Fortwährende Eingriffe
Mit deinem neuen Buch Fortwährende Eingriffe kommst du dem Wunsch vieler Leute entgegen, wieder mehr zu veröffentlichen. Wie fiel dabei die Wahl auf das Thema Aids?
Angeregt dazu hat mich Clemens Sindelar, seit vielen Jahren im Bereich Prävention für schwule und bisexuelle Männer der Deutschen Aidshilfe tätig.
Dann habe ich das, was ich zu Aids und HIV geschrieben und gesagt habe, angesehen und mich gefragt, ob die Texte haltbar sind.
Auch im Hinblick darauf, ob sie den Erinnerungen meiner Generation gerecht werden und ob sie den jüngeren Generationen ein tieferes Verständnis von dem vermitteln können, was Aids kollektiv bedeutet hat, welche Bedrohungspotenziale damit verbunden waren und auch welche unerwarteten Effekte – etwa die gesellschaftliche Integration der schwulen Männer dadurch, dass durch Aids ein Diskurs über Homosexualität angestoßen wurde.
Über vier Jahrzehnte erstaunlich konsistente Positionen
Einige der Texte erzählen von einer Zeit, die 35 Jahre zurückliegt. Erkennst du dich und deine Positionen auch in den älteren Artikeln wieder?
Ja, das ist erstaunlich konsistent. Ich hatte beim Reflektieren über die Texte nicht den Eindruck eines Bruchs.
Oft wird so getan, als sei Safer Sex die leichteste Sache der Welt
Ein Beispiel ist meine kritische Haltung zu Safer Sex. Oft wird ja so getan, als sei das die leichteste Sache der Welt, wobei sowohl die Anstrengungen, ihn einzuhalten, verleugnet wurden als auch die Erinnerung an die Sexualität vor Aids – daran, dass diese möglicherweise lustvoll gewesen war und etwas mit Bedürfnissen zu tun hatte.
Beschließt du mit dem Band trotzdem ein Stück weit das Kapitel Aids für dich?
Ein abgeschlossenes Lebenskapitel ist das auf jeden Fall. So endet das Buch auch mit meiner Danksagung für die Ehrenmitgliedschaft in der Deutschen Aidshilfe.
Gleichzeitig handelt es sich aber um ein unabgeschlossenes Kapitel. Die große Frage bleibt – die ich nicht mehr beantwortet habe –, was von diesen Erfahrungen in den tiefen Schichten der Seele bei Menschen meiner Generation übriggeblieben ist.
Wenn ich in die früheren Aufsätze gehe, die zu einer Zeit entstanden sind, als es ganz heftig war, merke ich: Das ist einfach nicht in dem Sinne abschließbar, wie man es mit einer handhabbaren Erinnerung machen könnte.
Dieses Thema ist immer wieder dynamisierend, weil man nicht nur an eine gesellschaftliche Situation denkt, sondern an Menschen, die auch bei reinen Situationsanalysen zumindest im Hintergrund immer eine Rolle spielen werden.
Die 1980er-Jahre waren eine Zeit des Irrsinns
Dynamisierend war zum Beispiel der Konflikt mit Rosa von Praunheim. Dein offener Brief an ihn, der 1984 in der Zeitschrift „konkret“ erschien, ist der erste Beitrag in Fortwährende Eingriffe. Du sprichst in deinen einleitenden Worten dazu aus heutiger Perspektive von einem Irrsinn, den Aids zeitweise in die schwule Welt und in die gesamte Kultur gebracht habe.
Das kann man heute wirklich schwer nachvollziehen. Eine maßlose Angst, mit einer derartigen Stärke, dass es wirklich irrsinnig wurde – es war völlig unklar, wohin es gehen würde, und sehr schwer, einen halbwegs kühlen Kopf zu bewahren.
Der Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt sprach von einer kollektiven hysterischen Reaktion, und das war ganz ernst gemeint. Auch in der Hysterie steckt ja ein Irrsinn, etwas Nicht-Reales.
Hast du etwas von dem Irrsinn in deinen eigenen Texten wiedergefunden?
Ich habe immer versucht, einen kühlen Kopf zu bewahren, die Prozesse zu analysieren.
Das hatte auch immer etwas mit meiner eigenen Situation zu tun, aber eben nicht unmittelbar.
Das ist sozusagen der Hintergrund, vor dem man spricht, eine bestimmte Erfahrung, die ich aber nie zum unmittelbaren Gegenstand machen wollte.
Aids verursachte eine maßlose Angst
Ein Text im Sammelband zeigt aber, wie einmal mit mir eine grundlose Hoffnung durchging: In einem Kapitel aus „Der homosexuelle Mann im Zeichen von Aids“ (1991) nehme ich in einer merkwürdigen Sprache ohne irgendeine wissenschaftliche Grundlage die Behandlung vorweg, die es noch gar nicht gab und die auch gar nicht absehbar war, und deute neue Möglichkeiten schwulen Lebens an.
Umgekehrt hatte ich nie, wie so viele andere es taten, den Untergang der schwulen Welt befürchtet.
Bei aller Skepsis und Sorge, wohin das führen könnte, blieb bei mir eine Grundüberzeugung, dass Aids nicht zu einer totalen Verdammung des Homosexuellen führen würde. Ich vertraute offensichtlich auf die zivilisatorischen Kräfte dieser Kultur und dieser Gesellschaft.
Hans Halter, damals Medizinjournalist des „Spiegel“, war Ende 1984 auf der Suche nach einer in der Community bekannten Person, die die Schwulen zum Verzicht auf ihr angeblich todbringendes sexuelles Leben auffordern sollte. Anders als Rosa hast du das abgelehnt und stattdessen in einem offenen Brief eine Kritik an Halter formuliert, die man in Fortwährende Eingriffe nachlesen kann…
Ja, weil der Vorwurf kam, dass Aids der Gruppe der Schwulen anzulasten sei. Das war irrsinnig.
Halter war ein Stück weit irrsinnig und rationalisierte mit dieser Zuweisung seine Schwulenfeindlichkeit ohne die geringste Anstrengung, etwas zu verstehen.
Die Schuldzuweisung an Schwule wegen Aids war zutiefst homosexuellenfeindlich
Mit der Dramatisierung wollte er zwar erreichen, dass man so schnell wie möglich eine Wende und ein anderes Verhalten findet, um diese tödliche Krankheit einzudämmen. Das war aber mit ständigen Vorwürfen gegen die Schwulen verbunden und zutiefst homosexuellenfeindlich.
Was er von mir wollte, war ein öffentliches Schuldgeständnis. Das lehnte ich ab. Schon in den 70ern habe ich allen Leuten, ob sie es hören wollten oder nicht, erzählt, dass ich schwul bin. Einfach um mir den Rücken freizuhalten.
Damit hat sich auch bei anderen etwas bewegt, sodass es danach neue Beziehungen geben konnte mit diesem Wissen, dass ich ein Anderer bin und dass ich als der Andere akzeptiert werde – im günstigsten Falle. Und wenn das nicht der Fall war, habe ich heftig dafür gesorgt, dass das so ist – oder Beziehungen abgebrochen.
Diese ganz persönlichen Erfahrungen sind sozusagen ein Mikrokosmos der Gesellschaft und der Hintergrund dafür, dass ich es für möglich hielt, auf eine Konfrontation mit dem Schwulsein in den Zeiten von Aids eine andere Position einzunehmen als die des Verdammens oder des Todeswunsches.
Bei Aids ging es immer um Angst vor einer tödlichen Krankheit und um Stigmatisierung
Deine fortwährenden Eingriffe betrafen nicht nur Aids als Krankheit. Ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass es mehr noch um Stigmatisierung geht.
Mit Sicherheit. Aber man musste die Überdramatisierung und die Stigmatisierungsprozesse analysieren, ohne eine Abstraktion vom Wesentlichen vorzunehmen, nämlich dass Aids eine tödliche, bedrohliche Krankheit war und dass man ganz elend daran gestorben ist. Das musste man immer auch sagen.
Also nicht nur Irrsinn, sondern auch Realangst.
Natürlich, das war eine Realangst vor dem Tod. Unter schwulen Männern war in der Zeit von 1985 bis Mitte der 90er in der banalen Frage, wie es einem geht, immer die Frage eingeschlossen: Ist was mit Aids?
Wir dürfen nicht vergessen, dass man elend an Aids gestorben ist
Es ging um Angst, um Leiden und um die Frage, wie man mit dem Leiden umgeht. Das sollte man wirklich nicht vergessen.
Aber es ging immer auch um die Angst vor dem psychosozialen Tod, also um Ausgrenzung, Stigmatisierung, Schuldzuschreibungen und Verächtlichmachen.
Aus der Krankheit, für die das Akronym AIDS steht, ist das gewöhnliche Wort Aids mitsamt Eintrag im Duden geworden. Ich wurde einmal darauf hingewiesen, dass man heute nicht AIDS schreiben sollte, da das schwule Männer an eine schmerzliche Zeit erinnern könnte.
Eine Angst, an die man sich erinnert, ist eine völlig andere Angst als die aktuelle Angst.
Wenn ich sie unmittelbar erlebe, beherrscht sie mich, ich habe keine Distanz zu ihr. In dem Moment, in dem ich mich an die Angst erinnere, schreibe ich sie um, sie wird ein Stück weit bearbeitet.
Darum sollte man nicht glauben, dass man die Menschen von dieser Erinnerung fernhalten muss, sondern ihnen ein freundliches Angebot machen, diese ursprüngliche Angst und diese Bedrohung in der Erinnerung zu bearbeiten.
Die Angst vor Aids hat auch das individuelle Erleben von Sexualität geprägt
Diese Angst war prägend für die schwulen 80er, und diese Zeit wird häufig den goldenen, freien 70ern gegenübergestellt.
Man versteht diesen Eindruck nur richtig, wenn man zurückgeht vor das, was als goldene Jahre bezeichnet wurde.
Dort ist ein Versprechen in die schwule Welt gekommen, dass man durch die Liberalisierung freier und offener in seiner Sexualität wird.
Das Freiheitsversprechen der 70er wurde durch Aids wieder weggewischt
Ein Augenblick der Fantasie, dass jetzt alles möglich wäre, ohne Angst haben zu müssen, dafür diskriminiert zu werden.
Das Ende der Heimlichkeiten, des strategischen Umgangs, der Problematisierung des eigenen sexuellen Verhaltens.
Dieses Versprechen wurde in den 80ern wieder weggewischt.
Auch im individuellen Erleben?
Das war auch individuell so. Auf diese sehr, sehr kurze Epoche der relativen Angstfreiheit folgte eine bedrohliche Krankheit, die in den westlichen Ländern vor allem die Schwulen betraf.
Am Kollektiv der Schwulen war abzulesen, was es heißt, damit umgehen zu müssen. Das war wirklich eine Lähmung.
Manche Leute beschreiben, dass sie in der Phase der Liberalisierung heftig sexuell unterwegs waren und durch die Bedrohung Aids buchstäblich nicht mehr sexuell sein konnten.
Das Erleben einer unmittelbaren Todesbedrohung führte zu einer schweren sexuellen Depression, zu einem Rückzug und dazu, dass der Körper des Anderen mit einem Tabu belegt wurde.
Das war eine lange Zeit die eigentliche Prävention, Safer Sex war Verzicht.
Aids hat zu neuen Formen des Trauerns geführt
In Diskussionen und bei Vorträgen von Schwulen, die diese Zeit miterlebt haben, auch in einem Teil deiner Texte scheint auch die Erinnerung an frühere Mitstreiter_innen zentral zu sein.
Safer Sex war lange Zeit Verzicht und so die eigentliche Prävention
Es haben sich damals Leute, Gruppen und Personen gefunden, auch in den Aidshilfen, die sich selbst ermächtigt haben. Diese Selbstermächtigung war gar nicht so einfach.
Das Benennen der Menschen von damals ist auch eine Erinnerung an eine schwere Zeit, bestimmte Personen tauchen auf, mit denen man gemeinsam gekämpft hat.
Es ist aber nicht nur eine Erinnerung an einen heroischen Kampf, sondern zugleich die Erinnerung an Menschen, die es nicht mehr gibt.
Eure Generation hat damals auch neue Formen des Trauerns entwickelt.
Ganz am Anfang war das erste öffentliche Trauern um unsere verlorenen Freunde deshalb so bedeutsam, weil wir sie damit gleichsam in unsere Mitte zurückholten.
Wir haben damit gleichzeitig den Raub unterbunden, den ihre Familien an ihren schwulen Söhnen begangen haben. Mit Raub meine ich, dass auf den Beerdigungen in den Familien über Aids nicht gesprochen werden durfte und das schwule Leben der an Aids gestorbenen Söhne ungeschehen gemacht werden sollte.
Viele Schwule, die Aids miterlebt haben, haben einen besonderen Umgang mit Trauer. Er ist humorvoll, und auch in den Erinnerungen an die 80er und 90er äußert sich ein ganz spezifischer Umgang mit dem Tod, zu dem beispielsweise kreative Trauerfeiern gehörten.
Was war anders an diesen Trauerfeiern?
Ich habe über diese öffentlichen Trauerfeiern erlebt, was kollektive Trauer ist.
Das ist eine andere als die individuelle Trauer über jemanden, den man liebt und verloren hat.
Die kollektive Trauer spürte man im ganzen Raum. In einem solchen Raum sind alle die Leidtragenden. Wenn man in einen solchen Raum gekommen ist, haben sich die Bestandteile der Luft verändert. Verließ man diesen Raum wieder, so hatte das schon etwas von einer Katharsis.
Möglicherweise rührt der von dir festgestellte besondere Umgang mit Trauer derjenigen, die Aids miterlebt haben, aus deren Erfahrung des wiederholten Trauerns in einem relativ kurzen Zeitraum.
Die kollektive Trauer prägt viele, die Aids in seiner alten, tödlichen Bedeutung erlebt haben
Ich merke gerade, dass unser Gespräch immer wieder um die andere kollektive Erfahrung derjenigen kreist, die Aids in seiner alten, tödlichen Bedeutung miterlebt haben.
In den Texten in meinem Buch steht dieses Thema manifest gar nicht im Mittelpunkt. Aber diese Erfahrung ist offensichtlich unhintergehbar.
Das wirft die Frage auf, ob man diese Erfahrung nicht doch als kollektives Trauma bezeichnen soll. Darüber muss ich noch einmal nachdenken. Doch das würde dann auf ein neues Buch hinauslaufen, in dem es explizit auch um die Frage gehen müsste, ob Aids eine Generationendifferenz unter den schwulen Männern gesetzt hat.
Die Sammlung Fortwährende Eingriffe mit Aufsätzen, Vorträgen und Reden von Martin Dannecker und einem Nachwort von Clemens Sindelar und Karl Lemmen ist als PDF auf aidshilfe.de abrufbar. Sie erscheint außerdem in Buchform im Verlag Männerschwarm (232 Seiten, 20 Euro).
Martin Dannecker bietet an, in Aidshilfen und anderen Einrichtungen an Lesungen und Veranstaltungen rund um sein Buch teilzunehmen. Anfragen bitte an den Männerschwarm Verlag, E-Mail: bartholomae@maennerschwarm.de.
Für die Ausstellung „Faszination Sex“ (November 2017 bis Februar 2018 im Schwulen Museum* Berlin) hat Patsy l’Amour laLove ein zweistündiges biografisch-narratives Interview mit Martin Dannecker geführt, das für die Ausstellung von Jens Kraushaar aufgezeichnet und geschnitten wurde (Übersetzung: Nicholas Courtman). Es erstreckt sich von Martin Danneckers Kindheit im Schwarzwald über die Schwulenbewegung der 1970er-Jahre bis hin zu den hitzigen Debatten während der sogenannten Aidskrise.
Das Video ist auch auf dem YouTube-Kanal der Deutschen Aidshilfe (DAH) zu sehen. Wir danken allen Beteiligten für die Erlaubnis, es über die DAH-Kanäle zu verbreiten.
https://patsy-love.de/faszinationsex
Weitere Beiträge von und zu Martin Dannecker, Patsy l’Amour laLove und zur Aidsgeschichte in Deutschland
Martin Dannecker wird Ehrenmitglied der Deutschen AIDS-Hilfe
„Wir können nicht mehr an Sex denken, ohne an Krankheit zu denken“
Mit dem Trauma Aids und den kollektiven Folgen der Aidskrise haben wir uns 2018 in einem Dossier beschäftigt:
Trauma Aids: Wie die kollektiven Folgen der Aids-Krise nachwirken
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