischem Druck im Vorfeld des Kolloquiums in einigen Ländern die Rede, vom regelmäßigen Ausfall einiger technischer Geräte, die für eine moderne Behandlung unabdingbar sind, vom schlechtem Management der Medikamentenbestände auf einigen Inseln mit teilweise katastrophalen Folgen für die Patienten, von fehlendem politischen Willen, effizient gegen Diskriminierung und Stigmatisierung vorzugehen.
Scheitern ist keine Option
Und seit Jahren schon braut sich eine weitere große dunkle Wolke über den Inseln des Indischen Ozeans zusammen. Ein richtiger tropischer Wirbelsturm, der in Mauritius bereits großes Unheil angerichtet hat und nun auch die Seychellen und Madagaskar erreicht: das Problem der intravenös injizierten Drogen. Mauritius stand im vergangenen Jahr an zweiter Stelle auf der UN-Liste der heroinkonsumierenden Länder. Diese Information lassen die mauritianischen Offiziellen, stets besorgt um das Image der Insel als Ferienparadies, so gut es geht im endlosen weißen Sandstrand versickern.
Unterschiedlichen Schätzungen zufolge sind dort zwischen 10 000 und 24 000 Menschen drogenabhängig und die Bevölkerung der Insel entspricht mit 1,2 Millionen Menschen ungefähr der von München. Neben den massiv schädigenden Auswirkungen auf die körperliche und psychische Gesundheit der Betroffenen und dem Anstieg der Verbrechensrate im ganzen Land führt das Drogenproblem in seinem Schlepptau auch eine drastische Erhöhung der HIV-Infektionen mit sich. In den letzten Jahren haben sich die Aidsstatistiken auf einem hohen Niveau eingespielt.
Den Rekord hält das Jahr 2005 mit 921 neuen Fällen: Innerhalb von nur zwölf Monaten wurden mehr als dreimal so viele Patienten diagnostiziert wie in den Jahren von 1987 bis 2001 insgesamt. Auch auf den Seychellen stellt der Drogenkonsum mittlerweile den hauptsächlichen Übertragungsweg von HIV dar. Die Fälle aus Madagaskar mehren sich ebenfalls. Mauritius hat lange gezögert, bis in der Drogenpolitik neben Repression auch Präventionsprogramme ihren Platz fanden und dafür zahlt der kleine Inselstaat heute einen teuren Preis. Diesen Fehler wollen die anderen nicht begehen. Alle sind sich der Ernsthaftigkeit der Lage bewusst und stimmen überein, dass angesichts dieser großen Herausforderung so schnell wie möglich Lösungen gefunden werden müssen. Scheitern ist keine Option. Dafür haben die Inseln der Region schon zu viel gemeinsam erreicht.
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