„Nichtwissen ist keine Entschuldigung für Diskriminierung“
Eine HIV-Therapie unterdrückt die HIV-Vermehrung und verhindert HIV-Übertragungen. Doch ausgerechnet im Gesundheitswesen bestehen weiterhin Verunsicherung und irrationale Ängste.
Was wie eine mysteriöse mathematische Gleichung ausschaut, ist eine Botschaft, die für Menschen mit HIV das Leben veränderte: „N=N“ steht für „Nicht nachweisbar“ = „Nicht übertragbar“. Die HIV-Therapie sorgt nämlich dafür, dass HIV sich nicht vermehren kann: Die Zahl der Viruskopien sinkt unter die sogenannte Nachweisgrenze und HIV kann dann beim Sex nicht mehr übertragen werden. „Nachweisgrenze“ ist dabei ein technischer Begriff für die Zahl der Kopien, die ein Testverfahren braucht, um einen Erreger nachweisen zu können. Die meisten Studien, die hinter N=N stehen, haben mit der Nachweisgrenze 200 Kopien pro Milliliter Blutplasma gearbeitet, und unter 200 Kopien gab es keine sexuelle HIV-Übertragung. Selbst für Mengen von 200 bis 1.000 HIV-Kopien pro Milliliter gibt es keinen klaren Beweis für eine sexuelle Übertragbarkeit.
Die Weltgesundheitsorganisation sagt daher in einem Policy Brief von 2023: Bei nicht nachweisbarer HIV-Menge (egal, mit welchem Testverfahren) gibt es kein Risiko einer sexuellen HIV-Übertragung, bei einer HIV-Menge über der Nachweisgrenze, aber unter 1.000 Kopien ist das Risiko bei fast null bzw. vernachlässigbar.
Dass eine erfolgreiche antiretrovirale Therapie den positiven Nebeneffekt hat, eine sexuelle Übertragung von HIV zu verhindern, wurde erstmals 2008 offiziell durch die Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen der Schweiz erklärt, im sogenannten EKAF-Statement. Damals war diese Erkenntnis noch mit Einschränkungen formuliert – vor allem, dass keine weiteren sexuell übertragenen Infektionen bestehen durften, weil dabei die HIV-Menge leicht steigen kann –, zehn Jahre später hingegen waren auch die letzten Unsicherheiten durch Studien beseitigt.
N=N war ein Befreiungsschlag für Menschen mit HIV
„Nach dem EKAF-Statement hat es aber noch eine ganze Weile gebraucht, bis diese grandiose Nachricht nicht nur im Kopf, sondern auch im Bauch angekommen ist“, sagt Gottfried Dunkel, der in der Aidshilfe NRW unter anderem die Positiven-Selbsthilfe koordiniert. „Als 2018 dann auf der Welt-Aids-Konferenz in Amsterdam ganz ‚offiziell‘ U=U, undetectable equals untransmittable, oder auf Deutsch N=N, nicht nachweisbar ist gleich nicht übertragbar, breit verkündet wurde, war dies eine große Befreiung“, erzählt Gottfried Dunkel. Nicht mehr infektiös zu sein und damit im sexuellen Bereich keine Sorge mehr haben zu müssen, hat Menschen mit HIV nicht nur zu mehr Freiheit, Gelassenheit und Selbstbewusstsein verholfen, sondern sie auch von Ängsten, Scham und Schuldgefühlen befreit.
Mit der Botschaft N=N war zugleich die Hoffnung auf ein Ende jeglicher Diskriminierung von Menschen mit HIV verbunden. Wer sexuell nicht infektiös ist, kann von anderen nicht als Gefahr mehr wahrgenommen werden – und im Alltag hatte es ohnehin nie ein Übertragungsrisiko gegeben.
Gut sechs Jahre nach dem Start der internationalen „U=U“-Community-Kampagne haben sich jedoch Ernüchterung, Enttäuschung und Verärgerung breitgemacht.
So hat die HIV-Präexpositionsprophylaxe (PrEP) zwar die gleiche Verantwortung von Sexualpartner*innen für die HIV-Prävention gestärkt. Doch auf Dating-Plattformen, so Gottfried Dunkels Beobachtung, verschweigen Menschen mit HIV eher, dass sie in Therapie (und deshalb nicht infektiös) sind, und bezeichnen sich stattdessen lieber als PrEP-User*innen. „Es scheinen weiterhin große Scham, Selbststigmatisierung oder nicht aufgearbeitete intrapsychische Schuldgefühle zu bestehen“, so Dunkel.
Die nicht notwendige Fokussierung auf die Zahl der HIV-Kopien wird zur Belastung
Auch im Gesundheitswesen hat die Botschaft N=N bislang nicht den erhofften Effekt gehabt. Im Gegenteil: Der HIV-Menge im Blut wird – ausgerechnet unter medizinischen Fachkräften – zunehmend eine Bedeutung zugesprochen, die sie für die Behandlungen gar nicht hat.
Kerstin Mörsch von der DAH-Kontaktstelle für HIV-bezogene Diskriminierung hat in ihrer Arbeit bereits bei einer ganzen Reihe solcher Vorfälle interveniert. Etwa im Fall von Matthias (Name geändert), bei dem ein ambulanter OP-Termin bevorstand. Dass der Patient HIV-positiv ist, war dem Facharzt bekannt, und auf dessen Nachfrage bestätigte Matthias, dass die HIV-Menge in seinem Blut (oft als Viruslast bezeichnet) unter der Nachweisgrenze liegt. Das aber genügte dem Facharzt nicht: Er ließ sich von der HIV-Schwerpunktpraxis die aktuellen Blutwerte vorlegen. Die Viruslast lag bei 30 Kopien, die technische Nachweisgrenze bei den regulär verfügbaren Testverfahren meist bei 20 Kopien. Der OP-Termin sollte daraufhin auf das Ende des Behandlungstages verschoben werden, weil aus Matthias ja jetzt ein „infektiöser Patient“ geworden sei.
„Weder ein Schreiben an den Arzt noch an die zuständige Ärztekammer konnten dazu führen, dieses Verfahren als unsinnig zu bewerten oder gar als diskriminierendes Vorgehen zu ahnden“, berichtet Kerstin Mörsch. Dabei war die Einschätzung dieses Facharztes nicht wissenschaftlich fundiert und auch im Widerspruch zu allen relevanten Leitlinien. So sagt etwa die „Deutsch-Österreichische Leitlinie zur medikamentösen Postexpositionsprophylaxe nach HIV-Exposition“ – sie regelt, wann eine solche Maßnahme, die eine Infektion nach einer HIV-Übertragung meistens verhindern kann, eingesetzt werden soll und wann nicht: „Eine HIV-PEP soll nicht erfolgen, wenn die HIV-RNA der Indexperson nicht nachweisbar (<50 Kopien HIV-RNA/ml Plasma) ist und kein überdurchschnittliches Risiko einer HIV-Übertragung bestand.“
Selbst bei einem Arbeitsunfall im medizinischen Kontext – etwa durch das Piksen mit einer gebrauchten Spritzennadel oder durch eine Schnittverletzung beim Operieren – müsste nämlich eine erhebliche Menge Blut von dem oder der Patient*in auf den*die Ärzt*in übertragen werden, damit es theoretisch zu einer HIV-Infektion kommen könnte. Ein solches Szenario ist aber genau das: theoretisch (mehr dazu im Interview mit Armin Schafberger). Hinzu kommt: Wenn wirklich ein relevantes HIV-Risiko bestanden haben sollte, gibt es mit der PEP ein hochwirksames Verfahren, um auch das allerletzte Risiko auszuschließen.
Kerstin Mörsch, Kontaktstelle HIV-bezogene Diskriminierung der Deutschen AidshilfeIm klinischen Alltag gibt es ganz offensichtlich eine große Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen und einem gefühlten Infektionsrisiko.
„Seit Jahrzehnten steht fest, dass die Basishygienemaßnahmen, die bei allen Patient*innen angewandt werden – nicht zuletzt zum Schutz vor viel einfacher übertragbaren Infektionen wie Hepatitis B –, zum Schutz vor HIV völlig ausreichen“, betont Kerstin Mörsch. „Dennoch gibt es bei HIV im klinischen Alltag ganz offensichtlich nach wie vor eine große Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Nicht-Risiko und einem lediglich gefühlten Infektionsrisiko“, so Mörsch weiter.
HIV-Patient*innen geraten unter Rechtfertigungsdruck
Paradoxerweise geraten HIV-Patient*innen durch die eigentlich entlastende N=N-Botschaft mehr und mehr in die Situation, gegenüber Beschäftigten im Gesundheitswesen ihre Ungefährlichkeit „beweisen“ zu müssen.
Welche absurden, aber auch verletzenden und diskriminierenden Züge diese Entwicklung mit sich bringt, hat Gottfried Dunkel in einer psychosomatischen Rehaklinik erlebt: Bei seinem Aufnahmegespräch fiel der Satz „Sie sind ja HIV-positiv, aber sicherlich unter der Nachweisgrenze, oder? Dann haben wir ja nichts zu befürchten.“
Viele Menschen mit HIV weisen deshalb von sich aus darauf hin, dass sie unter der Nachweisgrenze sind, um damit deutlich zu machen, dass sie keine „Gefahr“ für das medizinische Personal darstellen, und um behandelt werden zu können wie andere auch.
„Das mag für die Menschen selbst eine entlastende Strategie sein und führt gegebenenfalls auch zum Erfolg“, sagt Kerstin Mörsch. „Aber am Ende bleibt, dass der HIV-Infektion eine Bedeutung zugeschrieben wird, die sie für den Behandlungskontext nicht hat, und man Menschen mit HIV ihr Recht auf gleiche Behandlung vorenthält.“
Das kritisiert auch Gottfried Dunkel: „Alle Menschen, die im Gesundheitswesen Hilfe suchen, egal welcher Art, sind geschwächt und suchen Fürsorge und eine adäquate Behandlung.“ Für Menschen mit HIV könne dieser Gang aber zu einer großen Mehrbelastung werden – und das, obwohl HIV medizinisch längt als „gut behandelbare chronische Erkrankung“ eingeordnet wird.
HIV-Expertin Dr. Annette Haberl, Vorstandsfrau der Deutschen AIDS-Gesellschaft (DAIG), nimmt deshalb ihre ärztlichen Kolleg*innen in die Pflicht: „Es kann nicht die Aufgabe von Menschen mit HIV sein, ihre Ärztinnen und Ärzte über Infektionsrisiken aufzuklären. Die müssen sich schon selber informieren und fortbilden. Nichtwissen ist keine Entschuldigung für Diskriminierung“, so Haberl.
Unwissenheit und irrationale Ängste führen zu Diskriminierungen
Viele Menschen mit HIV sind aufgrund von Mehrfachstigmatisierungen ohnehin besonders vulnerabel – seien es schwule Männer, Migrant*innen oder People of Color, die verschiedenste Erfahrungen mit Ausgrenzung und Diskriminierungen durchlebt haben. Auch wenn diese Menschen gut mit HIV leben können, bleibt die psychische Grundbelastung unterschwellig oft bestehen und wird von negativen Erlebnissen, etwa im Gesundheitswesen, wieder genährt.
„Wenn es einem ohnehin schon schlecht geht, will man sich nicht auch noch darüber Gedanken machen müssen, wie jemand in der Klinik reagiert, wenn HIV zur Sprache kommt“, kritisiert Annette Haberl. Diskriminierungserfahrungen und die Angst vor weiterer Diskriminierung führten dazu, dass Menschen mit HV gezielt solche Ärzt*innen aussuchen, die kein Problem mit HIV haben. „Die Auswahl sollte sich aber nach der ärztlichen Kompetenz richten“, betont Annette Haberl. „Und HIV sollte dabei sowieso kein Problem sein.“
Dr. Annette Haberl, HIV-Expertin und Mitglied im Vorstand der Deutschen AIDS-GesellschaftEs kann nicht die Aufgabe von Menschen mit HIV sein, ihre Ärztinnen und Ärzte über Infektionsrisiken aufzuklären.
Was also ist zu tun, um dieser Entwicklung gegenzusteuern? Zum einen, so Kerstin Mörsch, gelte es weiter die Beschäftigten im Gesundheitswesen über HIV, über Infektionswege und den Umgang mit Patient*innen mit HIV aufzuklären und ihnen die Möglichkeit zu bieten, sich mit ihren eigenen Ängsten auseinanderzusetzen. Viele regionale Aidshilfen gehen dazu schon lange direkt auf Praxen und Kliniken zu, und die Deutsche Aidshilfe hat dazu Infomaterial publiziert, bietet Weiterbildungsprogramme an und hat gerade mit „Fachinformationen für Gesundheitsberufe“ ein Online-Portal veröffentlicht, auf dem fortlaufend aktualisiertes Grundwissen, Bildungsmaterialien und Anregungen für einen zeitgemäßen Umgang mit der HIV-Infektion in Praxis, Ambulanz, Klinik und Pflege abrufbar sind.
Selbstbewusstsein, Wissen und Durchsetzung der Rechte von Menschen mit HIV stärken
Neben der Aufklärung der Menschen aus Medizin und Pflege muss zum anderen aber auch die HIV-Community gestärkt werden: Menschen mit HIV sollten wissen, in welchen Lebensbereichen die Nachweisgrenze relevant ist (das sind nur sehr wenige), und in welchen nicht (in fast allen). Und ihr Selbstbewusstsein sollte so weit gestärkt sein, dass sie Ärzt*innen oder Praxisbeschäftigen bei nicht gerechtfertigter Behandlung widersprechen und sich auch beschweren, um so auf Mängel in der Versorgung hinzuweisen.
Nicht zuletzt, so Kerstin Mörsch, sei auch über rechtliche Schritte nachzudenken: „Juristisch ist bisher noch nicht eindeutig geklärt, ob und wie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz im Gesundheitswesen Anwendung finden kann. Es fehlt an Klagen und an Urteilen, die für Klarheit sorgen könnten. Sollten Menschen mit HIV diesen Weg beschreiten wollen, so unterstützen wir sie gerne dabei.“
Zum Thema N=N und dem Umgang mit Menschen mit HIV im Gesundheitsweisen haben wir ein Interview mit Armin Schafberger geführt, der viele Jahre Medizinreferent der Deutschen Aidshilfe war. Es findet sich unter dem Titel N=N oder Von realen und lediglich gefühlten Infektionsrisiken auf magazin.hiv.
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