Sieben Punkte, auf die Aidshilfen bei der Digitalisierung achten müssen
Der Digitalisierungsprozess wird die Aidshilfen in den kommenden Jahren herausfordern und nicht ohne Probleme bleiben. Doch viele mögliche Enttäuschungen und Fehler lassen sich vermeiden.
Die Aufbruchsstimmung war beim Abschlussplenum des Fachtags „Digitalisierung“ der Deutschen Aidshilfe im Oktober 2021 förmlich zu greifen. In dem geballten Programm aus Vorträgen und Workshops wurde vielen der Teilnehmenden erstmals deutlich, welche Vielfalt an Erleichterungen und neuen Möglichkeiten sich der Aids- und Selbsthilfe durch die Digitalisierung eröffnen.
Rückschläge bei der Digitalisierung werden nicht ausbleiben
Sie umzusetzen allerdings bleibt für jede Einrichtung oder Organisation eine große Aufgabe. Damit diese Herausforderung erfolgreich bewältigt werden kann, sollte das eine oder andere nicht aus dem Blick geraten – so eine der Erkenntnisse aus diesem Fachtag.
1. Die Digitalisierung bringt auch Frust
Ganz gleich, in welchem Teilbereich neu strukturiert und technisch aufgerüstet wird, ob die interne Verwaltung oder digitale Kommunikation: Rückschläge werden nicht ausbleiben, und sei das jeweilige Projekt auch noch so gut durchdacht und geplant.
Das kostet dann nicht nur Nerven und Zeit, sondern frustriert natürlich auch. Es ist daher wichtig, sich nicht zu viel auf einmal vorzunehmen, und vor allem auch: alle Kolleg*innen in diesen Prozess einzubinden. Das gilt vor allem für jene, die nicht so technikaffin sind und sich deshalb von solchen Neuerungen schneller überfordert und daher auch gestresst und entmutigt fühlen könnten.
Deshalb ist es auch hilfreich, vorab gut zu vermitteln, welche Vorteile und Vereinfachungen mit der jeweiligen digitalen Umgestaltung angestrebt werden.
2. Datensicherung
Nichts und niemand ist vor einem Hackerangriff sicher, alles können Opfer von Cyberkriminellen werden. Im Juli 2021 etwa war nach einem solchen Angriff das gesamte IT-System der Kreisverwaltung Anhalt-Bitterfeld für Wochen blockiert, sodass keine Bescheide erstellt und Sozial- und Unterhaltsleistungen nicht mehr ausgezahlt werden konnten. Und im November 2021 wurden die Handelskette MediaMarktSaturn sowie in Israel eine Dating-Seite gekapert und die Betreiber*innen erpresst.
Datenschutz sollte daher gerade von Aidshilfen nicht nur als lästige Pflicht, sondern als Teil der besonderen Verantwortung für die Mitarbeitenden wie für die Klient*innen gesehen werden.
Einfach ist dies freilich nicht. Es ist nicht immer leicht, niedrigschwellige, datenschutzkonforme Angebote zu etablieren, die den Nutzungsgewohnheiten der Klient*innen – etwa die Kontaktaufnahme über WhatsApp oder E-Mail – entsprechen. Die Beratungsteams wie die Aidshilfe-Einrichtungen überhaupt müssen sich daher ihrer Verantwortung bewusst sein und vor allem intern, aber auch bei den Klient*innen das Bewusstsein für unsichere Kommunikationswege schärfen.
Datenschutz ist Teil der besonderen Verantwortung von Aidshilfen für Mitarbeitende wie Klient*innen
Das gilt in gleichem Maße auch für die Macht von Plattformen wie Facebook, TikTok oder Instagram – und für den Preis, den wir für die Nutzung (oft unwissentlich) mit unseren Daten zahlen.
3. Digitale Kluft
So demokratisch, wie man landläufig denkt, ist das Internet gar nicht. Denn nicht alle Menschen verfügen über die notwendigen Kenntnisse oder Geräte, um etwa online nach Informationen zu suchen, digitale Beratungstools zu nutzen oder ein Chat-Forum besuchen zu können.
All dies sollte bei der Konzeption von digitalen Angeboten mitbedacht sein: Wen erreichen wir dadurch besonders gut, wen aber verlieren wir womöglich? Sind die Angebote barrierefrei? Gibt es zum Beispiel für Menschen ohne Smartphone oder ohne Internetzugang oder für solche mit eingeschränkten Sprachkenntnissen passende – analoge – Alternativen?
Wichtig ist auch, nicht nur Klient*innen, sondern auch den Mitarbeitenden technische Hilfe anzubieten, wenn es an den notwendigen Kompetenzen und Kenntnissen fehlt.
4. Digitale Angebote sollten kein Selbstzweck sein
Das Internet ist faktisch grenzenlos und das Angebot an Sozialen Medien wächst immer weiter. Das kann verlockend sein, aber auch unter Zugzwang setzen.
Doch nicht immer bedeutet mehr tatsächlich mehr. Insbesondere lokale und regionale Projekte und kleinere Organisationen mit begrenzten Ressourcen sollten gut abwägen, wo sie tatsächlich präsent sein wollen.
Sich auf allen Sozialen Kanälen von Facebook bis TikTok zu tummeln und zudem eine eigene Webseite zu unterhalten, ohne die einzelnen Auftritte konsequent zu pflegen und zu bespielen, ist letztlich kontraproduktiv.
Mehr ist bei der Digitalisierung nicht immer mehr
Die Informationen auf den eigenen Web-Auftritten wirken nämlich nur dann für Nutzer*innen vertrauenswürdig, wenn sie auch stetig aktualisiert werden. Suchmaschinen erwarten Mindeststandards, damit eine Internetseite höher gelistet wird. Die Sozialen Medien wie Facebook erwarten kontinuierlich neue Veröffentlichungen, damit diese in den Timelines der Nutzer*innen überhaupt angezeigt werden.
Es sollte daher gut überlegt sein, welche Online-Auftritte für das jeweilige Projekt oder die eigene Organisation sinnvoll sind und auch langfristig gepflegt werden können.
5. Digitale Kompetenzen müssen gefördert werden
Der Umgang mit Sozialen Medien oder digitalen Angeboten wie der Videoberatung oder dem papierlosen Büro – die Digitalisierung wird in allen Bereichen der Aidshilfe-Arbeit Einzug halten. Dies bedeutet, dass digitale Kompetenzen eine entscheidende Grundvoraussetzung für die digitale Transformation sind und dass in Zukunft also alle ehren- wie hauptamtlich Mitarbeitenden über entsprechende Kenntnisse verfügen müssen.
Dieses Wissen zu teilen – unter Kolleg*innen wie innerhalb des Verbandes – wird eine wichtige Aufgabe sein. Die Digitalisierung wird daher fester Bestandteil bei innerbetrieblichen Fortbildungen wie auch in der Berater*innen-Schulung werden müssen.
Digitale Weiterbildung wiederum benötigt eine eigene Methodik und Didaktik und muss abwechslungsreich gestaltet werden. Der klassische Frontalunterricht, wie er als analoge Veranstaltung vielleicht möglich wäre, ist als Videoformat auf Dauer zu eintönig und ermüdend. Dafür sind solche digitalen Formate zeiteffizient und ressourcensparend, sie ermöglichen auch eine anonyme Teilnahme und Aufzeichnungen können zudem für E-Learning-Programm eingesetzt werden.
6. Digitale Kommunikation hat Grenzen
Durch die Pandemie haben sich Videokonferenzen, Zoom-Meetings oder WhatsApp-Videochats als Kommunikationsform durchgesetzt und auch in der Aidshilfe-Arbeit breiten Einsatz gefunden, sei es für Teambesprechungen, digitale Gruppentreffs, Fortbildungen oder Beratungsgespräche.
Doch nach zwei Jahren Corona sind viele dieser Videokonferenzen überdrüssig. Das sollte bei Planungen bedacht werden. Insbesondere aber ist stets zu überlegen, ob eine Videokonferenz für den jeweiligen Anlass auch wirklich der beste Kommunikationsweg ist. Das gilt insbesondere für Gespräche im Beratungs- oder Selbsthilfe-Kontext.
Videokonferenzen sind nicht immer und nicht für alle der beste Kommunikationsweg
Nicht alle Menschen haben beispielsweise die Möglichkeit, zu Hause ungestört zu sprechen. Bei Telefonaten und Chats fallen zudem die Mimik und Gestik weg, und im Beratungsprozess kann die nonverbale Kommunikation von großer Bedeutung sein.
Im Blick behalten sollte man auch, dass Menschen mit eingeschränkter Schreibkompetenz bzw. begrenzten Sprachkenntnissen sich vielleicht nur unzureichend in Chats verständlich machen können.
7. Digital ist oft wenig sozial
Nach zwei Jahren Pandemie ist dies zu einer kollektiven Grunderfahrung geworden: So schön es war, sich in Zeiten des Lockdowns und der Kontaktbeschränkungen wenigsten auf dem Bildschirm zu sehen und über WhatsApp oder via Chats kommunizieren zu können, sind diese technischen Wege doch kein vollwertiger Ersatz für den sozialen Austausch im „realen Leben“.
Digitale Kommunikationsformen sind zwar bequem, ortsunabhängig und zeitsparend und werden nach Corona auch neuer Standard bleiben. Doch zwischenmenschliche Kontakte und das Miteinander leiden oft darunter.
Deshalb sollte für Kontakte im Beratungskontext wie auch zwischen den Mitarbeitenden stets im Auge behalten werden, wie der soziale Austausch in einer digitalen Welt aufrechterhalten oder ein Ausgleich in der analogen Welt geschaffen werden kann.
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