Birgit Schreiber hat für das Buch „Annäherungen. Ein Lesebuch zur Arbeit in Aidshilfen“ Menschen interviewt, die sich haupt- oder ehrenamtlich für einen informierten, selbstbestimmten und solidarischen Umgang mit HIV und Aids engagieren. Zum Beispiel Evelin Tschan, seit 23 Jahren hauptamtliche Mitarbeiterin der AIDS-Hilfe Konstanz:

Evelin Tschan, langjährige Beraterin bei der AIDS-Hilfe Konstanz. Foto: privat

Ich hatte bei meiner Einstellung keine Aidshilfe-Erfahrungen und wurde mit einer Fülle von Aufgaben konfrontiert, zu einer Zeit, als das soziale Klima für Aidskranke noch sehr eisig war und es für viele noch um Leben und Tod ging. Mittlerweile schreiben wir das Jahr 27 nach Entdeckung des Virus, und aus der reinen Selbsthilfeorganisation Deutsche AIDS-Hilfe ist auch eine Serviceorganisation geworden. Die HIV-Infektion ist heute kein Todesurteil mehr, viele Betroffene können relativ gut damit leben. Heute geht es vor allem darum, die Nebenwirkungen der medizinischen Therapie zu managen.

 Unsere Arbeit beruht maßgeblich auf den Erfahrungen, die Betroffene uns vermitteln

Ich konnte mit der Organisation mitwachsen und habe so mein Know-how erworben. Dadurch hatte ich es in manchem leichter als diejenigen, die heute bei einer Aidshilfe Berater oder Beraterin werden möchten. Sie müssen sich in kurzer Zeit ein umfangreiches und komplexes Wissen aneignen.

Die Aidshilfe ist eine lernende Organisation. Das heißt, dass wir uns ständig weiterentwickeln – mit jeder neuen medizinischen Erkenntnis, mit jedem Medikament, jeder neuen Nebenwirkung, jeder gesellschaftlichen Veränderung.

Qualifizierte Aidshilfe-Beratung auch in Konstanz. Foto: Gerhard Giebener, pixelio.de

Eine weitere Konstante ist das Geben und Nehmen zwischen Betroffenen und Mitarbeitern. Nach meiner Erfahrung ist es das, was die Aidshilfe von anderen Organisationen unterscheidet, die sich im Bereich HIV engagieren: Wir sind ein Team von Haupt- und Ehrenamtlichen, und unsere Arbeit beruht maßgeblich auf den Erfahrungen, die Betroffene uns vermitteln. Wir haben ein gemeinsames Ziel: Menschen mit HIV zu stärken, ihnen Hilfe zur Selbsthilfe zu geben, damit sie gut informiert Verantwortung für ihr Leben übernehmen und selbstbewusst Entscheidungen treffen können. Das verstehe ich unter Empowerment.

Kann ich mich in andere Lebenswelten hineindenken?

Neue Berater und Beraterinnen, die nicht selbst aus einer der von HIV betroffenen Gruppen kommen, sollten sich fragen: Kann ich mich auf andere Lebenskonzepte einlassen? Kann ich die Lebensweisen von Männern akzeptieren, die Sex mit Männern haben? Kann ich mich hineindenken in Menschen aus anderen Kulturen, in die Welt von Drogengebrauchern, Exusern oder Substituierten, von Sexarbeitern und Sexarbeiterinnen? Einblicke in diese Lebenswelten können als eine Zumutung empfunden werden oder aber als Bereicherung. Ich kenne Mitarbeiter, die das von ihrer inneren Struktur her nicht ertrugen. Auch ich habe manchmal Dinge kennengelernt, die mich sehr befremdet haben. Aber ich bin mit den Jahren akzeptierender und auch unaufgeregter geworden. Und ich war schon immer empfänglich für Unkonventionelles. Insgesamt gesehen empfinde ich diese Arbeit als eine Bereicherung meines Lebens.

Aidshilfe als lernende Organisation. Foto: Dieter Schütz, pixelio.de

Was die Beratung selbst angeht, vor allem die Face-to-face-Beratung, braucht man dafür Empathie. Das heißt, man kann mitfühlen, darf aber nicht mitleiden. Und man muss erkennen können, ob es dem Gegenüber lediglich um die Fakten geht oder ob hinter der Frage nach der Rente oder einem Schwerpunktarzt in der Nähe noch mehr steckt. Gibt es vielleicht Probleme mit dem Partner, mit den Kindern? Gibt es andere seelische Nöte? Dann muss man vorsichtig ein Gespräch darüber anbieten.

Praktische Erfahrung ist durch nichts zu ersetzen

Bei Menschen, die gerade ein positives Testergebnis erhalten haben, ist es vor allem wichtig, dass man menschliche Präsenz zeigt. Beim ersten Treffen genügt es häufig, die drängendsten Fragen zu beantworten und dann einfach mit den Rat Suchenden einen Tee zu trinken. Sie sollten auf jeden Fall spüren, dass man für sie da ist, wenn irgendwann weitere Fragen auftauchen. Vieles kann man bei Fortbildungen, auf Tagungen, in Workshops der Aidshilfe und anderer Organisationen lernen und trainieren. Doch die praktische Erfahrung ist durch nichts zu ersetzen.

In der Onlineberatung, bei der ich jetzt seit vier Jahren mitarbeite, geht es vor allem um zwei Dinge: Man muss lernen, mit Texten zu arbeiten und zwischen den Zeilen zu lesen. Wir haben ja nur eine E-Mail vor uns, hören keine Stimme, sehen kein Gesicht. Als langjährige Beraterin mit konventioneller Ausbildung stand ich der Onlineberatung zunächst sehr skeptisch gegenüber, heute dagegen bin ich von den Vorteilen überzeugt: Das Medium ist attraktiv, weil die User anonym bleiben können. Sie können direkt und zielgerichtet Fragen stellen und erhalten schnell eine qualifizierte Antwort, in der Regel innerhalb von drei Tagen, oft schon am selben Tag. Wir erreichen online immer mehr Menschen, darunter auch zunehmend mehr ältere.

In der Beratung stellen wir uns immer wieder auf neue Entwicklungen ein

Die Qualität unserer Antworten sichern wir, indem wir vernetzt arbeiten. Wir können uns online in einem Forum austauschen und einander unterstützen. Alle Antwortmails werden von einer Fachaufsicht gelesen. Das gibt uns zusätzliche Sicherheit. Alle Onlineberater treffen sich in regelmäßigen Abständen persönlich, bilden sich fort, entwickeln gemeinsam neue Qualitätsstandards. Nach dem EKAF-Statement von 2008 zum Beispiel, wonach bei gut funktionierender HIV-Therapie eine sexuelle Übertragung des Virus unter bestimmten Bedingungen so gut wie ausgeschlossen ist, mussten wir neu festlegen, wie wir serodifferente Paare künftig beraten wollen.

Onlineberater müssen zwischen den Zeilen lesen können. Foto: Konstantin Brückner, pixelio.de

So stellen wir uns in der Beratung – ob online, telefonisch oder „von Angesicht zu Angesicht“ – immer wieder auf neue Entwicklungen ein. Die Themen reichen dabei von Problemen am Arbeitsplatz über die Frage, ob und wie man sich gegenüber einem neuen Partner outet, bis hin zum Kinderwunsch HIV-infizierter Frauen. Die Beratung in der Schwangerschaft und zur Vorbereitung der Geburt ist für sie besonders wichtig und kann dazu beitragen, dass alle Maßnahmen getroffen werden, durch die das Baby vor HIV geschützt wird. In Baden-Württemberg hat sich im letzten Jahr kein einziges Kind mehr infiziert. Über Entwicklungen wie diese freue ich mich als langjährige Beraterin natürlich sehr.

 

Aus der Reihe „Annäherungen“ sind bisher folgende Beiträge erschienen:

„Manche haben außer der Aidshilfe fast nichts mehr“

„Lasst euch von den Mauern bloß nicht abschrecken!“

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„Gerichte ignorieren Diskriminierungen“

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Einen Sommer lang Junge sein

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Gastbeitrag

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