KRIEG IN DER UKRAINE

PlusUkrDe: Deutschlandweiter Support für Ukrainer*innen mit HIV

Von Axel Schock
Logo des Vereins PlusUkrDe auf einem Schild bei einem Protest vor dem BRandenburger Tor in Berlin (Foto: Johannes Berger)
Protest vor dem Brandenburger Tor in Berlin am 23. Mai 2023 (Foto: Johannes Berger)

Queere, HIV-positive und suchtkranke Menschen, die aus der Ukraine nach Deutschland geflohen sind, finden Hilfe bei PlusUkrDe. Der Verein benötigt wegen steigender Anfragen dringend Unterstützung. Ein Gespräch mit den PlusUkrDe-Aktivist*innen Volodymyr Zhovtyak, Kristina Shapran und Rostyslav Dzundza.

Volodymyr Zhovtyak, Vorstandsitzender von PlusUkrDe e. V., lebt seit März 2022 in Deutschland. Er ist Mitbegründer der ukrainischen HIV-Selbsthilfeorganisation „100 % Life“, einer der führenden Köpfe der HIV-Bewegung in der Ukraine und setzt sich auch überregional für Menschen mit HIV/Aids in Osteuropa und Zentralasien ein. (Foto: Johannes Berger)

Mehr als 10.000 Ukrainer*innen mit HIV leben derzeit in Deutschland, so eine Schätzung. Aktuelle Zahlen gibt es nicht. Wie verkraften die Geflüchteten ihre Situation?

Volodymyr Zhovtyak: Das ist sehr unterschiedlich. Manche haben sich bereits eingelebt, besuchen Deutschkurse und können sich einen Job suchen. Andere sind erst in den letzten Monaten aus der Ukraine geflohen, als dort die Energie- und Wasserversorgung zusammengebrochen ist, und leiden besonders unter den psychischen Folgen des Krieges. Vielen ist nichts mehr geblieben. Wenn sie in Deutschland ankommen, fühlen sie sich zunächst sicher. Aber es folgen bürokratische Hürden für Krankenversicherung, Unterkunft und die Finanzierung des täglichen Bedarfs – zusätzlicher Stress. Im Laufe der Zeit leiden viele unter Depressionen, Angstzuständen oder posttraumatischen Belastungsstörungen und benötigen eine psychologische Therapie. Angesichts der langen Wartelisten sowie der Sprachbarrieren haben wir für dieses Problem noch keine Lösung.

Viele fühlen sie sich in Deutschland zunächst sicher, doch es folgen bürokratische Hürden für Krankenversicherung, Unterkunft und die Finanzierung des täglichen Bedarfs.

Mit welchen zusätzlichen Belastungen haben Menschen mit HIV zu kämpfen?

Volodymyr Zhovtyak: Die genannten Umstände lasten auf Drogengebraucher*innen, LGBTIQ* und Menschen mit HIV oft besonders schwer. Es ist aufwendig und dauert lange, bis die Krankenversicherung geregelt ist. Solange müssen beispielsweise HIV-positive Drogenkonsument*innen ungewollt ihre Substitutions- oder HIV-Behandlung unterbrechen, weil ihnen die Medikamente fehlen.

Viele haben nicht einmal ihrer Familie von ihrer Erkrankung erzählen können und sind nun dazu gezwungen, sich gegenüber ihnen völlig unbekannten Menschen z. B. als HIV-positiv zu outen – für manche eine kaum überwindbare Hürde.

Zudem fällt es ihnen schwer zu verstehen, dass ihre aktuelle Situation mit mangelhafter Gesundheitsversorgung und Bürokratie zu tun hat. Wer denkt, wegen der HIV-Infektion keine Wohnung zu bekommen, wagt oft nicht einmal nach Hilfe zu fragen.

Der Verein PlusUkrDe e. V. von und für HIV-positive Ukrainer*innen in Deutschland ist nun für viele dieser Menschen zu einer wichtigen Anlaufstelle geworden.

Volodymyr Zhovtyak: Mehr als 100 Ukrainer*innen haben sich seit Kriegsbeginn in diesem Verein zusammengeschlossen, um sich gegenseitig und auch die aus der Ukraine nachkommenden Menschen mit HIV zu unterstützen.

Wir wiederum bekamen große Unterstützung durch die Deutsche Aidshilfe und die Berliner Aidshilfe, konnten ein Hilfsnetzwerk aufbauen und auch Seminare für Ukrainer*innen durchführen. So konnten wir die Barrieren und Probleme, mit denen die verschiedenen HIV-positiven Gruppen – Frauen, LGBTIQ*, Teenager, Drogengebraucher*innen – in Deutschland konfrontiert sind, herausarbeiten.

Kristina Shapran ist in der Ukraine durch ihre Social-Media-Präsenz zu großer Bekanntheit gelangt. Als Sexualpädagogin und Intimitätscoach lebt sie derzeit in Berlin. (Foto: Johannes Berger)

Der Anteil von Frauen und Jugendlichen mit HIV ist in der Ukraine deutlich höher als in Deutschland, wie die HIV-Aktivistin Kristina Shapran aus Kyiv erläutert.

Kristina Shapran: Rund 60 % der Ukrainer*innen mit HIV sind Frauen – und zwar nicht, wie manche denken, ausschließlich Sexarbeiterinnen. Die Frauen kommen aus allen Teilen der Gesellschaft. Während in Westeuropa zu Beginn der HIV-Epidemie vor allem Männer betroffen waren, die Sex mit Männern haben, waren es in der Ukraine vor allem Drogengebraucher*innen. Hinzu kommt, dass in der Ukraine weniger offen über Sexualität gesprochen wurde und LSBTIQA* ihre Sexualität nicht offen ausleben konnten. Durch die Gespräche, die ich als Sexualpädagogin geführt habe, weiß ich, dass viele homo- bzw. bisexuelle Männer ihre Sexualität heimlich ausgelebt und so ihre Ehefrauen infiziert haben.

Mit welchen Problemen haben die nach Deutschland geflohenen Ukrainer*innen zu kämpfen?

Kristina Shapran: Viele von ihnen stehen unter enormer psychischer Belastung, weil etwa ihre Männer beim Militär um ihr Leben fürchten oder deren Schicksal ungewiss ist. Wir erleben gerade eine große Scheidungswelle, weil durch den Krieg und die lange Trennung viele Beziehungen bereits in die Brüche gegangen sind. Ich kenne inzwischen viele HIV-positive Frauen, die in Depressionen fallen, weil sie glauben, nie mehr einen neuen Partner zu finden. Diese Frauen benötigen Gesprächsangebote, um ihre Selbststigmatisierung zu überwinden und um zu lernen, dass sie ein ganz normales Leben führen können.

Wie kommen die Jugendlichen mit HIV mit der neuen Lebenssituation zu recht?

Kristina Shapran:Wir konnten bereits einige Treffen zwischen deutschen und ukrainischen Teenagern organisieren. Die Jugendlichen aus der Ukraine gehen überraschenderweise viel selbstverständlicher mit ihrer HIV-Infektion um, sind sehr aktiv und gehen an die Öffentlichkeit. Viele von ihnen waren in der Ukraine bereits in HIV-Organisationen engagiert. Für die deutschen Jugendlichen war der Austausch bei den Treffen daher sehr anregend und empowernd. Derweil ist für ukrainische Teenager eher ein Mentoring in Sachen Sex notwendig, da es in der Ukraine so gut wie keine Sexualaufklärung gibt.

Rostyslav Dzundza war viele Jahre u. a. auf europäischer Ebene für das ukrainische Sozialministerium tätig. Er lebt derzeit in Berlin und kümmert sich bei PlusUkrDe e. V. um die Belange von queeren Menschen. (Foto: Johannes Berger)

Rostyslav Dzundza: Die meisten LGBTIQ* zieht es nach Berlin. Viele von ihnen waren zuvor in kleineren Städten untergebracht, haben dort aber keinen Anschluss gefunden und Diskriminierung erlebt. Allerdings können sie aufgrund der sogenannten Wohnsitzauflage nicht so einfach in ein anderes Bundesland umziehen, wenn sie z. B. noch keine Anstellung haben. Ohne Unterstützung beantragen zu können, oft ohne festen Wohnsitz, versuchen sich z. B. viele MSM durchzuschlagen, indem sie Geld mit Sexarbeit verdienen. Wir möchten deshalb für LGBTIQ* eine Notunterkunft einrichten – etwa für jene, die zuvor in Polen oder Tschechien Schutz gesucht haben, sich aber dort nicht sicher fühlten, oder solche, die Visa für die USA oder Kanada gestellt haben und die Zeit bis zur Bewilligung überbrücken müssen.

PlusUkrDe e. V. wurde im August 2022 gegründet, um aus der Ukraine geflüchtete Menschen mit HIV, LGBTIQ*, Sexarbeiter*innen, Drogenkonsument*innen sowie alle durch HIV gefährdete Gruppen und ihre Angehörigen zu unterstützen. Zudem setzt sich der Verein für einen barrierefreien Zugang zu HIV-Behandlung für Ukrainer*innen in Deutschland ein. (Foto: Johannes Berger)

Volodymyr Zhovtyak: Ein großer Teil unserer Arbeit besteht darin, Menschen mit HIV zum Jobcenter, zu Ärzt*innen und Behörden zu begleiten oder ihnen beim Ausfüllen der Formulare zu helfen. Das ist sehr viel und sehr wichtige Arbeit. Inzwischen kommen wir als Ehrenamtliche damit an unsere Grenzen und benötigen finanzielle Unterstützung – auch um die Beratung professionalisieren zu können.

Ein anderer elementarer Teil unserer Arbeit sind Gruppentreffen der Menschen mit HIV. Dort informieren wir beispielsweise über das deutsche Sozialhilfesystem oder laden Expert*innen ein. Genauso wichtig sind Treffen, bei denen alle einfach eine gute Zeit zusammen haben, sich als Teil einer Gruppe fühlen und gegenseitig unterstützen können. Wir möchten einen Safer Space anbieten.

PlusUkrDe muss bekannter werden – hier und auch in der Ukraine, damit Menschen mit HIV sich vor der Flucht informieren können.

Liegt der Schwerpunkt der Aktivitäten des Vereins in Berlin, wo die meisten der Menschen mit HIV aus der Ukraine Zuflucht gefunden haben?

Volodymyr Zhovtyak: Wir sind in Berlin am besten vernetzt, aber durch Facebook und Telegram deutschlandweit mit Menschen in Kontakt. Viele Menschen in unserem Verein waren in der Ukraine sehr aktiv und bringen entsprechende Erfahrungen mit. Zwar haben wir die personellen Ressourcen, um Gruppen in anderen Städten aufbauen zu können, doch wir benötigen Räume für die Treffen. Da hoffen wir auf Kooperationen mit den örtlichen Aidshilfen und anderen Einrichtungen. Durch die Deutsche Aidshilfe entstanden bereits Kontakte nach Hannover und Frankfurt/Main. Grundsätzlich sind wir für jegliche Form der Unterstützung dankbar, mit der wir unsere Potentiale als Organisation in Deutschland stärken können.

Eine unsere Hauptaufgaben ist derzeit, unsere Initiative bekannter zu machen – nicht nur in der ukrainischen Community in Deutschland, sondern auch in der Ukraine, damit Menschen mit HIV sich vor der Flucht über Hilfsangebote in Deutschland informieren können. Derzeit bereiten wir Infobroschüren für ukrainische HIV-Positive und Substituierte vor, die wir in Unterkünften, HIV-Schwerpunkt- und Substitutionspraxen verteilen möchten.

Welche Wünsche gibt es an die politischen Verantwortlichen in Deutschland?

Wir benötigen hier eine politische Lösung: Menschen mit HIV und Drogengebraucher*innen sollten bereits mit der Registrierung eine Krankenversicherung erhalten.

Volodymyr Zhovtyak: Wir benötigen eine politische Lösung für jene Menschen mit HIV, die neu ankommen. Menschen mit HIV und Drogengebraucher*innen sollten bereits mit der Registrierung eine Krankenversicherung erhalten. Denn viele von ihnen haben oft keine oder nicht ausreichend Medikamente dabei und müssen deshalb schnell Zugang zum Gesundheitssystem bekommen. Das ist für sie lebensnotwendig. Wir haben inzwischen bei über 80 Leuten kurzfristig mit HIV-Medikamenten aushelfen müssen, weil sie zu lange auf ihre Krankenversicherung warten mussten.

Andere fallen durchs Raster, weil sie in anderen Ländern registriert wurden und sich nun faktisch illegal in Deutschland aufhalten. Auch für diese Menschen müssen wir eine Lösung finden. Mir sind zwei Fälle bekannt, wo Menschen zurück in die Ukraine gegangen sind, weil sie am wochenlangen bürokratischen Anmeldeprozess verzweifelt waren.

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