Warum infizieren sich vermehrt Über-40-Jährige mit HIV? Paul Schulz hat einfach mal drei Männer im passenden Alter angesprochen

Um am Freitagabend im Münchener „Sub“ telefonieren zu können, ohne seinen Gesprächspartner anzuschreien, muss Guido Vael erst mal die Tür zu machen. „Unten in der Kneipe ist viel los, da tobt das Leben. Aber jetzt kannst du fragen.“ Irgendwelche Sperrgebiete? „Nee, eigentlich nicht. Ich hab nichts zu verbergen, dafür bin ich zu lange im Geschäft.“

Geschäft heißt in Guidos Fall: HIV-Prävention. Er leitet in Münchens schwulem Kommunikations- und Kulturzentrum den Bereich Prävention. Seit etwas mehr als 10 Jahren als HIV-Positiver. „Sozusagen aus erster Hand“, sagt er.

„Es war nur eine Frage der Zeit, dass ich positiv werde.“

Guido Vael gehört selber zu der Gruppe, in der die Infektionszahlen steigen, obwohl der Aufwärtstrend bei MSM insgesamt gestoppt ist: Er ist über 40. Sogar deutlich, Gudio Vael ist 62, eine alte Bewegungsschwester und Mitte der 1980er war er Mitbegründer der Deutschen AIDS-Hilfe.

Das Robert-Koch-Institut liefert in seinem Epidemologischen Bulletin Nr. 21/2009 für den Anstieg bei den Älteren nur eine Teilerklärung: „Die HIV-Testfrequenz nimmt mit steigendem Alter ab“. Anders formuliert: Ältere gehen seltener zum Test, deswegen werden Infektionen später festgestellt – so tauchen jetzt Infektionen, die schon länger bestehen, in der Statistik auf.

Auch Guido weiß nicht genau, wie er sich infiziert hat. „Ich habe mein Testergebnis mit 50 bekommen. Überrascht hat es mich nicht, ich dachte mir das schon.“ – Wieso das? „Naja, man weiß ja, was man so tut oder eben auch nicht. Und ich wusste, dass es eigentlich nur eine Frage der Zeit ist, bis ich positiv sein werde.“ Ein bemerkenswerter Satz für jemanden, der Menschen in die Lage versetzen möchte, negativ zu bleiben.

„Es geht ums Risikomanagement“, erklärt Guido. „Das mache ich seit 30 Jahren. Und auch wenn es Management ist, bleibt es eben auch ein Risiko. Ich habe mich wahrscheinlich als Aktiver beim Analverkehr ohne Kondom infiziert. Das galt vor 15 Jahren, als relativ safe. Damals hat man nicht über Schleimhäute oder Entzündungen geredet, die Infektionen begünstigen, sondern über Sperma als Übertragungsweg.“

Während er das sagt, ist Vael bemerkenswert entspannt. „Das ist in meinem Alter eben so“, erklärt er auf Nachfrage.

„Meine Lebenserwartung ist nicht viel niedriger als ohne Infektion.“

Haben Männer mit über 40 ein anderes Verhältnis zu HIV? „Bestimmt. Da kommen ein paar Dinge zusammen. Du fällst mit 40 aus dem schwulen Schönheitsraster raus und tust deshalb vielleicht eher Dinge, die du früher nicht getan hättest, wenn dich nochmal jemand attraktiv findet.“

Dabei seien er und seine Altersgenossen zugleich in einer vergleichsweise stabilen Lebenssituation, meint Guido Vael. „Ich lebe seit 30 Jahren mit meinem Partner, habe sichere berufliche Verhältnisse, meine Versicherungen sind abgeschlossen und meine Rente reicht im Alter zum Leben. Und meine Lebenserwartung mit HIV und einer Kombinationstherapie ist auch nicht viel niedriger als ohne Infektion. Für ältere Schwule bedeutet HIV eben nicht mehr unbedingt einen kompletten Lebensumbruch und ist deswegen nicht so angstbesetzt.“

Guido Vael gehört zu einer Generation Schwuler, deren Spielplätze langsam immer leerer werden: Darkromms und Klappen. „Wir hatten früher Sex mit einem Kerl, bevor wir seinen Namen wussten, wenn wir den überhaupt erfahren haben. Die Jüngeren haben eher wieder das Bedürfnis nach Romantik.“ Auch heute noch ist Vael bei Berlinbesuchen zu Gast in alten „Wirkungsstätten“, die „Scheune“ mag er besonders.

„Ich habe 45-jährige Schwule heulend vor Spiegeln gesehen.“

Auch der Schriftsteller Peter Hofmann hat festgestellt:„Darkrooms sind was für Ältere, der Altersschnitt liegt inzwischen deutlich über 30“. Er kennt die schwule Welt, von der Guido Vael spricht, sehr gut: Er hat dort recherchiert für sein Buch „Der letzte Prinz“, in dem zwei Großstadtpflanzen Ende 30 auf der Suche nach der großen Liebe sind. Quer durchs wilde Schöneberg.

Er selber ist gerade von Potsdam ins eher beschauliche Magdeburg gezogen. Mit der schwulen Welt in Schöneberger Kellern ist er nie richtig warm geworden. „Für mich war die Szene immer literarischer Steinbruch, aber nie Lebensmittelpunkt. Ich bin dort gern, aber irgendwie auch immer auf Besuch.“

Die innere Distanz hat ihre Ursachen, biografische und historische. „Nach der Wende, als ich als Ostler die ersten paar Male in der West-Berliner Szene war, habe ich 45-Jährige heulend vor Spiegeln in Szenekneipen gesehen. Deren Leben drehte sich nur um ihre sexuelle Attraktivität und als die wegbrach, brach auch ihre gesamte Persönlichkeit in sich zusammen. Schon damals dachte ich: So wirst du nicht alt.“

Das hatte nachhaltig Einfluss auf Peters Sexualität und damit auch auf sein Infektionsrisiko. Wo Guido mit 50 in Sachen Sex experimentierfreudiger war als mit 30, gibt Peter zu Protokoll: „Ich habe heute auch keinen anderen Sex als mit Mitte 20 und er ist auch nicht unsafer als früher, nur besser. Ich brauche weder SM noch Fisten, Intensität stellt sich für mich über Intimität her. Auf die kann ich mich jetzt viel besser einlassen als früher und zwar auch mit Gummi.“

Infizieren sich Ältere also vor allem dann, wenn sie altersbedingt in härteren Szenen landen?

„Für schlechten Sex bin ich heute einfach zu faul.“

Oliver Lesky möchte diese These so pauschal nicht unterschreiben. Als Lichtdesigner des Kleinkunsttrios Malediva bereist er ausgiebig den gesamten deutschsprachigen Raum und kennt die Szenen landauf landab. „Das alte Vorurteil, dass ältere Schwule automatisch in der Lederszene enden und dort dann auch riskantere Praktiken betreiben, stimmt so einfach nicht mehr“, sagt Oliver. „Die Lederszene ist längst zur Fetischszene geworden, die relativ altersunabhängig funktioniert. Was meine Generation noch zur Lebenseinstellung gemacht hat, ist für die Jungs eine große Spielwiese.“

Die Generation von Oliver Lesky, das sind sozusagen die jüngeren Älteren. Er ist 40 und trägt eine Lederjacke, aber die ist grün und hat mit Sex wenig zu tun. Er gehörte einmal zu einer Gruppe, die der Soziologe Michael Bochow mit einem Augenzwinkern die „Safer-Sex-Champions“ nennt: Früher blieben gerade die Schwulen mit viel Sex besonders safe. Heute, in Zeiten der Kombitherapien, habe sich das Blatt gewendet, erläutert Bochow: Diejenigen mit viel Sex seien nun diejenigen, die besonders zum Risiko neigen.

Oliver Lesky hingegen ist beim alten Modell geblieben: „Ich bin genauso safe wie mit Anfang 30 und vielleicht sogar safer als mit Anfang 20, weil ich nicht mehr so naiv bin. Und für schlechten, schnellen Sex bin ich inzwischen schlicht zu faul.“

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