Was brauchen trans und nicht-binäre Menschen für ihre sexuelle Gesundheit? Ein Forschungsprojekt liefert Antworten auf diese Frage und zeigt eklatante Missstände in der Versorgung auf.

Zweieinhalb Jahre lang hat die Deutsche Aidshilfe (DAH) gemeinsam mit dem Robert-Koch-Institut (RKI) zu den Bedarfen und Bedürfnissen von trans und nicht-binären Menschen in Bezug auf sexuelle Gesundheit geforscht. Nun liegen die Ergebnisse vor. Dirk Ludigs sprach darüber mit Chris Spurgat und Jonas Hamm von der Deutschen Aidshilfe.

Chris und Jonas, was war der Anlass für dieses Forschungsprojekt?

Chris: In Deutschland gab es bisher keine wissenschaftlichen Erkenntnisse zu dem Thema sexuelle Gesundheit sowie sexuell übertragbare Infektionen in trans und nicht-binären Communitys. Es ging also zunächst darum, Daten zu erheben und einen Grundstein für die weitere Forschung zu legen. International gibt es solche Daten schon, zum Beispiel aus den USA, und die legen die Vermutung nahe, dass Personen aus trans und nicht-binären Communitys häufiger von HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten betroffen sind und in ihrer Gesundheitsversorgung besondere Barrieren erleben.

Wie seid ihr vorgegangen?

Chris: Das Projekt bestand aus zwei Teilen. Im quantitativen Teil, den das Robert-Koch-Institut übernommen hat, wurden mithilfe eines Online-Fragebogens statistische Zahlen erhoben.

Was waren da wesentliche Fragen?

Chris: Zum Beispiel: Wie oft im Leben hatten die Menschen schon sexuell übertragbare Krankheiten? Wie sieht ihr Testverhalten aus? Herauszufinden galt unter anderem, wie hoch der Anteil der Menschen aus trans und nicht-binären Communitys ist, die mit einer HIV-Infektion leben. Gefragt wurde aber auch, welche Diskriminierungen die Studienteilnehmer*innen schon erlebt haben und wie es mit der sexuellen Verhandlungskompetenz aussieht – wie gut es gelingt, Sex nach den eigenen Wünschen zu gestalten. Hierzu liefert das RKI erstmals Zahlen für den deutschen Kontext, und das ist großartig.

Und womit hat sich die DAH befasst?

Chris: Wir haben den Blick zum Beispiel darauf geworfen, inwiefern Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedlich vulnerabel sind – zum Beispiel vor, während oder nach ihrer Transition, vor oder nach ihrem Coming-out. Wir wollten herausfinden, ob solche Prozesse in Bezug auf die allgemeine und speziell die sexuelle Gesundheit eine Rolle spielen, und wenn ja, welche.

Jonas: Wir haben auch versucht, einen erweiterten Blick auf sexuelle Gesundheit zu werfen. Gibt es zum Beispiel psychosoziale Faktoren, die dazu führen, dass Menschen in sexuellen Situationen weniger auf sich Acht geben – zum Beispiel, weil sie sich gegenüber Partner*innen weniger gut durchsetzen können oder sich vulnerabel fühlen?

Was hilft, eine Sexualität zu entwickeln, die guttut und stärkt?

Welche Fragen kamen in den Gesprächen auf?

Jonas: Wie sicher fühlst du dich als Person? Wie wohl fühlst du dich in deinem Körper? Denn wenn du deinen Körper nicht magst, dann ist es dir vielleicht auch nicht so wichtig, ihn zu schützen. Oder anders, wissenschaftlicher formuliert: Wie können sich die spezifischen Belastungen, die trans und nicht-binäre Personen erleben, auf ihr Schutzverhalten auswirken? Aber auch: Welche Faktoren helfen, sich zu empowern? Was hilft den Leuten, ein gutes Selbstbewusstsein und Verhandlungskompetenz und damit am Ende eine Sexualität zu entwickeln, die ihnen guttut, die sie stärkt und in der sie gut auf sich aufpassen können?

Chris: Wir haben aber nicht nur mit den Leuten gesprochen, sondern auch schriftliche und biografische Methoden eingesetzt. Zum Beispiel haben die Teilnehmer*innen unserer Forschungsworkshops Zeitstrahle ihrer sexuellen Biografien erstellt – mit einem Fokus darauf, was ihnen in ihrer Entwicklung geholfen hat und was hinderlich war. Da haben wir sehr wertvolle Einblicke bekommen, die sonst so in Forschung selten auftauchen.

Zeitstrahl einer sexuellen Biografie: Was hat in der Entwicklung geholfen? Was war hinderlich? Illustration von Tomka Weiß

Ihr habt in Tages- und Wochenendveranstaltungen und Einzelinterviews mit insgesamt fast 60 Personen quer durch die Republik gearbeitet. Sind da neue Ergebnisse herausgekommen, die spezifisch für Deutschland sind? Oder hat sich bestätigt, was wir schon von Studien aus anderen Ländern kennen?

Die gesundheitliche Versorgung von trans und nicht-binären Menschen ist absolut inadäquat

Jonas: Die psychischen Belastungen sind auf unterschiedlichen Kontinenten ähnlich. Speziell für Deutschland haben wir festgestellt, dass die gesundheitliche Versorgung von trans und nicht-binären Menschen absolut inadäquat ist. Trans und nicht-binäre Menschen machen viele, viele schlechte Erfahrungen – zum Beispiel bei der Beratung zum HIV-Test. Sie werden in ihrer geschlechtlichen Identität viel zu oft nicht wahrgenommen oder nicht anerkannt.

Eine Person berichtete uns davon, dass sie zu einer lokalen Aidshilfe ging, die sich selbst als transsensibilisiert beschrieb, der Berater aber den Unterschied zwischen trans Frauen und trans Männern nicht kannte. Wie soll er da eine spezifische Beratung zu sexueller Gesundheit anbieten können? Zudem haben trans und nicht-binäre Menschen unterschiedliche Körper, und wir können nicht vom Erscheinungsbild auf die Genitalien oder Sexualpraktiken schließen. Für die Wirksamkeit der HIV-Prophylaxe PrEP zum Beispiel gelten jedoch je nach involvierten Schleimhäuten unterschiedliche Einnahmezeiträume. Um eine Beratung mit richtigen Informationen zu geben, braucht es also eine sensible Ansprache und eine spezielle Expertise, und das ist in der Fläche überhaupt nicht gegeben.

Chris: Auf trans und nicht-binäre Menschen sind weder Mediziner*innen noch Berater*innen ausreichend vorbereitet. Sie fühlen sich im Medizinsystem deswegen oft nicht willkommen und gesehen, sondern gefährdet. Wenn Ratsuchende zunächst ihre Berater*innen aufklären müssen, ist das kontraproduktiv und inakzeptabel.

Gibt es Ausnahmen?

Jonas: Es gibt immer mal wieder vereinzelte Berichte auch aus kleineren Städten, aber am Ende wurden uns immer wieder die gleichen Leuchtturmprojekte aus Großstädten genannt, die das gut machen, aber die lassen sich an einer Hand abzählen.

Sind euch aus den Gesprächen Momente oder Geschichten in Erinnerung geblieben, die euch bewegt haben?

Unsere Forschung bot einen Rahmen für Empowerment und Vernetzung

Chris: Am meisten erschüttert haben mich die Berichte von sexualisierter Gewalt, die so gehäuft auftraten, und wie lange Menschen darunter leiden, wie lange sie mit den Folgen kämpfen. Das kann für die Biografien der Betroffenen sehr einschneidend sein, und diese Erfahrungen müssen in der Arbeit mit trans und nicht-binären Personen berücksichtigt werden. Positiv dagegen wird mir die Vernetzung unter den Teilnehmer*innen in Erinnerung bleiben. Viele haben unsere Forschungsveranstaltungen als einen Rahmen für Empowerment gesehen und haben teilgenommen, weil sie sich vernetzen wollten, weil sie sich über ihre sexuelle Gesundheit austauschen wollten.

Bei diesem Thema geht es einfach um derart Intimes, dass es oft schwer ist, mit anderen außerhalb eines solchen Rahmens darüber zu sprechen. Mit unserem Forschungsdesign haben wir es geschafft, eine Atmosphäre herzustellen, in der Menschen diese intimen und verletzlichen Erfahrungen teilen konnten. Das Feedback spricht dafür, dass wir einiges richtig gemacht haben. In der partizipativen Forschung ist es wichtig, die Communitys nicht nur zu beforschen, sondern ihnen auch etwas zurückzugeben, und ich glaube, das ist uns gelungen.

Die Teilnehmer*innen wollten gehört werden, damit sich endlich etwas ändert

Jonas: Bei einer unserer letzten Tagesveranstaltungen hatten wir verschiedene Fokusgruppen und die Zeiteinheiten waren begrenzt. Wir hatten ordentlich Pause eingeplant, aber unsere Rechnung ohne die Teilnehmer*innen gemacht. Die entschieden sich, einfach weiter zu diskutieren. Sie wollten gehört werden, zu dieser Forschung beitragen, damit sich an ihrer Lebensrealität und ihrer Gesundheitsversorgung endlich etwas ändert. Dieses Selbstbewusstsein fand ich beeindruckend und cool.

Ein Zitat ist bei mir hängengeblieben, über das ich in unseren Aufzeichnungen immer wieder gestolpert bin. Da hat eine Person sinngemäß gesagt: „Manchmal bestehe ich nicht darauf, ein Kondom zu verwenden, weil ich das Gefühl habe, ich mute meinem Gegenüber ja schon meinen trans Körper zu.“ Ich finde, dieser Satz und das Gefühl, das in ihm steckt, sagt so viel darüber aus, wie vulnerabel die Menschen nur aufgrund der Belastung und der internalisierten Trans-Negativität sind, die sie mit sich herumtragen. Ich bin der Person unglaublich dankbar, dass sie den Mut hatte, das in einem Gruppen-Setting auszusprechen, denn der Satz ist in seiner Wirkung unglaublich machtvoll.

Ja, das ist er!

Prävention muss viel tiefer ansetzen

Jonas: Der Satz zeigt, dass Präventionsbotschaften nicht lauten dürfen: „Benutz ein Kondom, sonst geschehen schlimme Dinge.“ Prävention muss viel tiefer ansetzen. Es muss um Empowerment gehen, wir müssen die Menschen stärken. Das geht nicht mit der klassischen Plakatkampagne. Es braucht grundlegende Formate, damit die Menschen Trans-Positivität erlernen.

Also, Selbstbewusstsein entwickeln, um sich überhaupt schützen zu wollen?

Jonas: Mehr als das! Ich bin selbst eine trans Person, ich bin seit zehn Jahren durch meine Transition durch, ich habe ein ausgefülltes Sexualleben, ich bin selbstbewusst und verhandlungssicher – und selbst ich habe mich mit diesem Zitat identifizieren können. Ich dachte, krass, das triggert was in mir. Es geht nicht nur um Selbstbewusstsein, es geht auch um Selbstsicherheit, Selbstliebe, in sich zu ruhen, Vertrauen in sich und seine Umwelt haben zu können, vergangene Verletzungen zu verarbeiten. Es geht um Community und Verbindung. Es geht um Sichtbarkeit und Anerkennung. Es geht um so viele Dinge.

Ihr habt erwähnt, dass in den Gesprächen ein hoher Bedarf an Vernetzung deutlich wurde. Ist das breite Spektrum der Identitäten zwischen trans und nicht-binär, zwischen weiß und BIPoC eine zusätzliche Schwierigkeit, um Gemeinsamkeit untereinander zu finden oder herzustellen?

Jonas: Alle diese Menschen haben Diskriminierungserfahrungen im Leben gemacht, alle standen irgendwann vor der Frage: Oute ich mich? Lege ich meine Identität offen, wenn ich zum Beispiel eine nicht-binäre Person ohne Transition bin? Oder auch wenn ich eine transitionierte Person bin: Lege ich meine Trans-Geschlechtlichkeit offen, wenn ich einem neuen Menschen begegne? Diese Fragen stellen sich alle. Aber natürlich gibt es auch totale Unterschiede.

Fällt dir ein Beispiel für solche Unterschiede ein?

Jonas: Trans Frauen und BIPoC haben viel stärker von Exotisierung berichtet als zum Beispiel nicht-binäre oder trans-maskuline weiße Teilnehmer*innen. Nicht, dass es das dort nicht auch gegeben hätte, aber doch in viel geringerem Maß.

Das Forschungsprojekt ist abgeschlossen. Wie geht es nun weiter? Was folgt aus dem Projekt?

Chris: Wir haben gerade einen Forschungsbericht und eine Broschüre veröffentlicht, in der wir grundlegende Daten und Ergebnisse präsentieren. Zusätzlich haben wir 33 Empfehlungen formuliert, die sich an unterschiedliche Bereiche wenden: von der Gesamtgesellschaft bis zu den Beratungs- und Test-Angeboten, darunter auch die Aidshilfen. Jetzt gilt es, diese Empfehlungen zu verankern und umzusetzen.

Wir brauchen flächendeckende Grundlagenschulungen

Könnt ihr da mal beispielhaft zwei oder drei herausgreifen? Was muss am dringendsten, am schnellsten angegangen werden?

Jonas: Wir brauchen flächendeckende Grundlagenschulungen für das Personal im öffentlichen Gesundheitswesen und in den Aidshilfen. Das heißt: Sensibilisierungsschulungen für alle, um trans und nicht-binären Menschen adäquat begegnen zu können. Wir brauchen mehr von diesen Leuchtturmprojekten und wir müssen viel stärker darauf hinarbeiten, dass sie ein sicherer und diskriminierungsarmer Raum werden.

Chris: Es gibt auch keine gut recherchierten und fundierten Info-Materialien zur sexuellen Gesundheit von trans und nicht-binären Personen in Deutschland. Diese Lücke muss geschlossen werden!

Fundamentale Fragen sind immer noch ungeklärt

Jonas: Fundamentale Fragen sind auch immer noch ungeklärt oder noch nicht hinreichend aufbereitet.

Zum Beispiel?

Jonas: Eine Frage, die immer wieder auftaucht: Kann ein trans Mann unter Hormontherapie schwanger werden? Die einen sagen: Selbstverständlich nicht! Die anderen sagen: Aber natürlich! Und die wenigen Studien, die es zu solchen Themen gibt, sind viel zu klein, um wirklich belastbare Informationen zu liefern. Dafür ist die sexuelle Gesundheit von trans und nicht-binären Menschen in der Forschung viel zu wenig präsent.

Auch bei der HIV-PrEP arbeiten wir immer nur mit Ableitungen, weil es keine spezifischen Studien in Bezug auf die Wirksamkeit in den Genitalschleimhäuten nach medizinischer Transition gibt. Die wird es vermutlich auch nie geben, weil die Genitalien zu unterschiedlich beschaffen sind. Die Vaginalschleimhaut eines trans Mannes unter Hormontherapie ist nicht zu vergleichen mit der einer trans Frau nach einer genitalangleichenden Operation. Und ein trans Mann mit Penoidaufbau hat eventuell gar keine Genitalschleimhaut, weil das Penoid meist aus Unterarmhaut gemacht wird. Aber wie sieht es da mit dem Narbengewebe aus? Das sind alles Fragen, zu denen man die Antworten vielleicht sogar schon zusammentragen könnte, aber das hat bisher halt niemand getan. Wir wissen noch gar nicht genau, was wir alles nicht wissen. Und da kommen wir zurück zu dem, was Chris gesagt hat: Es braucht gut recherchierte Materialien. Diese Recherche muss aber erst mal geschehen.

Wie geht es innerhalb der Aidshilfen weiter?

Chris: In einem Anschluss-Projekt im Rahmen der Selbsthilfe geht es nun darum, Peer-to-Peer- und Train-the-Trainer-Module zu entwickeln, mit dem Ziel, die sexuelle Gesundheit von trans und nicht-binären Menschen zu fördern. Ein Ergebnis unserer Studie war nämlich, dass selbstorganisierte Empowerment-Formate und Community-Angebote trans und nicht-binäre Menschen in ihrer sexuellen Gesundheit am meisten stärken: zum Beispiel der Austausch mit anderen trans und nicht-binären Menschen zu Themen rund um Körper, Sexualität, Dating und Verhandlungskompetenz. Deshalb müssen wir Community-Strukturen stärken, und wir müssen solche Formate auch innerhalb der Aidshilfen ausbauen. Das heißt aber auch, diese Expertise der Communitys ernstzunehmen und als Fachkompetenz anzuerkennen, die wertvoll ist und weitergegeben werden sollte, aber natürlich auch entsprechend honoriert werden muss.

Jonas: Eine weitere Empfehlung, an die wir dringend ranmüssen: Wir brauchen eine Fachstelle innerhalb des Systems Aidshilfe, die berät, die mithilft, Materialien zu erstellen und an die richtigen Leute zu verteilen, also zum Beispiel an die Communitys und die Aidshilfen, wenn die sich weiter sensibilisieren wollen. Das Forschungsprojekt, das jetzt zu Ende geht, kann nur der Anfang sein.

Jonas und Chris, vielen Dank für das Gespräch!

Der Abschlussbericht zum Forschungprojekt kann auf der Website des RKI heruntergeladen werden.

Die Broschüre zum Forschungsprojekt kann auf der Website der Deutschen Aidshilfe heruntergeladen werden.

Pressemitteilung der Deutschen Aidshilfe zur Veröffentlichung der Forschungsergebnisse

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Dirk Ludigs

Dirk Ludigs arbeitet als freier Journalist u. a. für verschiedene TV-Formate, die deutsche LGBT-Presse und das Reisemagazin "Merian". Zuvor war er Nachrichtenleiter des schwulen Senders TIMM und Chefredakteur verschiedener bundesweiter Magazine ("Front", "Du & Ich").

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