Die Digitalisierung ist längst in Aidshilfen angekommen – in unterschiedlichsten Bereichen und mit überraschenden Ideen. Die Pandemiemaßnahmen haben ihr einen weiteren Schub gegeben.

Wenn wir in einigen Jahren auf die Corona-Krise zurückblicken, werden die Bildkacheln von Videokonferenzen ganz sicher Teil unserer kollektiven Erinnerung sein. Das digitale Gespräch, ob zu zweit oder in einer Gruppe, ist während der Lockdowns und in den Zeiten der Kontaktbeschränkungen zum Alltag vieler Menschen geworden – auch in der Arbeit von Aidshilfen.

So haben einige Aidshilfen gleich zu Beginn der Kontakteinschränkungen angefangen, Beratungen auch digital anzubieten – sei es telefonisch, in Chats oder per Videokamera. Viele der Ideen entstanden ganz direkt aus dem Bedarf heraus.

„Wir hatten beispielsweise einen Klienten, der einen HIV-Test machen, aber wegen Corona nicht in unsere Räume kommen wollte“, erzählt Anna Matern-Bandt von der Aidshilfe Emsland. Dem Mann wurde kurzerhand ein Selbsttest-Set postalisch zugeschickt, die Anwendung wurde via Zoom begleitet.

In der Aidshilfe NRW wiederum wurden kurzerhand ganze Workshops für Präventionsbotschafter*innen ins Netz und vor die Videokamera verlagert, berichtet Rufin Kendall. Zu Beginn sei es zwar etwas schwierig gewesen, auch im digitalen Raum eine Atmosphäre aufzubauen, um über sexuelle Gesundheit, HIV und Familienplanung sprechen zu können. Doch das Eis sei recht schnell gebrochen gewesen, so der Fachmann für interkulturelle Prävention. Zudem hatte die Videoschulung auch noch einen positiven Nebeneffekt: Es konnten auch solche Menschen daran teilnehmen, denen es aufgrund der Entfernung ansonsten nicht möglich gewesen wäre.

Auch Mitgliederversammlungen wurden digital veranstaltet, in der Aidshilfe Essen genauer gesagt in hybrider Form: Weil sich durch die Abstandsregeln nicht so viele Menschen in einem Raum aufhalten durften, wurden die Mitglieder auf mehrere Räume aufgeteilt – und digital miteinander vernetzt. Das hauseigene WLAN-Netz hat diesen Belastungstest allerdings nur bedingt bestanden…

Die technischen Strukturen sind oft ausbaubedürftig

Die Erfahrung, dass die technischen Strukturen durchaus ausbaubedürfig sind, hat nicht nur die Essener Aidshilfe gemacht. Die technische Ausstattung ist vielerorts veraltet und für die neuen Kommunikationsformen oft nicht ausreichend. Da fehlt es nicht nur an einer schnellen Internetverbindung, sondern manchmal selbst an Grundlegendem.

„Wenn ich einen Bildschirm ohne Kamera habe oder mit einem veralteten Windows-Programm arbeite, wird es mit Videokonferenzen einfach schwierig“, schildert Mara Wiebe ihre Situation bei der Aidshilfe Hamburg trocken. „Es scheitert letztlich immer am Geld: ob für Software oder technische Ausstattung“, so Wiebe. Öffentliche Förderungen gebe es meist nur für innovative neue Programme, nicht aber für die Basisausstattung.

Es scheitert letztlich immer am Geld: ob für Software oder technische Ausstattung

Mara Wiebe, Aidshilfe Hamburg

Trotz der misslichen Ausgangslage hat man in Hamburg einiges auf die Beine stellen oder vielmehr in den digitalen Raum verlegen können. So gab es manches Gruppentreffen in Form eines gemeinsamen Kaffeetrinkens vor dem Bildschirm – statt in der Aidshilfe machten es sich alle zu Hause vor dem eigenen Computer gemütlich und konnten auf diesem Weg miteinander reden. „Viele fühlten sich in dieser Zeit sehr einsam und haben unser Angebot daher sehr gerne angenommen“, erzählt Mara Wiebe.

In der Aidshilfe Düsseldorf hat man die digitale Variante des wöchentlichen Gruppenfrühstücks sogar noch ein wenig aufwendiger zelebriert: Die Brötchen wurden per Fahrrad frei Haus geliefert.

Um die Einsamkeit insbesondere der im ländlichen Raum lebenden queeren Menschen aufzubrechen und einen anonymen und zugleich vielfältig nutzbaren Ort der Kommunikation zu schaffen, hat das Präventionsnetzwerk SVeN (Schwule Vielfalt erregt Niedersachsen) inmitten der Corona-Krise eine eigene Plattform aufgebaut. Als Basis dient ein Discord-Server, wie er ursprünglich vor allem in der Gamer-Szene zum Einsatz kam. Hier können sich die Menschen zu offiziellen „Plauderstündchen“ treffen oder sich in Chats und Gruppenräumen ganz direkt austauschen, ihre Sorgen teilen und Gesprächspartner*innen finden. Was dem ambitionierten Projekt derzeit allerdings noch fehlt, sagt Projektleiter Benjamin Roth, ist eine ausreichende Zahl an Nutzer*innen. Denn wie im analogen Leben müssen die potenziellen Zielgruppen auch in der digitalen Welt erst einmal erreicht und dann auch zum Mittun aktiviert werden.

Die HIV-Prävention ist schon länger auch digital

Innovative Projekte, die die Möglichkeiten digitaler Technik nutzen, wurden allerdings auch schon vor der Corona-Krise entwickelt und umgesetzt, zum Beispiel, um Aufklärungsworkshops für junge Menschen abwechslungsreicher und zielgruppenorientiert zu gestalten.

Die Aidshilfe Kiel etwa hat dazu einen sogenannten Actionbound entwickelt, eine Stadtrallye durch die Kieler City, die spielerisch Tipps und Basiswissen zu Themen wie HIV/Aids, sexuell übertragbare Krankheiten, Diskriminierung und queerer Kultur vermittelt.

Das Zentrum für sexuelle Gesundheit Magdeburg hat für seine Bildungsangebote ein Onlinespiel kreiert, bei dem zum Abschluss von Präventionsveranstaltungen die Jugendlichen Quizfragen zu Sexualität, sexueller Gesundheit beantworten ­und auf spielerischem Weg die Lernziele überprüft werden können.

Einen flächendeckenden Schub in Sachen Digitalisierung gab es quer durch die Aidshilfen in den Verwaltungen und der Arbeitsorganisation, zum Beispiel in Sachen Home-Office.

Die Aidshilfe Essen etwa mit ihrem großen Bereich Betreutes Wohnen stand durch die Corona-Krise vor der Herausforderung, die Kontakte zu den Klient*innen aufrechtzuerhalten und als Team arbeitsfähig zu bleiben, berichtet Vorstand Maik Schütz. In kürzester Zeit wurden die technischen Voraussetzungen für neue Arbeitsstrukturen geschaffen: zusätzliche Computer gekauft, ein VPN-Tunnel eingerichtet und für die Mitarbeiter*innen Handys bereitgestellt, damit sie für die Klient*innen erreichbar bleiben.

Manche Teamkolleg*in hat es zunächst etwas irriert, wie wir nun arbeiten

Maik Schütz, Vorstand Aidshilfe Essen

„Manche Teamkolleg*in hat es zunächst etwas irritiert, wie wir nun arbeiten“, sagt Maik Schütz, „aber es gibt eine ganze Reihe, die diese Arbeitsform gerne so beibehalten möchten“, also eigenverantwortliches Arbeiten aus dem Home-Office heraus verbunden mit festen Anwesenheitszeiten in der Aidshilfe.

Auch in Freiburg wurde ein großer Schritt hin zum papierlosen Büro gemacht. Der technische Um- und Ausbau war zwar aufwendig, „aber bis auf ein paar technische Stolpersteine ist alles gut gelaufen“, erzählt Aidshilfe-Vorstand Stefan Jockers. Zentral dafür sei gewesen, die gesamten Daten und damit faktisch das Büro in eine Cloud auszulagern.

„Der Vorteil dieser neuen Arbeitsform ist, dass wir dadurch auch gleich unsere beiden Standorte – die Verwaltung und unseren Checkpoint – miteinander vernetzen konnten“, ergänzt seine Kollegin Rieka von der Worth. „Auch die telefonische Erreichbarkeit hat sich so verbessert: Anrufe auf den Festnetz-Anschlüssen in der Aidshilfe-Geschäftsstelle erreichen die Mitarbeitenden nun auch im Test- und Beratungscenter.

Dort werden die Anamnesebögen von den Klient*innen gleich ins Tablet eingegeben und müssen später nicht mehr eigens in den Computer übertragen werden. Auf Nachfrage gibt es aber auch weiterhin die Fragebögen in Papierform.

Auf dem Weg zum papierlosen Büro

Über kurz oder lang werden die Vorteile und Vereinfachungen überzeugen, da ist sich Maik Schütz sicher. Zum Beispiel, dass nun jederzeit, auch ganz spontan und von überall auf Daten und Dokumente zugegriffen werden kann: wenn etwa bei einem Termin auf dem Amt oder bei einem Treffen mit Klient*innen überraschend eine Information fehlt und die durch einen schnellen Blick in die elektronische Akte gleich zur Hand ist.

Das papierlose Büro, sagt Schütz, habe die Abläufe definitiv schneller und effizienter gemacht. Bei internen Besprechungen etwa werde gleich ins Laptop getippt und die Notizen nicht erst auf Papier festgehalten. Schon wenige Minuten nach den Sitzungen sind die Ergebnisse per Mail geteilt. „Das Handy auf den Tisch wird bei Meetings nicht mehr als Unhöflichkeit angesehen, sondern als Arbeitsmittel.“

Nicht allen Mitarbeiter*innen in den Aidshilfen und Beratungsstellen fällt es allerdings leicht, sich von den über Jahre eingeübten und erprobten Arbeitsabläufen zu verabschieden und sich auf neue Techniken einzustellen.

„Wir müssen deshalb in diesem Prozess möglichst viele Menschen mitnehmen und insbesondere jenen, die nicht so digital- und technikaffin sind, die Hemmungen nehmen, sich auf diese neuen Tools einzulassen“, sagt Andreas Bösener vom Magdeburger Zentrum für sexuelle Gesundheit.

Dass dieser Wandel unausweichlich und wahrscheinlich für die Zukunft der Aidshilfen überlebensnotwendig ist, wurde beim Bielefelder Fachtag Digitalisierung mehr als deutlich. Doch in gleichem Maße war auch eine große Aufbruchsstimmung zu spüren – trotz aller Ängste vor Überforderung angesichts der vielfältigen Aufgaben, die anstehen.

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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