Interview

„Früher war einfach keine Zeit, zwischen Mann und Frau zu unterscheiden, weil alle gestorben sind“

Von Gastbeitrag
© Melike
Sie stammen aus drei Generationen und haben dennoch eines gemeinsam: Jule*, Melike und Sabine sind aktivistisch unterwegs. Aber vor welchen Herausforderungen stehen sie jeweils?
Von Christina Heuschen

In Deutschland engagieren sich laut der Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse (AWA) 2018 15,98 Millionen Menschen freiwillig für gesellschaftliche Belange. Melike, warum bist du aktivistisch tätig?

Melike: Ich will den Menschen ersparen, was ich erlebt habe. Das ist ganz einfach. Wenn du mit der HIV-Präventionsbotschaft unterwegs bist und du damit auch nur einen einzigen Menschen erreichst und ihm dann manche Situationen erspart bleiben, dann hast du ein menschliches Leben gewonnen oder du kannst es zumindest verbessern. Es gibt keinen besseren Grund für Engagement.

Wo seid ihr aktiv?

Jule: Ich arbeite im Beratungsdienst einer Schule mit Jugendlichen. Die kommen mit allen ihren Themen zu mir: Ritzen, Depressionen oder weil sie von ihren Eltern geschlagen werden. Dabei habe ich festgestellt, dass zum Erwachsenwerden auch der Umgang mit Sexualität dazugehört. Doch das wird zu wenig mit jungen Leuten besprochen. Deswegen arbeite ich jetzt auch in der sexuellen Bildung. Wahrscheinlich habe ich auch durch meine HIV-Infektion verstanden, dass ich kein Problem damit habe, über sexuelle Themen zu reden. Und das hat natürlich eine feministische Komponente. Themen wie Konsens, sexualisierte Gewalt und Gleichberechtigung spielen eine Rolle.

Mit 62 Jahren hast du dich schon in einigen Bereichen engagiert, Sabine.

Sabine: Ich habe mich immer irgendwie irgendwo in der Welt engagiert. Ich bin seit 1983 HIV-positiv. Nach meiner Diagnose bin ich dann zur Berliner Aidshilfe gegangen, nachdem ich mich dort schon einmal engagiert hatte. Da habe ich mich fortan aktivistisch sehr stark gemacht. Ich war Positiven-Sprecherin. Mit einem Freund zusammen, der verstorben ist, habe ich auch eine Zeitung herausgegeben, die über positive Leute und Wissen aus Amerika berichtete. Außerdem habe ich bei „Zuhause im Kiez“ gearbeitet. Das ist ein Pflegeprojekt, bei dem ich ein Beschäftigungsmodell für HIV-positive Menschen aufgebaut habe, die nicht mehr auf den ersten Arbeitsmarkt können, die aber trotzdem irgendwie arbeiten möchten. Heute gebe ich auch Seminare und bin Vorstandsfrau in der Berliner Aidshilfe.

Hat dein Engagement auch eine feministische Komponente?

Sabine: Ja, absolut. Ich bin in einem Frauenhaushalt groß geworden. Ich fand schon immer, dass wir Frauen diskriminiert werden. Frauen bekommen leider immer noch ein Rollenbild zugewiesen. Auch in der HIV-Community, egal auf welchen Ebenen das ist.

Melike: Ich glaube, dass wir Frauen im Bereich HIV und Prävention schon ziemlich starke Positionen haben. Hoffentlich ist das nicht nur ein Wunschgedanke.

Wie sieht denn dein Engagement aus?

Melike: Ich bin vor allem im Bereich Prävention mit einem Theaterprojekt unterwegs. Außerdem bin ich Mitglied im Netzwerk AfroLebenPlus. Das ist ein Netzwerk für Menschen ursprünglich mit afrikanischer Herkunft, aber jetzt ist es eigentlich für alle Migranten offen. Und unabhängig davon übersetze ich auch für Menschen in Flüchtlingsunterkünften oder Menschen deren Asylverfahren abgeschlossen ist, die aber noch neu hier sind und wissen müssen, wo und wie was abläuft.

Gibt es eine feministische Seite?

Melike: Naja, da werden Menschen aufgrund verschiedener Sachen diskriminiert. Das ist eine ganze Palette von Diskriminierungen: Gender, sexueller Hintergrund, Herkunft, Religion und Alter. Um darüber zu reden, dass man als Frau diskriminiert wird, muss man erst einmal ankommen. Das klingt vielleicht ziemlich hart, aber für Migranten ist das Luxus. Bevor du für Frauenrechte kämpfst, musst du erst einmal dafür kämpfen, dass du ein Recht hast zu bleiben. Dass du Zugang zum Gesundheitssystem hast. Du musst erst diese Basics haben. Du brauchst also zunächst die Rechte als Mensch.

Wo seht ihr Lücken im System?

Melike: Natürlich brauchen wir mehr Finanzierung für Projekte. Aber ich glaube, das ist überall so.

Mal abgesehen von der Finanzierungslücke, was gibt es noch für Probleme?

Sabine: Ich glaube, dass es in der HIV-Community kein Frauenzusammengehörigkeitsgefühl, kein gegenseitiges Unterstützen gibt. Ich merke das bei dem Generationswechsel, den wir haben. Für die jungen Frauen ist zum Beispiel das Kinderkriegen, das Muttersein ein Thema. Gerade im Bereich HIV ist es wichtig, medizinische Neuheiten zu kennen.

Ich finde es wichtig, dass wir uns eine Lobby aufbauen. Auch wenn wir aus den verschiedensten Ansätzen kommen oder verschiedenste Gründe haben, warum wir uns engagieren. Egal ob Mütter, Drogengebraucherinnen, Sexworkerinnen, HIV-Positive oder Aktivistinnen: Wenn man es schaffen würde, mehr Verständnis füreinander zu bekommen, dann kann es etwas werden. Bei uns Frauen ist es wichtig, gemeinsam dafür zu kämpfen. Wir haben jetzt das Netzwerk und ich hoffe, dass wir das auch so hinkriegen.

Jule: Ich glaube, wenn sich alle vernetzen würden, würde das schon helfen.

Sabine: In der Frauenarbeit direkt bin ich immer wieder an Grenzen gestoßen. Bei meinem letzten Seminar ging es zum Beispiel um das Älterwerden, Menopause und Sexualität. Sexualität kommt in unterschiedlichen Settings regelmäßig vor und ist bis heute immer wieder auch mit Scham besetzt: Beim Schwangerwerden, nach HIV-Diagnosen, bei HIV selbst und beim Älterwerden. Wenn wir uns in der sexuellen Aufklärung – und im Empowerment von Frauen generell – breiter aufstellen und sie intensiver betreiben würden, würden wir (HIV-positive) Frauen ein Stück weit schneller zu einem selbstbewussteren Leben kommen.

Wie sieht es im Bereich der sexuellen Bildung für Jugendliche aus?

Jule: Ich finde, dass es allgemein eine große Lücke ist, dass sexuelle Bildung nicht so verbreitet ist. Die Themen müssten viel mehr in der Bildung junger Leute besprochen werden. Ich finde da kann man ansetzen. Da wächst schließlich eine neue Generation heran.

Ihr stammt auch alle aus verschiedenen Generationen. Inwiefern hat sich bereits etwas im Laufe der Jahre geändert?

Sabine: Naja, vorher war es sehr direkt politisch. Während meines Engagements als Positiven-Sprecherin der Berliner Positiven haben wir uns oft an die Politik gewendet. Zu Beginn habe ich auch viel Sterbebegleitung gemacht. Und wir mussten uns mit den Amerikanern vernetzen, weil die Ärzte hier oft überfordert waren. Wir hatten andere Aufgabengebiete – mal abgesehen von der Diskriminierung, die früher viel schlimmer war als jetzt. Aber an so was konnten wir früher gar nicht denken. Da war eigentlich immer Adhoc-Hilfe angesagt. Wir waren daher viel aggressiver drauf als jetzt.

Melike: Ja, früher mussten wir mehr kämpfen. Ich bin 1977 geboren und komme aus der Generation, in der Ehrenamt selbstverständlich ist. Aber das hat auch einen traurigen Grund, denn wir hatten nicht den Zugang zu allen Sachen. Die Menschen mussten sich engagieren, um einen Zugang zu bekommen. Jetzt gibt es viele Projekte mit Menschen mit Migrationshintergrund im Präventionsbereich und viele Gesichter. Das ist zur Normalität geworden. Außerdem gibt es viele Frauenstrukturen. Hier in Berlin sind Frauen sehr aktiv. Das ist schön.

Jule: Ich glaube, dass ich mich auch persönlich verändert habe. Also ich habe so etwas wie Konsens schon am Anfang thematisiert, aber ich bin in manchen Themen viel sicherer geworden und betone das viel mehr. Es geht auch um Begrifflichkeiten. Ich finde, dass es auch ein feministischer Akt ist, Worte anders zu verwenden. Ich sage zum Beispiel Vulvalippen. Sprache hat sich verändert.

Jule, du bist mit 34 Jahren die Jüngste in der Runde. Siehst du in deiner Arbeit auch Unterschiede zu anderen Generationen?

Jule: In meiner Arbeit mit den Jugendlichen nutze ich Instagram-Geschichten, schaue Ausschnitte aus Netflix-Serien oder konsumiere YouTube-Kanäle. Aber das ist vielleicht auch etwas, was jetzt läuft. Was ich positiv finde, ist, dass es viele Männer gibt, die sich im Bereich Frauenrechte engagieren. Nicht nur Frauen. Es ist ein bisschen Mainstream geworden. Aber vielleicht ist das auch nur meine Blase.

Gibt es denn ein Highlight in eurer Arbeit?

Jule: Oh, da gibt es viele. Vielleicht eins: Da haben fünf muslimische Jungs über männliche Selbstbefriedigung mit mir geredet, obwohl ich da als Cis-Frau nicht so viel aus persönlicher Erfahrung beitragen kann.  Dass sie das Zutrauen gefasst haben, mit mir über so ein sensibles Thema zu reden, fand ich beeindruckend. Allgemein stellen die Jugendlichen mir sehr persönliche, sehr intime Fragen. Und es sind Gespräch auf Augenhöhe.

Melike: Am schönsten finde ich, wenn wir mit unserem Theaterstück so authentisch sind, dass sich die Zuschauer damit identifizieren können. Es ist toll, wenn Zuschauer applaudieren, weil  wir ihnen eine Lösung aufgezeigt haben. Und dafür musst du nicht unbedingt die Muttersprache sprechen. Denn Kunst ist eine universelle Sprache.

Sabine: In meinem langjährigen Engagement habe ich viele Frauen gesehen, die Depressionen haben, sehr verunsichert sind und sich nicht trauen, obwohl ich da so viel Potenzial sehe. Wenn Frauen dann gestärkt aus den Seminaren rausgehen, ist das was Besonderes für mich.

Im Bereich der Medikamente hat sich auch viel verbessert. Es war damals so, dass es keine Medikamentenstudien für Frauen gab. Aber Frauen reagieren auf manche Wirkstoffe ganz anders, weil die Hormonzusammenstellung anders ist. Da war aber auch einfach keine Zeit, zwischen Mann und Frau zu unterscheiden, weil alle gestorben sind. Im Laufe der Zeit hatten wir aber sehr viele Kooperationen mit Ärztinnen bundesweit. Die haben auch auf unsere Wünsche gehört und dementsprechend unsere Forderungen erforscht.

Welche Verbesserungen wünscht ihr euch? Auch im Bereich Frauenrechte?

Jule: Ich würde mir wünschen, dass sexuelle Bildung jedem Heranwachsenden zugänglich ist. Die muss wirklich etabliert und verankert werden. Und das soll nicht nur der Standardunterricht mit zwölf Jahren sein, sondern auch mit 14, 15. Und die Inhalte müssen erweitert werden. Ich thematisiere beispielsweise auch Pornos.

Außerdem müsste die Strafbarkeit bei sexualisierter Gewalt strenger werden. Die Rechte müssten allgemein adäquater, moderner gemacht werden. Da kommen die meisten ja leider irgendwie so davon. Aber auch die Haltung muss sich ändern. Ich habe vom Verhalten von Polizisten und Erlebnissen vor Gericht gehört, wo Frauen nicht geglaubt wurde. Das traumatisiert Frauen dann ein zweites Mal. Das kann nicht sein.

Sabine: Ich möchte gesellschaftspolitisch viel mehr daran arbeiten, dass Frauen sich frei und offen fühlen und auch die Möglichkeit haben, alles zu machen, wonach ihnen gelüstet. Im Sinne von Bildung. Ich möchte auch, dass Frauen nicht mehr wegen ihres Frau-Seins diskriminiert werden. Das nervt mich absolut ab, wenn jemand „Mäuschen“ sagt. Das hat etwas mit Sprache zu tun. Also das Kleinhalten von Frauen. Das sind Sachen, die wir eigentlich schon immer hatten, aber das muss noch viel stärker und ausgeprägter sein.

Melike: Es muss einfach einen gleichberechtigten Zugang für jeden zu allem geben. Als Mensch.

Aber wie kann feministischer Aktivismus in Zukunft aussehen, damit solche Ziele erreicht werden?

Jule: Ich glaube tatsächlich auch an die Kraft von Petitionen, denn dann muss sich mit einem Thema befasst werden. Vielleicht bräuchte es tatsächlich auch eine Leitfigur, die mehr in die Politik wirkt. Also Margarete Stokowski soll jetzt nicht in den Bundestag. Aber vielleicht braucht es da auch noch mehr Stars, die sich dem annehmen. Wenn die Welt darüber spricht, dann kommt es auch auf die politische Ebene.

Melike: Ich wünsche mir, dass sich Menschen überhaupt nicht mehr engagieren müssen. Es wäre großartig, wenn es keine Probleme mehr geben würde, bei denen man sagt, das ist unfair und dagegen muss ich kämpfen.


*Name von der Redaktion geändert

„Wir wollen Sexismus und Gewalt nicht länger ertragen“

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