„Wenn Aidshilfen sich für Frauen einsetzten, waren sie richtig stark“
Sie haben als langjährige Geschäftsführerinnen das Profil und die Arbeit ihrer Aidshilfe entscheidend mitgeprägt: Ulrike Hoffmeister zunächst von 1986 bis 1990 in Pforzheim und ab 2003 in Freiburg; karin cohrs ab 1997 in Hildesheim. Nun sind beide in Rente. Ein Gespräch über Frauen in Aidshilfe sowie alte und neue Herausforderungen.
Ulrike und karin, es war zu Beginn eures Studiums sicherlich nicht euer Berufsziel, eines Tages eine Aidshilfe zu leiten. Was hat euch zur Aidshilfe gebracht?
Ulrike: In meinem ersten Leben war ich Sozialarbeiterin und hatte während des Anerkennungsjahres Mitte der Achtzigerjahre in einer Therapieeinrichtung für Drogenabhängige erstmals Begegnungen mit Aidskranken. Das hatte mich sehr berührt. Auch in meinem engeren Freundeskreis waren viele schwule Männer von HIV betroffen. Ich habe sehr schnell gemerkt, dass HIV einfach mein Thema ist – auch weil es einen starken gesellschaftspolitischen Aspekt hat. Als dann die Aidshilfe Pforzheim 1986 eine Leitung für den Aufbau der Beratungsstelle suchte, habe ich mich darauf beworben.
karin: Ich bin 1997 eher zufällig zur Aidshilfe gekommen. Ich hatte zuvor, wie viele Sozialarbeiter*innen damals, eine ganze Reihe ABM-Stellen und Vertretungen in den verschiedensten Einrichtungen gemacht und parallel Zusatzausbildungen abgeschlossen. Zur Hildesheimer AIDS-Hilfe bin ich zunächst als Schwangerschaftsvertretung für die Stelle der Geschäftsführung, Buchhaltung und allgemeinen Verwaltung gekommen. Die damalige Geschäftsführerin konnte nicht wieder eingestellt werden – und so bin ich dageblieben.
In der Aidshilfe kann man sich gesellschaftspolitisch engagieren und sehr viel bewegen
karin, du hattest also keinen persönlichen Bezug zu HIV/Aids. Was hat dich immerhin 25 Jahre lang in der Aidshilfe gehalten?
karin: Ich gucke nicht weg, wenn ich Probleme sehe, unabhängig davon, wo ich arbeite. Das Arbeitsgebiet war und ist immer noch wichtig; es ist außerordentlich vielfältig, und man kann sehr selbstständig arbeiten – wenn man es denn möchte. Man kann sehr viele verschiedene Menschen kennenlernen, sich gesellschaftspolitisch engagieren und – zumal als Geschäftsführerin – auch sehr viel bewegen.
Die Leitungsfunktionen waren gerade in den Achtziger- und Neunzigerjahren, als die Aidshilfen vielerorts erst noch aufgebaut werden mussten, von schwulen Männern dominiert. Wie war das für euch? Wie war das Miteinander?
Ulrike: Als ich seinerzeit zur Aidshilfe Pforzheim kam, wurde ich tatsächlich von zwei schwulen Männern empfangen und eingearbeitet. Ich bekam sehr klare Vorgaben, was wichtig ist und was nicht. Das empfand ich aber nicht als bevormundend, sondern ich konnte von ihren Erfahrungen als ehrenamtliche Streetworker profitieren. Ich habe die Zusammenarbeit mit den schwulen Kollegen in der Aidshilfe bis zu meinem letzten Arbeitstag nie als schwierig empfunden, ganz im Gegenteil. Das hat stets auch viel mit einem selbst zu tun. Ich denke, dass ich auch selbst meinem Gegenüber immer sehr viel Akzeptanz entgegengebracht habe. Ich hatte damals den Eindruck, dass es wichtig war, dass eine Frau – und nicht ein schwuler Mann – die Leitung der Aidshilfe übernommen hat. Ich konnte in der politischen Arbeit viel einfacher Türen öffnen und eine Akzeptanz in der Stadtgesellschaft erreichen.
Als Frau konnte ich viel einfacher Türen öffnen und Akzeptanz erreichen
karin: Als ich zur Hildesheimer AIDS-Hilfe kam, traf ich dort auf ein reines Frauenteam. Im Vereinsvorstand gab es zwei Männer und drei Frauen. Nach dem Tod des Geschäftsführers 1993 hatten immer Frauen diese Position übernommen, sodass ich mich in dieser Arbeitsstelle mit keinerlei Vorbehalten auseinandersetzen musste. Und im Übrigen gab es auch in den anderen niedersächsischen Aidshilfen Geschäftsführerinnen.
Ulrike: Ausgegrenzt fühlte ich mich viel mehr bei anderen sozialen Einrichtungen in der Stadt. Da gab es in den Anfangsjahren sehr große Vorbehalte. Einerseits war man sehr neugierig, aber auch stets mit einer gewissen Distanz. Es herrschte ja noch eine gewisse Panik, was HIV und Aids anging. Das hat sich erst im Laufe der Zeit gelegt.
karin: Das kann ich bestätigen. Dieses Tabu ist aber bis heute nicht völlig verschwunden.
Ulrike, du hast eben sehr gut deutlich gemacht, dass eine weibliche Geschäftsführung von großem Vorteil war. Das impliziert, dass du nicht als potenziell Betroffene wahrgenommen wurdest, was letztlich bedeutet, dass Frauen in der Öffentlichkeit beim Thema HIV lange ausgeblendet wurden. War es dadurch schwieriger, Frauen als Zielgruppe in der Aidshilfearbeit mitzuberücksichtigen?
Ulrike: Ich habe diesbezüglich nie einen Mangel empfunden. Zu meiner Zeit in der Aidshilfe Pforzheim bestand das ehrenamtliche Team sicherlich zur Hälfte aus Frauen, beispielsweise Ärztinnen und Sozialarbeiterinnen, die über ihren beruflichen Kontext zu uns gefunden haben. Später gehörte es fast zum guten gesellschaftlichen Ton, in der Aidshilfe mitzuarbeiten.
Die Stelle einer Frauenreferentin musste erst erkämpft werden
Der Schwerpunkt der Präventionsarbeit lag eindeutig bei schwulen Männern. Wir hatten aber immer auch schon Schwangere oder Drogengebraucherinnen betreut. Grundsätzlich aber waren Frauen in der Tat noch nicht so Thema, wie es heute der Fall ist. Ich habe deshalb als Abschlussarbeit meines Public-Health-Studiums 2002 das Frauennetzwerk „Viva la Donna“ gegründet – ein medizinisches und psychosoziales Versorgungsnetzwerk für Frauen und Schwangere mit HIV und Aids in Südbaden – und vieles damit anstoßen können. Damals war bei der Deutschen Aidshilfe das Thema Frauen eher unterbelichtet. Die Stelle einer Frauenreferentin musste erst erkämpft werden.
Gab es bei euch in Hildesheim spezielle Angebote für Frauen?
karin: Als ich zur Aidshilfe kam, hatten sich durch die Kombitherapie viele Arbeitsbereiche verschoben. Statt der Sterbebegleitung konnten sich Ehrenamtliche nun mehr der Prävention widmen, die queerpolitische Arbeit wurde ausgebaut. Hier waren immer auch Frauen inhaltlich beteiligt. Die vier Säulen unserer Arbeit – Prävention, Beratung, Betreuung und Antidiskriminierungsarbeit – bezogen sich für uns immer auf alle Menschen, auch wenn die Schwerpunkte variieren. Durch das Projekt „Kinder und Aids in Niedersachsen“ hatten wir zudem viele Frauen als Klientinnen.
Wie habt ihr die Arbeit anderer Aidshilfen wahrgenommen? Welche Rolle spielten über die Jahrzehnte dort Frauenthemen?
Ulrike: In Baden-Württemberg habe ich das tatsächlich sehr unterschiedlich wahrgenommen. Das Thema wurde auch hier eher vernachlässigt. Es gab sozusagen rein schwule Aidshilfen, die kaum Angebote für Frauen hatten. Doch wenn sich Aidshilfen dafür einsetzten, waren sie richtig stark. Ich denke beispielsweise an die Aidshilfen in Heidelberg. Aber auch in vielen anderen Aidshilfen – in Hamburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen – gab es eine viel größere Bereitschaft und damit auch eine größere Angebotspalette.
Grundsätzlich aber habe ich das Gefühl, dass das Thema Frauen immer noch oft vernachlässigt wird. Dabei ist gerade der Aspekt Frauen und Schwangerschaft von großer Bedeutung, insbesondere für viele geflüchtete Frauen.
karin: Wir hatten in Hildesheim auch frauenspezifische Angebote, jedoch nicht durchgängig. Das hängt damit zusammen, dass Hildesheim einfach eine vergleichsweise kleine Stadt ist und es nicht immer ausreichend Interessierte für speziellere Gruppen gibt, etwa für Frauen oder Drogengebraucher*innen.
Frauen sind heute viel präsenter und selbstverständlicher
Wir haben aber viel mit Frauengruppen anderer Einrichtungen zusammengearbeitet, etwa bei Asyl e. V. oder im Café der Drogenhilfe. Und wir haben auf öffentlichen Veranstaltungen wie Straßenfesten spezielle Präventionsangebote nur für Mädchen und Frauen gemacht. Was die Arbeit der Deutschen Aidshilfe angeht, sind Frauen heute viel präsenter und selbstverständlicher, zum Beispiel in den Publikationen und Kampagnen.
Für mich ist es im Laufe der Jahre allerdings immer unwichtiger geworden, ob es einen Schwerpunkt Frauen gibt. Ich fand es wichtiger, sich an alle Menschen zu wenden. Die Bedarfe verändern sich ja auch. Nehmen wir beispielsweise die Prävention in der afrikanischen oder in der türkischen Community. In diesen Bereichen sind wir früher gar nicht angekommen mit unserer Botschaft, und so ergeben sich immer wieder neue, eigene Arbeitsschwerpunkte. So habe ich zum Beispiel erst in den letzten Jahren in einem türkischen Frauensportverein mehrere Präventionsveranstaltungen durchführen können – angeregt durch eine engagierte Leiterin dort.
Es war ein ewiger Kampf, Gelder für neue Projekte zu akquirieren
Gibt es Erfahrungen, die so nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben, dass sie euch auch jetzt noch begleiten?
Ulrike: Da hätte ich eine lange Liste! (lacht) Angefangen bei den homophoben Landräten und Gemeinderatsmitgliedern, mit denen man bei der Geldbeschaffung zu tun hatte. Das verfolgt mich manchmal immer noch. Ich bin froh, dass ich das los bin. Die Arbeit der Aidshilfe wird ja nicht automatisch und selbstverständlich von der Stadt oder dem Land gefördert, und es war bis zu meinem letzten Arbeitstag ein ewiger Kampf, Gelder für neue notwenige Projekte zu akquirieren. Wir hatten schon 2005 damit begonnen, im Bereich Migration spezifische Projekte zu entwickeln und umzusetzen. Dafür erhielten wir 2007 den Deutschen Präventionspreis. Das waren viele Kämpfe, die ich als Geschäftsführerin ausgefochten habe. Der letzte betraf unseren Checkpoint Plus. Es hat viele Jahre gedauert, bis wir beim Land Baden-Württemberg damit durchgedrungen sind.
Mich werden diese diversen Diskriminierungen nicht loslassen
karin: Mich werden diese diversen Diskriminierungen, denen ich durch die Aidshilfearbeit begegnet bin, nicht loslassen – und das möchte ich auch nicht loswerden. Ich werde mich künftig ehrenamtlich in der Antidiskriminierungsarbeit, gerne auch in anderen Bereichen als der Aidshilfe, engagieren. Ich bin immer wieder aufs Neue wütend, wenn ich an die einzelnen Fälle, mit denen ich in der Aidshilfe zu tun hatte, auch nur denke. Sei es die Diskriminierung von Menschen mit HIV durch ihre Ärzt*innen und medizinisch-pflegerisches Personal oder die alltägliche Diskriminierung von Menschen wegen ihrer Hautfarbe.
Und es gibt sicherlich Dinge, denen ihr keineswegs nachtrauert.
Ulrike: Ich bin froh, dass ich die extreme Verantwortung los bin. Ich war all die Zeit mit Herzblut bei der Sache und habe mich so sehr mit dieser Arbeit identifiziert, dass ich deshalb nun auch erst einmal Abstand zur Aidshilfe brauche und zur Ruhe kommen muss. Ich merke erst jetzt, was das für eine große Kraftanstrengung war, und frage mich, wie ich das all die Jahre eigentlich geschafft habe.
Es waren Jahre im Dauerlauf
karin: Das waren auch bei mir Jahre im Dauerlauf, und ich genieße es jetzt einfach, langsamer zu sein. Es gelingt mir allerdings nicht komplett, wenn ich ehrlich bin. (lacht)
Mir geht es ansonsten wie Ulrike: Ich bin froh, dass ich mich nicht mehr um die Finanzen kümmern muss. Ich freue mich darauf, es mir an den Weihnachtstagen endlich gemütlich machen zu können und mich nicht, wie bisher, im Dezember mit dem Jahresabschluss herumschlagen zu müssen. Diese jahrzehntelange fehlende Finanzierungssicherheit; diese ständige Angst, dass das Geld nicht reicht und wieder Arbeitsstunden gekürzt werden müssen. Durch das Streichen öffentlicher Mittel ist das Personal bei uns von vier auf zwei Stellen geschrumpft. Das hat dazu geführt, dass ich ab 2012 zusätzlich in der Beratung und Betreuung gearbeitet habe. Ende 2021 beinhaltete die Arbeit des geschäftsführenden Vorstands sowohl die Beschaffung der nötigen Gelder und das Steuern des Haushalts, die Beratung zu HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten, die Durchführung von entsprechenden Tests, die Arbeit mit HIV-positiven Menschen, Präventionsveranstaltungen und Öffentlichkeitsarbeit. Ich habe auch mal ein Dreivierteljahr allein gearbeitet.
Du musstest also deine Aidshilfe faktisch als One-Woman-Show im Alleingang leiten?
karin: Richtig. Und 2004 haben wir die Vereinsstruktur geändert, weil der ehrenamtliche Vorstand nicht mehr die Haftung übernehmen wollte. So wurde ich geschäftsführender Vorstand. Diese Zäsur hat auch viel Kraft gekostet.
Ulrike: Das ist ein wichtiger Punkt, den du hier anspricht. Die Vereinsstruktur hat auch bei meiner Geschäftsführung sehr viel Zeit und Energie gebunden und wirkt sich nicht zuletzt auf Förderungen aus. Ein Verein kann Gelder anders akquirieren als etwa eine GmbH. Es ist deshalb nicht überraschend, dass es mit den Jahren immer schwieriger geworden ist, Menschen für die Vorstandsarbeit zu finden. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns eingestehen, dass sich diese Strukturen vielleicht überlebt haben. Es sollten im Verband daher Alternativen diskutiert werden, wie man den Aidshilfen diese Arbeit einfacher gestalten könnte.
LGBTIQ- und Trans-Themen müssen Alltag werden
Das wäre also eine Aufgabe, die auf Bundesebene angegangen werden könnte. Welche Herausforderungen warten darüber hinaus auf die Aidshilfe allgemein und speziell auf eure Nachfolger*innen in euren regionalen Aidshilfen?
Ulrike: Ich denke, dass sich einige Aidshilfen auch inhaltlich neu aufstellen müssen. Wenn wir uns wirklich als Expert*innen für sexuelle Gesundheit verstehen, müssen LGBTIQ- und Trans-Themen noch viel mehr unsere Beratungsarbeit durchdringen und Alltag werden. Dazu gehört möglicherweise auch, dass Aidshilfen eigene Versorgungsstrukturen entwickeln. Wir sind in Freiburg mit dem Checkpoint Plus diesen Schritt bereits gegangen und bieten in Zusammenarbeit mit Ärzt*innen neben Beratung und Tests auch Behandlungsmöglichkeiten inklusive der PrEP an. Solche Angebote in Kooperation mit HIV-Ärzt*innen aufzubauen bzw. aufrecht zu erhalten, finde ich sehr wichtig. Eine andere Aufgabe ist meines Erachtens, auch für Menschen ohne Aufenthaltspapiere eine gute Grundversorgung zu gewährleisten. Auch an dem großen Thema Antidiskriminierungsarbeit müssen wir dranbleiben.
karin: Im Laufe der Jahre hat sich die positive Selbsthilfe emanzipiert, und die queeren Gruppen in Hildesheim haben sich zu einem Verein zusammengeschlossen. Wir arbeiten an der Frage, welche Rolle Aidshilfe haben soll und ob eine Zusammenarbeit in einem Zentrum nützlich wäre.
Ich habe sehr viele Lebens- und Sichtweisen auf die Welt kennengelernt
Was vermisst ihr vielleicht jetzt schon oder womöglich in naher Zukunft?
karin: Ich habe sehr viele Lebens- und Sichtweisen auf die Welt kennengelernt – und das fehlt mir.
Ulrike: Da kann ich mich nur anschließen. Das Pulsierende, mit vielen Menschen in Kontakt zu sein, den oft sehr langjährigen Mitarbeitenden nicht mehr täglich zu begegnen, immer wieder mit neuen Themen konfrontiert zu werden, mich mit neuen Dingen auseinandersetzen zu müssen – das sind geistige Anregungen, die ich vermissen werde.
karin: Und nicht zu vergessen die dazugehörigen Erfolgserlebnisse.
Was wünscht ihr euren Nachfolger*innen?
Ulrike: Mein Nachfolger ist jung und engagiert, und ich wünsche ihm, dass er sich an Dingen festbeißen kann, um sie durchzusetzen und wichtige Themen voranzutreiben. Außerdem wünsche ich ihm, dass er seinen eigenen Weg findet. Nichts ist schlimmer als diese Formulierung, dass jemand in die Fußstapfen eines anderen treten soll.
karin: Ich habe bei meiner Nachfolgerin manchmal ein schlechtes Gewissen, denn ich habe sie ja eingestellt. Und ich weiß, was die Arme alles leisten muss! Die Arbeit ist zwar vielfältig, aber es ist auch immens viel. Ich wünsche ihr deshalb Gelassenheit und dass sie sich dabei nicht aufreibt.
Vielen Dank für das Gespräch!
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