Serie Chemsex

Phänomen Chemsex und die Folgen: Wir brauchen neue Konzepte

Von Dirk Ludigs
Dass in der schwulen Community der Konsum von chemischen Drogen beim Sex immer mehr ein Thema ist, macht sich auch in den HIV-Schwerpunktpraxen bemerkbar. Ein Gespräch über das Phänomen „Chemsex“.

Axel Baumgarten
Dr. med. Axel Baumgarten

Dr. Axel Baumgarten ist HIV-Schwerpunktarzt in Berlin und Mitglied im Vorstand der Deutschen Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter (dagnä).

Dr. Martin Viehweger ist ebenfalls HIV-Schwerpunktarzt in Berlin und bietet gemeinsam mit Pansy Parker und der Berliner Aids-Hilfe die Veranstaltungsreihe „Let’s Talk About Sex and Drugs“ an.

Herr Baumgarten, als wir uns vor zwei Jahren unterhielten, sprachen Sie schon von zunehmenden Problemen durch Chemsex. Wie hat sich dieses Phänomen seitdem verändert?

Baumgarten: Es ist eher mehr geworden. Erst vor anderthalb Stunden habe ich jemanden nach einer Überdosis Crystal Meth mit einer Myokardischämie (einer zu geringen Durchblutung des Herzmuskels; Anm. d. Red.) ins Krankenhaus geschickt. Aber wir Ärzte sehen natürlich nur die Problemfälle. Ich kann nicht einschätzen, wie das Verhältnis zwischen denen ist, die einen strukturierten Umgang mit den Substanzen haben, zu denen mit zunehmenden Problemen. In Bezug auf die Konsultations- und Behandlungsanlässe ist es ein wachsendes Problem mit psychischen und infektiösen Begleiterkrankungen.

Lässt sich das beziffern? Es gibt Zahlen einer Amsterdamer Klinik für sexuell übertragbare Infektionen, wonach der Anteil der Patienten, die Chemsex betreiben, bei fast 20 Prozent liegt.

Baumgarten: Es kommt sicher drauf an, welche Klientel man behandelt. Bei mir ist der Anteil nicht so hoch.

„Ich frage jeden nach Chemsex, der einen Check auf Geschlechtskrankheiten will“

Wie ist das bei Ihnen in der Praxis, Herr Viehweger?

Viehweger: Wir haben einen relativ hohen Anteil, auch wenn sich die Patienten nicht immer selbst als Chemsex-User bezeichnen. Ich frage eigentlich jeden nach Chemsex, der vor mir sitzt und einen Check auf Geschlechtskrankheiten haben will. Und es sind sicher über 20 Prozent, die angeben, dass sie GHB, Ketamin, Crystal Meth oder Mephedron nutzen.

Herr Baumgarten berichtet in dem Zusammenhang unter anderem von steigenden Zahlen bei bakteriellen Infektionen. Beobachten Sie das auch?

Viehweger: Das ist ein echtes Problem, und zwar nicht nur für den Einzelnen, sondern auch ein Public-Health-Problem. Auf Chemsex-Partys kann sich eine STI (sexuell übertragbare Infektion; Anm. d. Red.) relativ schnell ausbreiten, und nicht alle Beteiligten können anschließend erreicht und darüber informiert werden. Und die haben dann meist wieder Sex mit anderen.

„Wir laufen den ganzen STIs hinterher“

Das heißt, wir laufen den ganzen STIs hinterher. Wir fangen ad hoc mit Antibiotika-Therapien an, ohne überhaupt die Keime zu kennen, weil wir ahnen, dass die Person am Wochenende wahrscheinlich wieder Sex haben wird. Ich behandle die Patienten, damit ich am Ende die Leute, mit denen sie Sex haben werden, vor ihnen schütze. Das ist natürlich radikal, denn wir haben beim Thema Antibiotika ja auch eine Verantwortung. Und zurzeit kippen wir en masse Antibiotika in die Community.

Baumgarten: Die bakteriellen Erkrankungen bereiten uns derzeit größere Sorgen als HIV. Wir reden über einen erheblichen Antibiotikaeinsatz, über resistente Keime. Das hat wiederum eine Strahlkraft in Bezug auf Resistenzen gegenüber anderen Krankheiten. Aber, wie Herr Viehweger schon sagte, das lässt sich nicht in der Praxis und im Einzelfall lösen.

Wir sind streng genommen Kassenärzte und haben einen Versorgungsauftrag im Rahmen des gesetzlichen Krankenversicherungssystems. Wir haben nicht den Auftrag, Krankheiten in Deutschland auszurotten. Das ist eine staatliche Aufgabe. Dann muss der Staat auch die Ressourcen dafür zur Verfügung stellen und nicht die gesetzliche Krankenversicherung.

Viehweger: Wir bewegen uns da tatsächlich ein bisschen aus unserem eigentlichen Auftragsfeld heraus. Aber das sind auch nur die Ärzte, die Interesse und Vakanzen haben.

Was macht es denn aus Sicht des Arztes so schwierig, mit dem Phänomen umzugehen?

Chemsex
Dr. Martin Viehweger

Viehweger: Das Schwierige ist, die Menschen dort abzuholen, wo sie sind. Die Leute kommen ja nicht in die Arztpraxis und sagen: Ich habe ein Chemsex-Problem! Wie war das denn gerade bei der Myokardischämie, Herr Baumgarten?

Baumgarten: Das war ein bekannter Patient, der schon resistente Keime in seinen Hautabszessen durch Spritzdrogengebrauch hat. Der hat einen langen Weg mit Eskalationen und Verschlechterungen hinter sich, wie wir ihn typischerweise sehen: intensivierter Konsum seit circa einem Jahr, seit sechs Monaten zunehmende Beschwerden. Klassisch!

Beobachten Sie so einen problematischen Verlauf bei den meisten Konsumenten? Oder bleibt das eher die Ausnahme?

Baumgarten: Das ist die typische Karriere von jemandem, bei dem es einen Kontrollverlust gibt, eine Zunahme des Konsums aus welchen Gründen auch immer. Da wird dann die gesundheitliche Problemspirale angeworfen.

Viehweger: Da sind wir bei einem wichtigen Punkt. Nicht jeder, der GHB oder Ketamin nutzt, landet bei einer Myokardischämie. Ich denke, das wollte Herr Baumgarten auch gar nicht sagen.

Baumgarten: Nein, auf keinen Fall!

„Viele kommen zu uns in die Praxis und sehen kein Problem mit Chemsex“

Viehweger: Viele kommen zu uns in die Praxis und sehen kein Problem mit Chemsex. Die wollen einen STI-Check haben oder kommen mit dem Wunsch nach Krankschreibung, wegen Erschöpfung oder anderer Beschwerden.

Dann geht das Hamsterrad los: Entweder sie fangen sich wieder und haben so etwas wie einen kontrollierten Konsum. Oder sie legen eine fortschreitende Karriere hin. Das heißt, sie kommen immer öfter, haben eine zweite Hepatitis C oder eine dritte, infizieren sich mit HIV, dann kommt noch eine Syphilis, noch eine Krankschreibung. Das Schwierige ist, den Use vom Abuse zu unterscheiden.

Wie hoch schätzen Sie den Anteil derer, die einen kontrollierten Konsum hinbekommen.

Viehweger: Dazu weiß ich leider keine Zahlen. Ich würde mir aber wünschen, dass wir das beziffern könnten.

Gibt es denn so etwas wie die typischen „gefährdeten Fälle“?

Viehweger: Wenn das Alltagsleben auf die nächste Party, auf den nächsten Sexualkontakt ausgerichtet ist. Wenn sich die Finanzen auf den Konsum fokussieren. Wenn sich der Freundeskreis auf Sex-Apps reduziert und man nicht mehr ausgeht. Wenn man keine anderen Interessen mehr hat. Das sind schon qualitative Merkmale, an denen erkennbar wird, dass sich eine Person stark in diesem Feld bewegt.

Betrifft das eher Menschen mit einer psychischen Vorbelastung?

Viehweger: Puh! Also ich würde sagen, man muss nicht vorerkrankt oder psychisch vorbelastet sein, um in diesen Strudel zu kommen, denn erst mal kommen die Menschen ja nicht aus einem Krankheitsszenario, sondern aufgrund ihres Lebensstils.

„Es geht um eine Optimierung und Amplifizierung des aktuellen Lebens“

Was heißt das genau? Was unterscheidet einen Chemsex-User, sagen wir mal, von einem Junkie?

 Viehweger: Heutzutage ist die Intention des Substanzkonsums ein ganz anderer. Du willst nicht raus aus der Welt, du willst rein, dabei sein! Du hast FOMO, Fear Of Missing Out (auf Deutsch etwa: „Angst, etwas zu verpassen“; Anm. d. Red.). Du willst Partys feiern, Menschen kennenlernen. Und vor allem willst du, dass alles möglichst amplifiziert wird, länger dauert und intensiver ist. Das ist ein Phänomen, das wir nicht nur in der Sexualität erleben. Es geht hier um eine Optimierung und Amplifizierung des aktuellen Lebens.

Es ist einfach wichtig, dass wir die Konsumenten nicht über einen Kamm scheren und dass wir sie wertschätzend empfangen.

Der Optimierungsprozess kann aber auch schiefgehen …

Viehweger: Das hängt sehr vom sozialen Umfeld und den Erfahrungen ab, die man macht. Ob es Achtsamkeit untereinander gibt, in welchem Intervall die Chemsex-Ereignisse stattfinden.

Was die Abwärtsspirale angeht, gibt es immer wieder zwei Szenarien: Bei dem einen fällt es den Freunden oder dem Umfeld schneller auf als dem Betroffenen selbst. Und da, glaube ich, ist die Prognose günstiger, auch wenn ich keine Zahlen dafür habe.

„Hemmung ist ein großes Thema“

Bei dem anderen kommt es eher zu einer Reduktion des sozialen Umfelds, zum Verlust des Freundeskreises und der Sozialkontakte. Der schlägt später hier auf. Die Probleme sind dann weiter fortgeschritten, und der Zugang ist entsprechend schwieriger, denn der wird dann mehr über Krankheitsereignisse definiert und nicht über die eigene Motivation.

Baumgarten: Die Schwierigkeit ist die Rolle rückwärts. Chemsex-User erleben ja einen Lustgewinn in einem so vitalen Bereich wie Sexualität, der das bisher Erlebte bei weitem übersteigt. So berichten es ja viele. Den Schritt zurück zu gehen, das fällt nicht ganz so leicht. Ich glaube, das macht im Vergleich zu anderen Substanzen auch noch mal einen Unterschied.

Viehweger: Genau. Darum kommen wir mit den alten Konzepten der Entwöhnungstherapien nicht weiter. Wir wollen die Menschen nicht von Heroin oder Alkohol runterbekommen, sondern ihnen sagen, du kannst mit deiner Sexualität auch anders umgehen. Du kannst sie genießen, du kannst auch ohne Substanzen, die die Hemmschwelle senken, jemanden anfassen und berühren.

Hemmung ist ein großes Thema. Es geht um Schamgefühl und Intimität. Das heißt, die ganzen therapeutischen Konzepte müssten eigentlich darauf hinauslaufen, dass man über Sexualität und Intimität, Körpersprache und Körperarbeit geht. Und das ist die Rolle rückwärts, die Herr Baumgarten beschrieben hat, für die wir eigentlich noch gar keine Konzepte haben.

„Die Betroffenen würden sich nicht als süchtig bezeichnen“

Baumgarten: Die Betroffenen würden sich auch nicht als süchtig bezeichnen. Der Satz ‚Ich bin nicht wie die!‘ gehört zu den häufig formulierten Sätzen. Die klassische Suchtmedizin war in den letzten Jahren auf diese Form des Konsums nicht vorbereitet. Und es bleibt weiterhin ein sehr zähes Geschäft. Aber es gibt jetzt mehr Psychotherapeuten und Psychiater, die sich dieses Themas annehmen.

Zu den Schwierigkeiten gehört auch der Zugang zur Szene. Oft kommen die Menschen erst sehr spät mit gesundheitlichen Problemen zu Ihnen in die Praxen. Es gibt auch hierzulande den Wunsch nach Einrichtungen wie die Londoner Club-Drug-Clinic, eine auf Party-Drogen spezialisierten Klinik. Wie weit sind wir damit?

Baumgarten: Wir sind auf einem Weg. Allerdings ist der Weg sehr lang, und es geht nur langsam voran.

Viehweger: Es gibt Schwerpunktpraxen in Berlin, die sich stärker mit dem Thema befassen. Und es gibt Versuche, Ärzte, Nichtregierungsorganisationen, Beratung, Prävention, Therapie und Notdienst an einen Tisch zu bekommen und Konzepte zu entwickeln.

Der sogenannte Chemsex-Table?

Viehweger: Ganz genau. Gleichzeitig arbeiten wir ganz intensiv an einem Checkpoint in Berlin. Das ist ein Modell, das es in dieser Form in Deutschland bisher nicht gibt, in anderen Ländern aber sehr wohl. Die Idee ist, den medizinischen Bereich mit dem Beratungsbereich zu verzahnen, weil die momentan noch nicht richtig ineinandergreifen. Daran arbeiten wir, und das läuft gerade so langsam an.

Gibt es andernorts Vorreiter?

Viehweger: Ich arbeite derzeit parallel in Zürich. Die Checkpoints dort basieren auf drei Sektoren: einem medizinischen Sektor, einem psychiatrischen Sektor und einem Sektor von Nichtregierungsorganisationen, da sitzt die Aidshilfe mit drin.

Wir haben Psychotherapeuten mit im Haus, und mit allen Patienten, von denen ich denke, dass sie es nötig haben, kann ich zu den Therapeuten gehen. Arzt und Therapeut können gegenseitig einsehen, was mit den Patienten besprochen wurde. Das heißt, wir tauschen uns darüber aus, wie wir mit dem Patienten umgehen, was er eventuell braucht und wo es hingehen soll.

Das Problem in der Schweiz wiederum ist, dass es keine stationären Einrichtungen gibt, die auf Chemsex ausgerichtet sind. Das heißt, wir landen dort dann immer wieder an dem Punkt, dass man die Patienten jetzt eigentlich nach Deutschland schicken müsste.

Baumgarten: Der Berliner Checkpoint ist letztes Jahr in einer kleinen Version angelaufen. Uns ist ein bisschen die Zeit weggerannt, weil es schwer war, Räume zu finden. Dafür wird das Projekt verlängert, was sich positiv auf die finanzielle Stabilität auswirkt.

Wir als Dagnä (Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter; Anm. d. Red.) haben das mit vielen anderen Institutionen auf den Weg gebracht. Wir hatten sehr viel Wohlwollen in der Politik. Sonst so schwerfällige Strukturen wie die kassenärztlichen Vereinigungen sind sehr kooperativ, ein Klinikkonzern wie Vivantes ist bereit, Leute zur Verfügung zu stellen.

Vielleicht ist das auch der richtige Ort, um Public-Health-Aspekte umzusetzen, weil es eben nicht alleine aus dem Krankenkassensystem, sondern dual finanziert wird.

Wo befindet sich dieser Checkpoint?

Baumgarten: Am Hermannplatz in Kreuzkölln, wie es neuerdings heißt, also am Puls der Zeit. Jetzt muss man mal ein, zwei Jahre abwarten, um zu sehen, was dort an Versorgung für die Menschen, die unsere Hilfe suchen, geleistet werden kann.

Herr Viehweger, Herr Baumgarten, ich danke für das Gespräch.

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