Von Mai bis Dezember 2020 werden bundesweit Menschen mit HIV zu ihrem Leben mit HIV und zu Diskriminierungserfahrungen befragt. Isabel und Collins sind Teil des ehrenamtlichen Teams von „positive stimmen 2.0“ – und, wie alle Interviewer_innen, auch selbst HIV-positiv.

Isabel, Collins, wie der Titel bereits verrät, knüpft „positive stimmen 2.0“ an ein Vorgängerprojekt an. 2011/2012 wurden erstmals bundesweit Menschen mit HIV zu ihren Erfahrungen mit Ausgrenzung und Stigmatisierung interviewt. Wart ihr damals auch schon an diesem Community-Forschungsprojekt beteiligt?

Isabel: Ich bin damals selbst befragt worden. Als ich nun den Aufruf sah, dass Interviewer_innen für die Neuauflage gesucht werden, habe ich mich auch gleich gemeldet. Mich hat interessiert, die andere Seite als Interviewerin, kennenzulernen.

Collins: Ich bin zum ersten Mal dabei. Die Idee hinter dem Projekt – durch eine große Befragung wissenschaftlich fundiert Daten zur Diskriminierung zu sammeln – ist für mich von großer Bedeutung. Denn erst wenn wir wissen, wie und wo Menschen mit HIV immer noch diskriminiert werden, können wir gezielt dagegen vorgehen.

Ich erlebe in meiner Community immer wieder, dass HIV-Positive mit niemanden über ihre Infektion sprechen, sich nicht austauschen und deshalb ganz allein mit ihrer Krankheit sind. Ich erhoffe mir deshalb auch, dass wir durch „positive stimmen“ Möglichkeiten finden, solchen Menschen zu helfen, besser mit ihrer Infektion umzugehen.

Seid ihr beide schon länger in der HIV-Community engagiert?

Collins: Ich arbeite seit 2007 bei AfroLebenPlus mit, dem bundesweiten Zusammenschluss von HIV-positiven Migrant_innen, und bin auch in der Prävention tätig.

„Erst wenn wir wissen, wie und wo Menschen mit HIV immer noch diskriminiert werden, können wir gezielt dagegen vorgehen“

Isabel: Ich nehme immer wieder an spezifischen Veranstaltungen wie den Hetero-Treffen und dem HIV-Kongress „Positive Begegnungen“ teil, bin aber nicht organisiert tätig. Allerdings bin ich auf privater Ebene mit vielen Menschen vernetzt, die die Angebote von Aidshilfen gar nicht oder nur sehr selten in Anspruch nehmen. Insofern findet meine Selbsthilfearbeit gewissermaßen im privaten Umfeld statt.

Wie wurdet ihr auf eure Aufgabe bei den „positiven stimmen 2.0“ vorbereitet?

Collins: Wir wurden im Frühjahr im Rahmen eines dreitägigen Seminars für das Projekt geschult und intensiv mit dem Fragebogen und den Abläufen vertraut gemacht.

Isabel: Wir haben dort beispielsweise auch Strategien kennengelernt, wie wir mit möglichen schwierigen emotionalen Situationen umgehen können. Zum Beispiel wie wir erkennen können, ob vielleicht eine Pause im Gespräch angebracht ist oder wie wir uns schützen können, nicht zu sehr gefühlsmäßig involviert zu werden. Hier konnten wir von den Erfahrungen der Interviewer_innen der ersten „positiven-stimmen“-Studie profitieren.

Wie laufen die Interviews ab?

Collins: Wir haben einen feststehenden Fragenkatalog, den ich zu Beginn durchgehe, um vorab eventuelle Verständnisfragen zu klären. Wenn die Leute dann zum Interview bereit sind, bitte ich sie, die notwendige Einverständniserklärung zu unterzeichnen.

Isabel: Die Fragebögen sind übrigens nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Englisch verfügbar. Außerdem sind auch Interviews auf Russisch möglich. In anderen Sprachen sind wir auf Übersetzer_innen angewiesen.

Collins: Ich habe die Interviews zum Beispiel bislang überwiegend auf Englisch geführt, weil viele Migrant_innen sich auf Deutsch noch nicht so gut ausdrücken können.

Inwieweit können die Interviewten noch Themen und Aspekte einbringen, die über den Fragebogen nicht abgefragt werden?

Isabel: Diese Möglichkeit besteht. Am Ende des Fragebogens gibt es eigens dafür ein Freifeld, um in Textform genau solche Anliegen aufzunehmen. Mehr als die Hälfte der von mir bislang Befragten haben dieses Angebot auch wahrgenommen.

Wie lange dauert ein solches Interview?

Collins: Das ist sehr unterschiedlich. Manche beantworten die Fragen sehr zügig, andere brauchen etwas mehr Zeit und möchten die Gelegenheit nutzen, um von ihren Erfahrungen zu erzählen. Das kann auch etwas emotional werden und wir machen dann eine kurze Pause. Im Durchschnitt dauert ein Interview etwa eine Stunde.

Isabel: Der Fragenkatalog ist auf den ersten Blick sehr umfangreich. Einige Fragen betreffen allerdings nur bestimmte Personengruppen, zum Beispiel drogengebrauchende Menschen oder Bi- und Homosexuelle. Den Interviewten steht auch frei, auf einzelne Fragen nicht zu antworten.

„Es kann auch etwas emotional werden“

Mittlerweile habe ich 16 Menschen für ein solches Gespräch getroffen und die Mehrheit hat die Gelegenheit genutzt, um von den Erlebnissen zu erzählen, die hinter den scheinbar einfachen Antworten stecken. Das kann sehr befreiend und auch wertschätzend sein – für beide Seiten übrigens, für die Interviewten wie die Interviewer_innen.

Diese Gespräche werden aber nicht aufgezeichnet und fließen auch nicht in den Fragebogen ein?

Isabel: Nein, es sei denn, es ist etwas so wichtig, dass der oder die Interviewte sagt: „Das muss bekannt und  im Rahmen einer solchen Studie offengelegt werden.“ Dann können wir das im Freitext am Ende des Fragebogens festhalten.

Wo finden die Interviews statt?

Isabel: Da richten wir uns nach den Wünschen der Interviewpartner_innen. Wichtig ist ja, dass die Gespräche an einem Ort stattfinden, an dem sich die Interviewten wohl und geschützt fühlen. Manche möchten das Gespräch deshalb zu Hause führen, wir nutzen aber auch beispielsweise Räume der örtlichen Aidshilfen.

Die Interviewten erzählen euch im Zweifelsfalle sehr persönliche Dinge. Wie ist es um die Vertraulichkeit und Anonymität bestellt?

Isabel: Die Vertraulichkeit ist in jedem Fall gewährleistet.

Collins: Alles, worüber wir sprechen, bleibt im Raum, in dem die Gespräche stattfinden.

Isabel: Auch die Anonymität ist gesichert. So muss beispielsweise die Einverständniserklärung nicht unterschrieben werden, sondern ich kann dort auch lediglich Initialen einsetzen oder gar keine Angaben machen. Zur wissenschaftlichen Auswertung werden nur die Fragebögen weitergegeben, die gemeinsam mit dem Interview ausgefüllt bzw. angekreuzt werden. Persönliche Daten werden dort nicht festgehalten. Es gibt also keine Möglichkeit, die Fragebögen einer bestimmten Person zuzuordnen.

Haben euch die Erlebnisse und Erfahrungen der Interviewten bisweilen überrascht oder eher eure Erwartungen bestätigt?

Collins: Mich haben zwei Lebensgeschichten sehr bewegt. Ich habe einen schwulen Mann interviewt, der sein Heimatland verlassen musste, weil er wusste: Wenn die Menschen von seiner Homosexualität erfahren, werden sie ihn töten. In einem anderen Gespräch erzählte ein junger Mann vom Zusammenleben mit seiner Familie. Wenn er auf die Toilette geht, muss er alles desinfizieren, weil die Angehörigen Angst haben, sich sonst bei ihm anzustecken. Er muss sogar eigenes Geschirr verwenden. Es ist schwer vorzustellen, wie sich ein Leben unter diesen Umständen anfühlen muss.

„Die Befragung soll einen Querschnitt darstellen, wie Menschen mit HIV hier im Lande leben und was sie bewegt“

Isabel: Ich habe zunächst meinen nahen Bekanntenkreis um Interviews gebeten. Daher kannte ich zumeist einen wesentlichen Teil ihrer Geschichte. Inzwischen habe ich aber auch Gespräche mit Personen geführt, die mir als Interviewpartner_innen durch die Deutsche Aidshilfe vermittelt wurden. Bisweilen ist es für mich erschreckend zu hören, wie viel Diskriminierung immer noch stattfindet. Aber auch, wie schambehaftet eine HIV-Diagnose oft noch ist. Das hat mir einmal mehr gezeigt, wie wichtig es ist, diese Stimmen zu bekommen und auch laut werden zu lassen.

Habt ihr auch Menschen interviewt, die kaum Diskriminierung erfahren, die also ohne negative Erfahrungen gut mit HIV leben?

Collins: Ja, auch das gibt es, und das ist natürlich sehr erfreulich. Ein Mann erzählte beispielsweise von der Reaktion der Familie auf seine HIV-Diagnose. Sie hatten damit überhaupt kein Problem und sagten: „Es ist nicht deine Schuld, wir haben keine Angst und wir sind immer für dich da.“

Es können sich also auch Menschen für die Interviews melden, die eigentlich keine Diskriminierung aufgrund ihrer HIV-Infektion erfahren?

Isabel: Richtig, denn die Befragung soll ja einen Querschnitt darstellen, wie Menschen mit HIV hier im Lande leben und was sie bewegt.

Die Corona-Pandemie hatte Auswirkungen auch auf dieses Projekt. So wurde mit den Interviews später gestartet als zunächst geplant. Gibt es die Möglichkeit, die Interviews auch über Telefon oder als Videokonferenz zu führen?

Isabel: Die Gespräche sollen von Angesicht zu Angesicht geführt werden, deshalb sind Telefonate nicht gewünscht. Video-Chats etwa über Skype sind aber grundsätzlich möglich. Bei persönlichen Treffen achten wir natürlich auf den Sicherheitsabstand und wahren die Hygieneregeln. Wir versuchen dabei aber das Projekt trotzdem so intensiv umzusetzen, wie es gedacht ist.

Welche Erkenntnisse und Folgen erhofft ihr euch von der Studie?

Collins: Viele Menschen haben immer noch Angst vor Diskriminierung und trauen sich nicht, Orte aufzusuchen, wo sie andere Menschen mit HIV treffen und Erfahrungen austauschen können. Ich hoffe, dass das Projekt hilft, hier Wege zu finden, diese Menschen aus dieser Einsamkeit herauszubringen. Der erste wichtig Schritt ist, die Infektion für sich selbst zu akzeptieren.

Isabel: Zum einen hoffe ich natürlich, dass die Auswertung dieser Befragung zu dem Ergebnis kommt, dass die Diskriminierung seit der letzten Befragung abgenommen und sich die Gesellschaft in diesem Punkt weiterentwickelt hat. Zum anderen wünsche ich mir, dass sich aus der Studie wieder so gute Ideen und Initiativen entwickeln. Damals waren die „positiven stimmen“ eine Initialzündung für das Buddy-Projekt, das frisch Diagnostizierten für die erste Zeit nach der Diagnose andere Menschen mit HIV an die Seite stellt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Bis Ende 2020 sollen für „positive stimmen 2.0“ 500 in Deutschland lebende Menschen mit HIV aus verschiedenen Lebenswelten zu ihrem Leben mit HIV und ihren Erfahrungen mit Stigma und Diskriminierung befragt werden.

Interessierte können hier Kontakt mit dem Projektteam aufnehmen: positive-stimmen@dah.aidshilfe.de

„positive stimmen 2.0“ ist Teil des internationalen Projekts PEOPLE LIVING WITH HIV (PLHIV) STIGMA INDEX, das weltweit Menschen mit HIV zu ihren Diskriminierungserfahrungen befragt.

Das Projekt der Deutschen Aidshilfe (DAH) und des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) kooperiert dabei eng mit den Netzwerken und anderen Organisationen der Selbsthilfe von Menschen, die mit HIV leben, sowie den Aidshilfen und Projekten vor Ort.

Zum Projekt gehört auch eine Online-Umfrage, die noch bis zum 31.10.2020 von Menschen mit HIV ausgefüllt werden kann. Sie ergänzt thematisch die Peer-to-Peer-Interviews. Direktlink zur Umfrage: https://www.soscisurvey.de/pos_stim2/

Informationen zu und Ergebnisse der ersten „positive-stimmen“-Umfrage sind hier zu finden: www.positive-stimmen.de.

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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