Haben Menschen mit HIV ein höheres Risiko, sich mit dem Coronavirus zu infizieren? Oder schützen HIV-Medikamente möglicherweise sogar vor einem schweren Krankheitsverlauf? Im Rahmen der Corona-Pandemie stellen sich für Menschen mit HIV wie auch für PrEP-User viele Fragen. Der Hamburger HIV-Mediziner Prof. Dr. Hans-Jürgen Stellbrink, Vorstandsmitglied der Deutschen AIDS-Gesellschaft (DAIG), gibt Antworten.

In den vergangenen Wochen und Monaten ist viel darüber spekuliert worden, ob und inwieweit Menschen mit HIV ein größeres oder im Gegenteil, sogar ein geringeres Risiko haben, an COVID-19 zu erkranken. Haben Sie unter Ihren HIV-Patient_innen im Infektionsmedizinischen Centrum Hamburg viele Corona-Infektionen beobachten können?

Wir haben zwar einige COVID-19-Infektionen gesehen, doch im Verhältnis zur Gesamtzahl der von uns betreuten Patienten sind das nach wie vor sehr wenige. Ähnliches höre ich auch von anderen HIV-Schwerpunktpraxen. Es sind also keineswegs solch große Zahlen, wie wir das zu Beginn der Krise befürchtet hatten.

Müssen Menschen mit HIV im Falle einer Corona-Infektion mit einem schwereren Krankheitsverlauf rechnen?

Es ist sicherlich sinnvoll, zunächst einmal davon auszugehen, dass unbehandelte HIV-Infizierte bzw. HIV-Patienten mit einer sehr niedrigen CD4-Zellzahl aufgrund dieser stärkeren Immunsuppression gefährdeter sein könnten. Aber es gibt dafür bisher keinen Beleg.

Die wenigen HIV-Patienten mit COVID-19, die bisher international beobachtet wurden, hatten eigentlich denselben Verlauf wie andere COVID-19-Erkrankte. Auffällig bei diesen Fallserien ist jedoch, dass das Durchschnittsalter dieser HIV-Patienten etwas unter jenem der anderen COVID-19-Erkrankten liegt.

Begleiterkrankungen werden bei HIV-Patient_innen früher festgestellt

Lässt das niedrigere Durchschnittsalter der HIV-infizierten mit COVID-19-Erkrankungen darauf schließen, dass diese Patient_innengruppe vielleicht bereits früher durch entsprechende Begleiterkrankungen belastet ist?

Das trifft teilweise sicherlich zu. Auf der anderen Seite werden HIV-Patienten kontinuierlich betreut. Wir messen beispielsweise bei jeder Blutabnahme auch Blutdruck und Blutzucker, ein- bis zweimal im Jahr auch das Gewicht. Insofern werden manche Begleiterkrankungen auch früher festgestellt.

Haben Menschen mit HIV aufgrund der Immunsuppression ein erhöhtes Risiko, sich mit Corona zu infizieren?

Dafür haben wir bisher keinerlei Anhaltspunkte. Bei einem so hochinfektiösen Virus wäre das auch sehr verwunderlich.

Und könnte bei HIV-Infizierten, die an COVID-19 erkranken, der Krankheitsverlauf dramatischer ausfallen?

Bislang gibt es keinerlei Hinweis darauf, dass die HIV-Infektion aufgrund der Störungen der Immunfunktion eine schlechtere Prognose im Falle einer COVID-19-Erkrankung bedingt.

Man könnte spekulieren, dass die Immununterdrückung unter Umständen sogar von Vorteil sein könnte. Aus einer vor kurzem veröffentlichten Studie wissen wir, dass das immununterdrückende Medikament Dexamethason bei schweren COVID-19-Erkrankungen die Sterblichkeit reduziert hat.

Wir wissen, dass Begleiterkrankungen das Risiko auf schwerere Verläufe von COVID-19-Erkrankungen erhöhen. Sind insbesondere Langzeitpositive, die beispielsweise aufgrund von Medikamentennebenwirkungen mit Herzproblemen, Nieren- oder Leberschäden zu kämpfen haben, besonders gefährdet?

Dafür gibt es bisher keine Evidenz. Was wir uns aber vor Augen halten sollten: Das Coronavirus verursacht in vielen Fällen eine schwere Lungenentzündung, also eine schwere Störung des Gasaustausches. Das kann bei HIV-Patienten, selbst wenn sie unter der Nachweisgrenze sind, aber auch bei Nicht-HIV-Infizierten dazu führen, dass bereits vorhandene Gefäßverengungen auf einmal relevant werden – zum Beispiel, weil das Herz nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird. Ähnliches gilt für Begleiterkrankungen wie Diabetes und Hypertonus. Wenn also der Blutzucker und Blutdruck gut eingestellt sind, scheint das Risiko wieder geringer zu sein.

Ich glaube, wir haben bei unseren HIV-Patienten eine einmalige Chance, da wir sie in der Regel durch ihre gesamte Krankheitsgeschichte begleiten – die Begleiterkrankungen miteingeschlossen. Dadurch können wir sie optimal behandeln, sodass sie – falls sie sich mit Corona infizieren – trotz der Begleiterkrankungen diese Infektion mit einem eher geringeren Risiko überstehen können.

COVID-19-Pandemie soll nicht dazu führen, dass Arztbesuche nicht wahrgenommen werden

Im Zuge der Kontaktbeschränkungen haben viele Menschen auch auf Arztbesuche verzichtet – auch HIV-Patient_innen.

Die Gefährdung durch das Coronavirus soll nicht dazu führen, dass Patienten über Monate notwendige Begleituntersuchung und Kontrolltermine nicht wahrnehmen. Wir haben das in unserer Praxis leider selbst auch erlebt. Höchst problematisch und riskant ist das insbesondere bei Patienten, die eine Therapie erhalten, deren Wirksamkeit gefährdet ist, und bei Patienten unter PrEP, die diese wegen der Coronavirus-Epidemie unterbrechen.

Wir sollten nicht vergessen: Einige HIV-Neuinfektionen trotz PrEP sind verursacht durch Unterbrechungen der PrEP-Einnahme.

Viele PrEP-User haben die Einnahme der Medikamente während des Lockdowns ausgesetzt, da sie davon ausgingen, dass sie in nächster Zeit ohnehin keinen Sex haben werden.

Das ist im Grunde richtig gedacht. Aber dann ergibt sich vielleicht doch eine Situation, in der es zum Sex kommt und das Infektionsrisiko als gering eingeschätzt wird. Ich sehe deshalb ein wenig die Gefahr, dass wir aufgrund dieser Corona-bedingten Unterbrechungen der PrEP doch HIV-Infektionen sehen werden. Das ist im Augenblick zwar eher hypothetisch, aber es bereitet mir dennoch Sorgen.

Es gab gerüchteweise die Nachricht, dass PrEP-User aufgrund der HIV-Medikation besonders vor Corona geschützt seien. Können Sie das bestätigen?

Leider werden häufig Informationen zu wissenschaftlichen Untersuchungen in die Welt geschickt, bevor die Daten ausreichend gesichert sind. Das war auch in diesem Fall so. Es gibt zwar Computermodelle, die zeigen, dass sich der Arzneistoff Tenofovir in der Form von Tenofoviralafenamid (TAF) oder Tenofovir-Disoproxilfumerat (TDF) möglicherweise an bestimmte Teile des Coronavirus binden und dadurch eine hemmende Wirkung haben könnte.

Aber wohlgemerkt: Das sind bislang lediglich Computersimulationen. Selbst Studien im Reagenzglas dazu fehlen. Meine Erfahrung ist allerdings, dass die Menschen durch diese bereits zirkulierenden Hypothesen eher ein bisschen motiviert werden, ihre Therapie korrekt einzunehmen, weil zumindest die theoretische Möglichkeit eines Schutzes besteht.

Einschränkungen des Sexlebens in der Pandemie

Da wir gerade beim Thema Sex und Corona sind: Wer eine Corona-Infektion ausschließen möchte, muss vorerst auf Sex mit neuen Bekanntschaften verzichten, oder? Denn weder sind die Abstandsregeln einzuhalten noch kann eine Infektion über Aerosole verhindert werden.

Das ist richtig. Vor einer Weile hätte eine sexuelle Begegnung mit einer fremden Person sogar rechtlich geahndet werden können. Mittlerweile befinden wir uns in einer einigermaßen komfortablen Situation. Zudem haben wir aufgrund der hohen Testrate eine weitaus niedrigere Dunkelziffer als viele andere Länder.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie jemanden treffen, der gerade produktiv infiziert ist, ist also eher gering. Des Weiteren scheint nicht jeder Infizierte das Virus in gleichem Maße weiterzugeben. Es gibt sogenannte „Superspreader“, die gleich 60 Leute infizieren, während bei anderen selbst nach 14 Tagen Isolation bei keinem Familienangehörigen Antikörper nachgewiesen werden konnten.

Es gilt also abzuwägen zwischen konsequentem Sexverzicht und einem kalkulierbaren Risiko?

Im Augenblick müssen wir uns die Frage stellen: Wie lange soll diese Einschränkung der persönlichen Freiheit dauern? Bis es keine Coronavirus-Infektionen mehr gibt? Ich wage zu behaupten, dass wir das in den nächsten ein oder zwei Jahren ohne eine hochwirksame und breit angewendete Impfung nicht erreichen werden.

Der Mensch kann zwar auch ohne Sex leben, aber für viele Menschen ist Sex ein integraler Bestandteil der Lebensqualität. Wir werden deshalb mit einem Kompromiss leben müssen. Und der bedeutet: Jeder muss für sich entscheiden, welche Risiken er oder sie bereit ist, einzugehen, beispielsweise auch in Anbetracht des Alters und der vorhandenen Begleiterkrankungen.

Denn alle Sexualpartner, deren soziale Kontakte er oder sie nicht kennt und die daher theoretisch Teil eines Infektionsnetzwerks sein können, sind für die Betreffenden ein Infektionsrisiko. Zugleich dürfen wir nicht vergessen, dass wir es bei dieser Pandemie mit einem hochgradig infektiösen Virus zu tun haben, an dem auch weiterhin eine signifikante Anzahl von Menschen sterben wird.

Hoffnung auf einen Impfstoff?

Vielleicht hilft ja die Corona-App, um die Lage zu entspannen.

Ich halte die Corona-App für sehr sinnvoll, doch ihr Einsatz muss zeitlich begrenzt bleiben. Denn auch wenn der Datenschutz gewährleistet ist: Wenn sich die App als Tool erst einmal bewährt hat, kommt man vielleicht auf die Idee, es auch auf andere Erkrankungen auszuweiten, zum Beispiel auf Tripper- oder Chlamydien-Infektionen. Das hielte ich für problematisch. Aber im Moment ist das ohnehin nur ein Gedankenspiel.

Zu Beginn der Krise gab es die Besorgnis, dass die Medikamentenversorgung nicht gesichert sein könnte. Haben sich diese Befürchtungen bewahrheitet?

Die Deutsche AIDS-Gesellschaft hat im März und April alle Hersteller und Importeure von HIV-Medikamenten dazu um Auskunft gebeten und alle haben damals Versorgungsengpässe ausgeschlossen ­– vorausgesetzt, dass die Leute keine Bevorratung betreiben. Also nicht ihre Medikamente für sechs Monate im Voraus hamstern. Denn die Firmen importieren bzw. produzieren die Präparate jeweils auf Basis des kalkulierten Bedarfs. Das hat letztlich auch alles gut geklappt.

Dennoch wurden Forderungen laut, die Medikamentenproduktion grundsätzlich wieder verstärkt nach Europa zurückzuholen.

Anders als bei Originalpräparaten wurde die Produktion von Generika in der Tat in preiswerter produzierende Länder wie Indien oder China verlagert. Dadurch besteht viel eher das Risiko, dass die Lieferketten abreißen. Aber bisher haben wir keine Verknappung erlebt, und jeder Patient und jede Patientin hat die benötigten Medikamente bekommen.

Einen wirksamen Corona-Impfstoff wird es wohl frühestens im kommenden Jahr geben, bei der Behandlung schwerer COVID-19-Erkrankungen könnte es schon früher zu einem Durchbruch kommen. Wie schätzen sie die pharmazeutischen Entwicklungen ein?

Möglichst in naher Zukunft die Epidemie mit einer Impfung wirkungsvoll eindämmen

Mit Remdesivir haben wir nun das erste Medikament mit einer nachgewiesenen Wirkung. Die Effekte einer solchen Therapie sind vielleicht noch besser, wenn sie früher gegeben wird, bevor die Entzündungen an den Organen drastisch zunehmen.
Meine Hoffnung ist, dass wir in naher Zukunft erst einmal der Infektion den Giftzahn ziehen können, und dann in der Folge vielleicht eine wirksame Impfung haben, um die Epidemie wirkungsvoll einzudämmen.

Sie glauben nicht, dass wir sie gänzlich beenden können?

Diese Hoffnung teile ich nicht. Nehmen wir als Beispiel die Syphilis. Wir haben mit Penicillin ein Mittel, mit dem wir die Infektionskrankheit problemlos auf der ganzen Welt ausrotten könnten, dennoch gibt es weiterhin neue Infektionen. Wir haben es eben mit komplexen menschlichen Verhaltensweisen zu tun, die sich nicht einfach allein durch die Verfügbarkeit einer wirksamen Therapie verändern lassen.
Zumindest ist das in einer Demokratie und unter freiheitlich denkenden Menschen nicht machbar. Es gibt eben auch die Freiheit, etwas zu tun, was andere Menschen nicht für sinnvoll halten.

Vielen Dank für das Gespräch!

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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