Leben mit HIV

Kognitive Einschränkungen durch HIV: deutlich geringer und seltener als gedacht

Von Gastbeitrag
© shutterstock studios

Die Prävalenz HIV-bezogener kognitiver Beeinträchtigungen wird Expert*innen zufolge massiv überschätzt

Roger Pebody*, 28. Juni 2021

Die Art und Weise, in der Forscher*innen HIV-assoziierte neurokognitive Störungen beurteilen und identifizieren, sei nicht sachgerecht, so ein Meinungsbeitrag in Clinical Infectious Diseases. Studien ergäben typischerweise, dass etwa die Hälfte der Menschen mit HIV die Kriterien für eine Störung erfüllten. Dies stimme aber nicht mit der heutigen klinischen Erfahrung überein, wonach relativ wenige Menschen mit HIV kognitive, das Alltagsleben beeinflussende Einschränkungen haben.

Die Autor*innen plädieren dafür, sich künftig bei Berichten über kognitive Beeinträchtigungen auf Menschen mit Symptomen zu konzentrieren und den Beitrag der HIV-assoziierten Neuropathologie dazu genauer zu beschreiben. Jedes neue Kriterium müsse zudem für den Einsatz in unterschiedlichen Settings geeignet sein, so die Gruppe von Expert*innen aus Universitäten in Südafrika, Schweden, Sambia, den USA und Großbritannien.

Hintergrund

Ohne antiretrovirale Behandlung kann es bei einer signifikanten Anzahl von Menschen mit HIV zu schweren kognitiven Beeinträchtigungen kommen – als Folge einer Schädigung des Gehirns durch eine langjährige HIV-Infektion. Diese auch als HIV-assoziierte Demenz bezeichnete Störung betrifft meist Menschen mit einer sehr niedrigen CD4-Zahl und einer Aidsdiagnose. Sie verursacht typischerweise Probleme mit der Konzentration und den motorischen Fähigkeiten (zum Beispiel beim Gehen oder beim Zuknöpfen eines Kleidungsstücks) sowie depressive Verstimmungen.

HIV-assoziierte Demenz ist seltener, seit antiretrovirale Medikamente verfügbar sind

Seit antiretrovirale Medikamente verfügbar sind, wurde die HIV-assoziierte Demenz seltener – das führte zur Sorge, man könne subtilere kognitive Probleme übersehen. Im Jahr 2007 entwickelte eine Gruppe von Expert*innen daher die „Frascati-Kriterien“ für das – breiter angelegte – Konzept der HIV-assoziierten neurokognitiven Störung (HIV-associated neurocognitive disorder, HAND).

Eine HAND-Diagnose basiert auf den Ergebnissen kognitiver Tests. Sie bewerten die Aufmerksamkeit und das Arbeitsgedächtnis, die Sprache und den Sprechfluss, die exekutiven Funktionen [Anm. d. Red.: de.wikipedia.org/wiki/Exekutive_Funktionen] und das Abstraktionsvermögen, die Verarbeitungsgeschwindigkeit, die Gedächtnisleistung (Lernen und Abrufen) sowie die Sinneswahrnehmungen und motorischen Fähigkeiten. Die Werte werden mit denen einer Kontrollgruppe verglichen, die hinsichtlich Alter, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit und Bildung gleich zusammengesetzt ist.

Menschen mit niedrigen Werten wird eine HIV-assoziierte neurokognitive Störung (HAND) zugeschrieben, sofern sich die Beeinträchtigung nicht durch andere Faktoren erklären lässt, etwa ein Schädel-Hirn-Trauma, Drogenmissbrauch, vaskuläre Demenz oder Alzheimer. Es gibt drei Stufen einer HIV-assoziierten neurokognitiven Störung: asymptomatische neurokognitive Beeinträchtigung (niedrige Punktzahl und keine Symptome), leichte neurokognitive Störung (niedrige Punktzahl und Probleme im Alltagsleben) sowie HIV-assoziierte Demenz (sehr niedrige Punktzahl und beobachtbare schwerere Probleme).

Ergebnisse von Studien spiegeln nicht klinische Realität der letzten Jahre wider

Im letzten Jahr ergab eine Analyse von 123 Studien, dass 43 Prozent der in die Studien eingeschlossenen Menschen mit HIV eine HAND attestiert worden war, darunter 24 Prozent eine asymptomatische neurokognitive Beeinträchtigung, 13 Prozent eine leichte neurokognitive Störung und fünf Prozent eine HIV-assoziierte Demenz.

Den Autor*innen zufolge spiegelt dies jedoch nicht die klinische Realität der letzten Jahren wider, denn Menschen mit kognitiven Störungen würden nur relativ selten vorstellig (in einem Londoner Krankenhaus zum Beispiel 7,5 Prozent der HIV-positiven Patient*innen innerhalb von sechs Jahren). Patient*innen mit neurokognitiven Störungen hätten häufig ihre HIV-Diagnose erst sehr spät bekommen oder hätten erhebliche Begleiterkrankungen.

HAND hinter uns lassen

Dr. Sam Nightingale und seine Kolleg*innen weisen auf eine Reihe von Problemen bei der HAND-Definition hin und schlagen einen Ausweg vor.

In erster Linie wird HAND per Definition auf den direkten Einfluss von HIV auf das Gehirn zurückgeführt. Nun gebe es in der Tat zahlreiche Mechanismen, wie HIV das Gehirn schädigen kann, etwa durch eine nachweisbare Virenmenge in der Rückenmarksflüssigkeit (obwohl HIV in anderen Körperflüssigkeiten nicht nachgewiesen werden kann) und die dadurch verursachte Entzündungsreaktion.

Das Label HAND suggeriert, schwache Leistungen von Menschen mit HIV bei kognitiven Tests hätten ihre Ursache in der HIV-Infektion.

Jedoch könne es auch andere Gründe geben, warum ein Mensch mit HIV bei kognitiven Tests schlecht abschneide. Einige darunter, etwa eine schwere Kopfverletzung oder Alkoholismus, dürften auf der Hand liegen und die Person von einer HAND-Diagnose ausschließen. Nach den Frascati-Kriterien werden weitere gesundheitliche Probleme wie Depression, Diabetes oder Hepatitis C für gewöhnlich als „beitragende“ Faktoren neben der HIV-Erkrankung beschrieben.

„Das Label HAND suggeriert, schwache Leistungen von Menschen mit HIV bei kognitiven Tests hätten ihre Ursache – zumindest zum Teil – in der HIV-Infektion“, so die Autor*innen. „In Wirklichkeit wird ein Teil ausschließlich durch HIV verursacht, ein anderer Teil ist auf eine Kombination von HIV und Begleiterkrankungen zurückzuführen und bei manchen Menschen trägt die HIV-Hirnpathologie möglicherweise überhaupt nicht zu schwachen kognitiven Leistungen bei.“

Angesichts der Tatsache, dass kognitive Beeinträchtigungen oft aus einer Kombination von Faktoren resultieren, vertreten die Autor*innen die Meinung, eine neue Definition müsse kognitive Beeinträchtigungen jeglicher Ursache bei Menschen mit HIV einschließen, statt nur direkte Auswirkungen von HIV auf das Gehirn zu erfassen. Da HIV heute immer häufiger frühzeitig behandelt werde, würden durch HIV verursachte Beeinträchtigungen außerdem wahrscheinlich seltener.

Menschen, denen eine kognitive Beeinträchtigung attestiert wird, sollten auch Symptome haben

Entscheidend ist ihrer Meinung nach, dass Menschen, denen man eine kognitive Beeinträchtigung attestiert, auch Symptome haben sollten – die Diagnose dürfe nicht primär auf den Ergebnissen kognitiver Tests basieren. Nach den Frascati-Kriterien aber hat die Mehrheit der Menschen mit einer HAND-Diagnose keine Symptome. Sie werden als Menschen mit „asymptomatischer neurokognitiver Beeinträchtigung“ eingestuft, also ohne erkennbare Auswirkungen der „Beeinträchtigung“ auf ihr Alltagsleben. Die klinische Bedeutung dieser Einstufung ist unklar: Die Forscher*innen sind sich nicht einig, ob bei dieser Gruppe die Wahrscheinlichkeit größer ist, die nächste Stufe (leichte neurokognitive Beeinträchtigung) zu erreichen.

Nightingale und Kolleg*innen wollen nach eigenen Angaben verhindern, dass Menschen mit schwachen Leistungen in kognitiven Tests, aber ohne Symptome weiterhin das Label „kognitive Störung“ verpasst bekommen. Man solle sie einfach als „Menschen mit schwachen Leistungen in kognitiven Tests“ beschreiben und nicht als Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen.

Ihrer Überzeugung nach muss die Diagnose einer kognitiven Beeinträchtigung auf einer klinischen Anamnese beruhen. Die Person mit HIV selbst, eine ihr nahestehende Person oder eine medizinische Fachkraft müsse eine Abnahme der kognitiven Leistung oder Schwierigkeiten bei alltäglichen Aktivitäten bemerkt haben. Gleichzeitig müsse es objektive Beweise für eine Beeinträchtigung durch Tests geben, die zum Beispiel eine Abnahme der Leistungsfähigkeit über einen längeren Zeitraum zeigen.

Probleme mit kognitiven Tests

Ein Problem kognitiver Tests als Grundlage für Diagnosen ist, dass die Ergebnisse mit einem als „normal“ definierten Standard verglichen werden müssen, wobei Werte unterhalb eines bestimmten Grenzwerts dann eine „Beeinträchtigung“ bedeuten. Diese Grenzwerte aber sind recht willkürlich definiert, und es gibt eine hohe Rate an „falsch-positiven“ Ergebnissen: Über 20 Prozent der kognitiv völlig normalen HIV-negativen Studienteilnehmer*innen werden als beeinträchtigt definiert.

Aktuelle Diagnose-Kriterien berücksichtigen nicht soziale und wirtschaftliche Faktoren

Die Frascati-Kriterien sehen vor, dass die Kontrollgruppe (die Gruppe, mit der Menschen mit HIV verglichen werden) hinsichtlich Alter, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit und Ausbildungsjahren angepasst werden sollte. Dies berücksichtigt jedoch nicht alle sozialen und wirtschaftlichen Faktoren, die das Abschneiden in solchen Tests beeinflussen, insbesondere wenn man bedenkt, dass HIV marginalisierte Gruppen überproportional stark betrifft. Schwächere Testleistungen sind mit Armut, wirtschaftlicher Not, Stress und einem niedrigeren sozioökonomischen Status assoziiert. Außerdem kann auch die individuelle Leistungsfähigkeit von Tag zu Tag unterschiedlich sein, zum Beispiel aufgrund der Stimmung, von Schlafmangel, Schmerzen oder anderer vorübergehender Probleme.

Auch der kulturelle Hintergrund beeinflusst das Abschneiden in den Tests, denn die meisten verfügbaren Tests wurden in Nordamerika entwickelt und nur wenige wurden für den Einsatz in Ländern mit hoher HIV-Prävalenz kulturell angepasst und übersetzt. Außerdem fehlen Daten für „Normwerte“ in ressourcenarmen Settings, und die verfügbaren Ergebnisse deuten auf große Unterschiede zwischen einzelnen Ländern wie auch zwischen mehreren Standorten in ein und demselben Land hin.

Beeinträchtigungen, die von HIV verursacht werden, müssen von solchen mit anderer Ursache unterschieden werden

Während sich der Fokus von kognitiven Tests weg verlagere, sollten Forscher*innen und Kliniker*innen den Biomarkern der HIV-Infektion und den Entzündungen im Liquor sowie einer Reihe von Gehirn-Scan-Techniken größere Aufmerksamkeit schenken. Dies könne dazu beitragen, die von HIV verursachten, auf neuropathologische Prozesse zurückgehenden Beeinträchtigungen zu identifizieren, ihre Mechanismen präzise zu beschreiben und sie von Beeinträchtigungen anderer Ursache zu unterscheiden.

Allerdings gibt es auch Herausforderungen. So verfügen wir noch nicht über validierte Biomarker, um eine HIV-Gehirnerkrankung identifizieren oder eine Verschlimmerung vorhersagen zu können. Die Entnahme einer Liquorprobe zum Testen auf Biomarker erfordert eine Lumbalpunktion (Rückenmarkspunktion), die für einige Tage Kopfschmerzen verursachen kann – hilfreich wäre die Identifizierung von Biomarkern im Blut. Und in ressourcenarmen Settings sind Gehirnscans noch weniger verfügbar als kognitive Tests.

Schlussfolgerung

„Wenn wir sagen, dass die HAND-Kriterien das Ausmaß an kognitiven Störungen bei Menschen mit HIV überbewerten könnten, darf das nicht so (miss)verstanden werden, als hielten wir die HIV-bedingte Hirnpathologie und kognitive Beeinträchtigungen bei Menschen mit HIV für unwichtig oder kaum verbreitet“, so die Autor*innen. Dass kognitive Beeinträchtigungen bei Menschen mit HIV multifaktoriell bedingt seien, schmälere nicht ihre Auswirkungen auf das Individuum oder die Notwendigkeit, Interventionen zur Milderung dieser Auswirkungen zu entwickeln.

Quellen

Nightingale S et al. Moving on From HAND: Why We Need New Criteria for Cognitive Impairment in Persons Living With Human Immunodeficiency Virus and a Proposed Way Forward. Clinical Infectious Diseases, Online-Veröffentlichung vor Drucklegung, ciab366, 27. April 2021

*Original: „The prevalence of HIV-related cognitive impairment is massively overestimated, experts say“, veröffentlicht am 28. Juni 2021 auf aidsmap.com; Übersetzung: Literaturtest. Vielen Dank an NAM/aidsmap.com für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung!

Weitere Beiträge zum Thema Leben mit HIV auf magazin.hiv (Auswahl):

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

+ 80 = 90