Leiden viele Menschen mit HIV unter Symptomen, die den Lebensalltag wie auch die berufliche Leistungsfähigkeit schwer beeinträchtigen können, wie eine Studie des britischen National AIDS Trust nahelegt? Axel Schock hat darüber mit dem HIV-Spezialisten Dr. Christoph Mayr gesprochen.

Müder Mann
Müdigkeit ist eine der häufig genannten Symptomen von Menschen mit HIV (Foto: G.Altmann/pixelio.de)

Laut einer jüngst veröffentlichten, im Auftrag des britischen National AIDS Trust (NAT) erstellten Studie kämpft ein hoher Prozentsatz von Menschen mit HIV mal mehr, mal weniger häufig mit  Beschwerden wie Schlaflosigkeit, Müdigkeit und Durchfall (die unabhängig vom Immunstatus auch bei vielen anderen Menschen auftreten), aber auch mit  spezifischeren Problemen wie Depressionen/Angstzuständen sowie Neuropathien (Erkrankungen der Nerven).

Jeder zweite der 265 online befragten HIV-Infizierten gab demnach an, hin und wieder unter starker Müdigkeit oder Depressionen zu leiden, fast ebenso viele nannten Verdauungsprobleme und Schlaflosigkeit. Zwei Drittel der Studienteilnehmer, die bereits Erfahrungen mit den genannten Erscheinungen gemacht hatten, litten zugleich auch unter mindestens einer weiteren Symptomatik.

Erschreckende Zahlen – aber nicht repräsentativ

Diese  Zahlen erscheinen erschreckend hoch. Doch wie aussagekräftig sind sie? Zum Hintergrund muss man wissen, dass die Studie mit einem bestimmten Ziel durchgeführt wurde: Sie sollte zeigen, dass viele Menschen mit HIV unter „fluktuierenden“, also nur von Zeit zu Zeit auftretenden Symptomen leiden, die bei der Gesundheitsprüfung für die Employment and Support Allowance (eine Art Arbeitslosengeld für Menschen mit Behinderungen oder lang anhaltenden Krankheiten) nicht ausreichend berücksichtigt werden. Hinzu kommt die mit 265 Befragten recht überschaubare Zahl von Befragten und auch die Tatsache, dass die Studie online durchgeführt wurde. Dr. Christoph Mayr, Vorstand der Deutschen Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter e.V. (DAGNÄ), weist darauf hin, dass an Internetbefragungen erfahrungsgemäß verstärkt Menschen teilnehmen, die tatsächlich von entsprechenden Beschwerden betroffen sind – zumal gezielt nach den genannten Symptomen gefragt wurde. Repräsentativ für HIV-Infizierte ist die Befragung also nicht. Wesentlich kritischer aber sieht Mayr den seiner Ansicht nach zu eng gefassten Blick auf die benannten Symptome und deren mögliche Ursachen.

Die Symptome sind aus medizinischer Sicht zu unspezifisch benannt

Unklar bleibe beispielsweise, ob die Beschwerden durch die HIV-Infektion selbst oder die Therapie hervorgerufen würden. Seine Kritik geht noch weiter: „Die Symptome sind aus medizinischer Sicht eher unspezifisch und können Ausdruck verschiedenster Krankheiten sein.“ Offenkundig sei bei der Studie nicht näher abgefragt worden, ob die Befragten an anderen internistischen Krankheiten leiden, die zu vergleichbaren Symptomen führen können, etwa einer chronischen Hepatitis oder einem Diabetes. Und nicht zuletzt könnten auch Menschen mit HIV an einer klassischen Depression erkranken, ohne dass diese direkt mit der HIV-Infektion oder der antiviralen Therapie in Zusammenhang stehe.

Dass HIV-Positive an fluktuierenden Beschwerden leiden, sie gleichermaßen gute und bessere Phasen durchleben, kennt Mayr aus seiner langjährigen Erfahrung als niedergelassener HIV-Schwerpunktarzt. Die britischen Zahlen erscheinen ihm allerdings deutlich zu hoch gegriffen. „Rein medizinisch sehen wir bei HIV, dass Menschen, die frühzeitig mit einer Therapie beginnen und damit eine bessere Immunrekonstruktion erreichen, über die Zeit in höherem Maße wieder vollkommen arbeitsfähig sind“, sagt Mayr.

Menschen mit HIV gehen häufig an die Grenzen ihrer Möglichkeiten

Die in den vergangenen Jahren immer stärker gewordenen Anforderungen an die Arbeitnehmer, aber auch die wachsende Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt zeigen Folgen bei allen Beschäftigen: Rund vier Millionen Arbeitnehmer (also jeder zehnte Berufstätige) leiden nach Angaben der Krankenkasse DAK unter schweren Schlafstörungen. Ein Achtel des gesamten Krankenstandes in Deutschland machen Depressionen und andere psychische Erkrankungen aus. Menschen mit HIV sind nach Christoph Mayrs Ansicht hier in besonderem Maße gefährdet. Um ihren eigenen Anforderungen zu genügen oder aus Angst, als HIV-Infizierter als lediglich eingeschränkt einsatzfähig zu gelten, gingen manche an die Grenzen ihrer Möglichkeiten – und gefährdeten dadurch womöglich ihre körperliche, psychische wie auch soziale Gesundheit.

 

Eine Zusammenfassung der Studie findet sich hier (in englischer Sprache).

Die komplette Studie kann steht unter www.nat.org.uk als PDF-Datei in englischer Sprache zum Download bereit.

Ein Video zum Thema HIV in der Arbeitswelt, in dem auch Christoph Mayr zu Wort kommt, findet sich im Youtube-Kanal der DAH.

Lesenswert ist auch unser Dossier zum Thema HIV und Beschäftigung – der erste Beitrag mit Links zu den anderen fünf Artikeln findet sich hier.

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

2 Kommentare

  1. Diese Symptome ähneln verblüffend denen bei Rheumatoidarthritikern. Es wäre zu fragen, inwieweit bei chronischen Erkrankungen generell solche Ermüdungs- u.a. -Erscheinungen auftreten und inwieweit sie Folge der als aussichtslos empfundenen Grunderkrankung oder eher den Nebenwirkungen der Therapie geschuldet sind.

  2. Dazu noch ein „Nachsatz“: Depressionen und verminderte Leistungsfähigkeit sind ohnehin häufige Begleiterscheinungen aussichtslos erscheinender, d.h. chronischer, Erkrankungen. Ihnen mehr Aufmerksamkeit zu widmen würde vermutlich erhebliche Kosten sparen helfen, auch wenn die unmittelbaren Behandlungskosten anfänglich steigen mögen. Hinzu kommen leider immer mehr Wechselwirkungen der Medikamente untereinander, gerade bei „multimorbiden“ Patienten.

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