Von Prof. Dr. oec. Dr. phil. habil. Gundula Barsch*

Etwa seit dem Jahr 2009 präsentieren die deutschen Medien regelmäßig mehr oder weniger gut recherchierte Berichte über die „Monsterdroge Crystal“. Allerdings macht diese Substanz in verschiedenen Regionen der Welt schon lange Furore und ist vielerorts unübersehbar mit dramatischen gesundheitlichen und sozialen Folgen für die Konsumenten verbunden (vgl. u. a. Auslandsjournal vom 27.03.2013).

Hilflos erscheinen jedoch die altbekannten Versuche, durch Abschreckung den Konsum dieser Substanz zu verhindern. Wie bei fast jeder neu aufkommenden psychoaktiven Substanz tauchen auch jetzt wieder Bilder von Menschen auf, die auf Vorher- und Nachher-Bildern mit den sogenannten Faces of Meth präsentiert werden. Dieses Mal sind es Crystal konsumierende Frauen und Männer, die in der Regel unter den Bedingungen ihrer Strafgefangenschaft im Gefängnis fotografiert werden. Deren augenscheinlich schlechter körperlicher Zustand sorgt bei den Lesern für Erschauern und Erschrecken. Auch wenn sie im Bemühen um Prävention gut gemeint sind, ist ihr Wert für eine sachgerechte Aufklärung mehr als zweifelhaft. In der ersten deutschen Studie, die Einblicke in den Lebens- und Konsumalltag von Crystal-Konsumenten liefert, lassen sich sogar Hinweise dafür finden, dass diese medialen Inszenierungen bei den Konsumenten kontraproduktive Wirkungen auslösen (vgl. Barsch 2014).

In Deutschland haben diese Bilder ihre Popularität vor allem über die Titelseiten großer Tageszeitungen und Magazine erhalten. Auf diesen werden immer wieder die so betitelten „Crystal-Monster“ gezeigt und die sogenannte Todesdroge indirekt geradezu beworben (vgl. u. a. Süddeutsche Zeitung vom 27.02.2012, Die Welt vom 22.05.2013) – dies, obwohl längst bekannt ist, dass Bilder dieser Art die sachgerechte Auseinandersetzung mit den Risiken einer psychoaktiven Substanz eher verhindern als fördern.

Unbefriedigende epidemiologische Datenlage

Die Datenlage zu der Verbreitung und den Konsumformen von Methamphetamin, das gegenwärtig unter dem Szenenamen „Crystal“ kursiert, ist sowohl in Europa als auch in Deutschland unbefriedigend: In den epidemiologischen Berichten wird in der Regel nicht zwischen Amphetamin und Methamphetamin unterschieden. Deshalb beschränkt sich der Versuch, einen Überblick über die Verbreitung dieser Substanz zu präsentieren, darauf, den Daten zu Weckaminen nachzugehen, die unter „Amphetamine“ zusammengefasst werden.

Legt man diese Zahlen für eine Einschätzung zugrunde, wird schnell deutlich, dass der Konsum von Amphetamin in nichtmedizinischen Bezügen auch in Deutschland keineswegs neu ist: Hinweise auf seine Wiederentdeckung zumindest in verschiedenen Feierkulturen gibt es bereits seit Mitte der 1990er-Jahre. Mit einem Durchschnittswert von 2,2 % bei der 12-Monats-Prävalenz unter jungen Erwachsenen im Alter von 15 bis 34 Jahren für 2005 gehörte Deutschland jedoch zu den Ländern mit einer eher mittleren Verbreitung (vgl. EBDD 2006, Kapitel 4). Beschränkt auf einen episodenhaften Konsum blieben zu dieser Zeit ernst zu nehmende physische, psychische und soziale Probleme für die Konsumenten mehrheitlich aus, sodass die verschiedenen Hilfesysteme kaum nennenswert mit Amphetaminkonsumenten konfrontiert waren.

Diese Situation hat sich in den zurückliegenden ca. vier Jahren zumindest in den Regionen Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Bayern deutlich geändert. Zum einen ist der dominierende Amphetaminkonsum (in Szenebezügen als „Speed“ kursierend) nunmehr einem verstärkter Konsum von Methamphetamin gewichen (in Szenebezügen als „Crystal“ kursierend). Zum anderen haben sich mit der Verbreitung von Crystal offensichtlich auch die Konsummuster verändert. Diese führen nunmehr für eine größere Konsumentengruppe auch relativ schnell zu physischen, psychischen und sozialen Problemen.

Als angrenzendes Nachbarland wird speziell Tschechien für das Ankommen dieser Substanz vor allem in den deutschen Grenzregionen verantwortlich gemacht. Allerdings verweisen die heutigen Konsumenten unisono darauf, dass die Beschaffung von Crystal längst völlig unabhängig vom Grenzverkehr zu Tschechien möglich ist.

Crystal in Alltagsbezügen ist keineswegs unbekannt

Unter dem Szenenamen „Crystal“ bzw. „Crystal-Meth“ firmiert die schon lange bekannte psychoaktive Substanz Methamphetamin, die nunmehr in größerem Umfang auch für den Freizeitkonsum entdeckt wird. Unter dem bereits seit 1933 bekannten Medikamentennamen „Pervitin“ war Methamphetamin zumindest in der DDR bis 1990 in der Roten Liste der Arzneimittel aufgeführt und als Medikament unspektakulär erhältlich (vgl. Arzneimittel-Verzeichnis 1982, S. 241).

Nachdem das Medikament in Zuge der deutschen Vereinheitlichungen vom Markt genommen wurde, lassen sich bereits in den 1990er-Jahren Hinweise dafür finden, dass Methamphetamin weiterhin in bestimmten kulturellen Milieus im Freizeitbereich genutzt wurde: u. a. in der schwulen Subkultur (vgl. Kreye 2005), in der Tanzpartyszene (vgl. Cousto 2005) und unter Sportlern (vgl. u. a. Agassi 2009). Allerdings avancierte der   Crystal-Konsum bis dahin nicht zu einem allgemeinen Trend (vgl. Reitox-Bericht 2011, S. 50). Befragte ältere Konsumenten erinnern sich regelmäßig, dass Methamphetamin in den 90er-Jahren als „Piko“ verfügbar war und „… immer mal wieder konsumiert wurde“ (Barsch 2014, S. 14). Allerdings zog dieses Konsumverhalten keine besondere soziale Aufmerksamkeit auf sich und blieb weitgehend unbemerkt.

In Deutschland ändert sich diese Situation seit etwa 2007. Interessant ist, dass sich diese Entwicklungen mit einer erstaunlichen regionalen Unterschiedlichkeit vollziehen. Beobachtbar ist ein deutliches Süd-Nord-Gefälle, weshalb insbesondere die südlichen Bundesländer mit Problemen konfrontiert sind, die auf den Crystal-Konsum zurückgehen. Die nördlichen Bundesländer kennen das Phänomen des Crystal-Konsums zwar aus Einzelfällen, sind aber diesbezüglich nicht mit großen Belastungen konfrontiert. Im Gegensatz dazu wird insbesondere in den an Tschechien grenzenden bzw. grenznahen Teilen Bayerns, Thüringens und Sachsens sowie in den südlichen Teilen Sachsen-Anhalts und Brandenburgs auf eine wachsende Konfrontation der Hilfesysteme mit Problemen des Crystal-Konsums verwiesen.

Unabhängig von den jeweiligen regionalen Besonderheiten vollziehen sich die mit dem Crystal-Konsum einhergehenden Entwicklungen trotz regelmäßiger epidemiologischer Studien ohne große Vorwarnungen und treffen auf ein eher überraschtes und nicht gut vorbereites Präventionsund Hilfesystem.

Crystal-Konsum: Probleme kommen in vielen Hilfesystemen an

Während die Ausmaße des Crystal-Konsums, seine Einbettung in den Lebensund Konsumalltag, die damit verbundenen Herausforderungen und Risiken für die Konsumenten und die in diesem Zusammenhang bisher praktizierten Bewältigungsstrategien wenig bekannt sind, kommen die durch Crystal-Konsum ausgelösten Folgen in sehr unterschiedlichen Facetten im Hilfesystem an. Sie stellen sich u. a. dar:

  • in neuen Herausforderungen an Polizei und Sicherheitskräfte, die zu Auseinandersetzungen mit hoch agitierten und psychotischen Personen gerufen werden;
  • in neuen Fragestellungen in Bezug auf das Wohl von Kindern Crystal konsumierender Eltern, die sich immer wieder in Situationen hineinmanövrieren, in denen sie die Verantwortung für ihre Kinder nicht wahrnehmen;
  • in der Ratlosigkeit von Jugendsozialarbeitern, denen es mit bisherigen Angeboten nicht mehr gelingt, Kontakt zu Crystalkonsumierenden Kindern und Jugendlichen herzustellen und zu halten;
  • in dem Befremden von Eltern, Angehörigen und Freunden, die die Wesensveränderungen von Crystal-Konsumenten nicht einordnen können und auf deren verstörendes Sozialverhalten mit Wut, Verzweiflung und oft auch Kontaktabbruch reagieren;
  • in Schwangerschaftsberatungsstellen, in denen werdende sehr junge Mütter (15-17 Jahre) betreut werden, die ihren CrystalKonsum nicht einstellen, obwohl bereits Schädigungen des Kindes nachweisbar sind;
  • in zumeist Hausarztpraxen, die die eigentlichen Ursachen der oft starken Behandlungsbedürftigkeit der Patienten nicht erkennen und diese nicht in nötigen längeren Behandlungen halten können;
  • und nicht zuletzt im Drogenhilfesystem, in dem sich ein deutlicher Anstieg von Klienten nachweisen lässt, die zumindest neben anderen Substanzen Crystal konsumieren, während einer Substitutionsbehandlung Crystal beikonsumieren oder tatsächlich als Hauptproblem ihren problematischen Crystal-Konsum angeben und von diesem entgiften und/ oder entwöhnen wollen, von den vorgehaltenen Angeboten aber nur bedingt profitieren können (vgl. unveröffentlichtes Protokoll des Runden Tisches Saalekreis/Halle vom 17.04.2013).

 

Deutlich wird, dass zumindest in vielen Regionen der südlichen Bundesländer Deutschlands große Teile des psycho-sozialen und medizinischen Hilfesystems mit Problemen konfrontiert sind, die durch Crystal-Konsum induziert werden und sich nicht mit den bisherigen Routinen und Angeboten bewältigen lassen.

Mit innovativen Handlungsstrategien couragiert starten

Mit der Entdeckung billiger, ergiebiger und noch nicht kriminalisierter Rohstoffe zur Produktion hochpotenten Methamphetamins sind die Preisbarrieren schon jetzt gefallen. „Eine Nase Crystal“ ist derweil für weniger als 10 Euro zu haben und ermöglicht Konsumeffekte, die über 48 Stunden andauern können (vgl. Barsch 2014, S. 25). Sowohl die Verfügbarkeit als auch die Verbreitung des Konsums entwickeln sich so rasch, dass nicht genug Zeit für soziale Lernprozesse und eine Innovation der Drogenkonsumkultur bleibt, mit denen den Herausforderungen des Crystal-Konsums begegnet werden könnte. Hierzu ist rasches Reagieren vonseiten des Drogenhilfesystems gefragt.

Für Teile insbesondere der jugendlichen Bevölkerung avanciert Crystal derweil zu einem interessanten Rahmen für Geselligkeit, Spaß und Vergnügen. Es fehlen allerdings Wissen und Fähigkeiten, die Besonderheiten und Risiken des hochpotenten Methamphetamins einschätzen zu können. Insbesondere dort, wo die Konsumenten aus leistungsbezogenen und sinngebenden Strukturen ausgeschlossen sind und nur wenige Impulse erhalten, ihren Konsum zu limitieren, beschränkt sich der Crystal-Konsum nicht mehr auf einzelne Ereignisse und hochselektive Bezüge, sondern wird oft ein obligatorisches Element des Alltags. Daraus leiten sich vielfach verheerende Folgen für die physische, psychische und soziale Gesundheit sowohl der Konsumenten selbst, als auch der Menschen des näheren sozialen Umfeldes ab. Diese können das oft verstörende Sozialverhalten der Crystal-Konsumenten nicht deuten, leiden unter Stress, Unzuverlässigkeit und emotionalen Zurückweisungen und sehen sich hilflos diesen zerstörerischen Entwicklungen ausgeliefert.

Noch immer muss eingeschätzt werden, dass große Teile des Systems der Suchtprävention und Drogenhilfe von dieser Entwicklung überrollt werden – sowohl in den jeweils betroffenen Regionen als auch auf bundespolitischer Ebene. Insbesondere die bundesdrogenpolitisch Verantwortlichen hoffen offensichtlich noch immer darauf, dass diese Konsummuster eine kurzlebige Mode bleiben und sich in ihrer Bedeutung schnell wieder relativieren werden. Nach wie vor dominiert in den Medien die Darstellung abschreckender Bilder und Berichte. Aus diesen ergeben sich allerdings für die Konsumenten kaum Hinweise, wie sie sich mit ihrem Tun einem passenden Risikomanagement unterwerfen könnten. Zu dieser fatalen Situation kommen Rufe aus Expertenkreisen, nach denen es für diese Substanz keine Safer-Use-Strategien geben dürfe.

Es bleibt damit festzuhalten, dass es noch immer wertvolle Zeit kostet, die national wie international längst bewährten Strategien von Harm Reduction und Entwicklung von Drogenmündigkeit durchzusetzen und dafür mit entsprechenden Informations- und Aufklärungskonzepten Lernprozesse anzustoßen, selbstorganisierte Entwicklungsprozesse innerhalb der Drogenkultur zu fördern und die betroffenen Länder bei der Bewältigung der durch Crystal-Konsum entstehenden Problemlagen mit Modellprojekten zu unterstützen.

Unübersehbar ist, dass es keineswegs an Ideen, wohl aber an Geldern für das Austesten innovativer Angebote mangelt.

Literatur

  • Agassi, A. (2009): Open: An Autobiography. Knaur TB Verlag, München
  • Arzneimittel-Verzeichnis: Ausgabe 1982, Teil I. VEB Verlag Volk und Gesundheit, Berlin
  • Barsch, G. (2014): Crystal-Meth – Einblicke in den Lebens- und Konsumalltag mit der Modedroge „Crystal“, Pabst Science Publisher, Lengerich
  • Cousto, H. (2005): Fachinformation: Speed, Amphetamin, Methamphetamin – Mischkonsum. In: http://www.drogenkult.net/?file=Speed&view=pdf Stand 09.12.2013
  • Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) (2006): Jahresbericht. Stand der Drogenproblematik in Europa. EBDD, Lissabon
  • Kreye, A. (2005): Lauter Gretchenfragen: Ist die jüngste Drogenepidemie in den USA an den steigenden Aidsraten schuld? In: Süddeutsche Zeitung, 14.07.2005
  • Pfeiffer-Gerschel, T., Kipke, I., Flöter, St., Jakob, L., Hammes, D., Raiser, P. (2011): Bericht 2011 des nationalen REITOX-Knotenpunkts an die EBDD: DEUTSCHLAND – Neue Entwicklungen, Trends und Hintergrundinformationen zu Schwerpunktthemen. Drogensituation 2010/2011

 

*Dieser Beitrag erschien zuerst im Alternativen Drogen- und Suchtbericht 2014, herausgegeben von akzept e.V., Deutsche AIDS-Hilfe e.V. und JES Bundesverband e.V.: http://alternativer-drogenbericht.de/crystal-eine-neue-psychoaktive-substanz-bewegt-das-land/. Wir danken der Autorin herzlich für die Erlaubnis, ihn hier zu veröffentlichen.

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