Pflege und Medizin

„Ein durch und durch heteronormatives System“

Von Axel Schock
Porträt der beiden Autoren von
Volker Wierz und Michael Nürnberger (Foto privat)

Queere Menschen erleben im Gesundheitswesen nicht nur diskriminierende Situationen, auch mangelndes Wissen über ihre spezifischen Bedürfnisse kann zu einer schlechteren Versorgung führen. Das Handbuch „LSBTI* in Pflege und Medizin“ will diesen Defiziten entgegenwirken.

In der Behandlung und Pflege von queeren Personen gibt es unter Ärzt*innen und Dienstleistenden im Gesundheitsbereich oftmals Unsicherheiten. Dabei kann mit dem entsprechenden Grundwissen und einer sensiblen Haltung eine bessere Versorgung von LSBTI* gewährleistet werden. Die beiden Herausgeber – Volker Wierz, Krankenpfleger am St. Joseph Krankenhaus Tempelhof-Schöneberg, und Michael Nürnberg, Arzt am Institut für Internationale Gesundheit der Charité Berlin – haben deshalb mit acht Koautor*innen wichtige Basisinformationen in einem kompakten Grundlagenwerk zusammengefasst: über Themen wie Coming-out, Diskriminierung und queere Lebenswelten, aber auch über spezifische Aspekte, die beispielsweise in der Diagnostik, Vorsorgemedizin und Palliativpflege beachtet werden sollten. 

Basiswissen über die medizinischen Bedürfnisse queerer Menschen


Von trans* Patient*innen höre ich immer wieder, dass man sich über sie lustig macht und ihre Identität in Frage gestellt wird.

Thematisch deckt das Buch eine enorme Bandbreite ab, sodass es einem Grundlagenwerk gleichkommt. Wodurch wurde euch klar, dass es dafür einen Bedarf geben könnte?

Volker Wierz: Im Zuge der Veröffentlichung unseres Vorgängerprojektes „HIV in der Pflege“ wie auch bei den Schulungen, die ich durchführe, gab es immer wieder Nachfragen nach Publikationen, die sich speziell mit der Pflege queerer Menschen beschäftigen. Zudem habe ich von Patient*innen, die ich im Laufe meiner mittlerweile über 35 Berufsjahren in der Pflege begleitet habe, mitbekommen, was in der Pflege im Argen liegt. Zudem habe ich als schwuler Mann selbst auch viele Erfahrung im Gesundheitswesen gemacht. Wir haben festgestellt, dass es zwar bereits relativ viel zu diesem Thema gibt, aber wenig davon Verbreitung gefunden hat und das Wissen nicht in einer kompakten Form erhältlich ist.

Michael Nürnberg: Erstaunlich für mich war festzustellen, dass schwule Männer in Veröffentlichungen im medizinischen Kontext deutlich besser repräsentiert sind als andere Gruppen. Mir ist etwa selbst erst durch die Arbeit an diesem Buch bewusst geworden, mit welcher Selbstverständlichkeit etwa in medizinischen Studien die Bezeichnung MSM (Männer, die Sex mit Männern haben) verwendet wird, damit in der Regel nur weiße cis Männer gemeint sind. Trans* oder inter* Personen werden aber oft ausgeklammert, obwohl sie relevante Gruppen darstellen.

Welche Auswirkungen kann es für queere Patient*innen haben, wenn das Gegenüber, auf das sie medizinisch angewiesen sind, zu wenig über LSBTI* weiß?

Michael Nürnberg: Menschen, die nicht cis und hetero sind, fühlen sich oft schlechter versorgt, weil sie sich dort, wo sie sich medizinisch vorstellen, nicht so aufgehoben fühlen. Wenn sich mein Gegenüber, das für mich eigentlich medizinisch da sein sollte, nicht auf mich einlässt, gehe ich da auch nicht mehr hin.

Volker Wierz: Von trans* Patient*innen beispielsweise höre ich immer wieder, dass sie nicht wertschätzend angesprochen werden, dass man sich über sie lustig macht und ihre Identität in Frage gestellt wird.

Michael Nürnberg: In Berlin, wo Volker und ich leben, steht queeren Menschen eine breite und gute Versorgungstruktur zur Verfügung. Für trans* Personen ist die Versorgung zwar nicht ideal, aber sicherlich besser als andernorts in Deutschland. In Flächenländern und kleineren Städten hingegen, ist die Situation eine ganz andere. Die Menschen in der Gesundheitsversorgung haben dort weitaus weniger Kontakt mit queeren Lebenswelten und dementsprechend fehlt auch das Verständnis. Wenn aber ein Grundverständnis bei Gesundheitsdienstleistenden nicht besteht, dann können sich diese Menschen auch nicht einfach öffnen.


Eine Folge ist, dass Menschen aus der LSBTI*-Community beispielsweise Vorsorgeuntersuchungen seltener in Anspruch nehmen

Welche konkreten Folgen kann das haben?

Michael Nürnberg: Eine Folge davon ist, dass Menschen aus der LSBTI*-Community seltener Ärzt*innen oder Therapeut*innen aufsuchen und dass Gesundheitsdienstleistungen seltener in Anspruch genommen werden, seien es beispielsweise Vorsorgeuntersuchungen. Trans* Frauen haben vielfach Schwierigkeiten ein Prostata-Screening durchführen zu lassen. Es geht also um durchaus relevante Dinge, die dann nicht angegangen werden, denen man aber vorbeugend gut entgegenwirken kann.

Zudem sollten bei queeren Menschen zusätzlich besondere medizinische Aspekte beachtet werden. Die Wahrscheinlichkeit für Substanzkonsum oder für Depressionen und andere psychische Erkrankungen ist höher. Das muss man als Ärzt*in oder Therapeut*in wissen und thematisieren. Und das geht nur, wenn die Lebenswelten offen und vorurteilsfrei angesprochen werden und wenn sich die Menschen bei ihren Gesundheitsdienstleistenden geborgen fühlen – ganz gleich ob das die Krankenpflegerin auf Station oder der Arzt in einer Praxis ist. Das gehört einfach zu einer adäquaten medizinische Versorgung dazu, die den Menschen zusteht.

In welchen Bereichen habt ihr im besonderen Maße Wissensdefizite bei Gesundheitsdienstleistenden festgestellt?


Die mangelnde Nichtsichtbarkeit von bisexuellen Menschen hat sich auch auf unser Projekt niedergeschlagen

Volker Wierz: Ganz klar beim Umgang mit trans* und inter* Personen. Über lesbische und schwule Lebenswelten ist weitaus mehr bekannt, weil diese in den letzten Jahrzehnten deutlich sichtbarer geworden sind. Was Bisexualität angeht, musste ich feststellen, wie wenig wir selbst dieses Thema im Blick hatten. Bisexuelle Menschen sind meist gar nicht sichtbar, weil sie als homo- oder heterosexuell gelesen werden. In der queeren Community wiederum werden sie nicht ernst genommen, sondern oft als Grenzgänger*innen gesehen oder „feige“ Personen, die sich nicht festlegen möchten. Ich fand es sehr erhellend festzustellen, wie sich die mangelnde Nichtsichtbarkeit von bisexuellen Menschen auf unser Projekt niedergeschlagen hatte. Das zeigte sich auch darin, wie schwer es war, passende Autor*innen für das betreffende Kapitel zu finden, also eine Person aus dem Gesundheitswesen, die offen mit der eigenen Bisexualität umgeht. Denn bei der Konzeption des Bandes war uns wichtig, dass die einzelnen Kapitel paritätisch erarbeitet werden. Alle Autor*innen kommen aus dem queeren Umfeld und schreiben nicht nur aus professioneller Sichtweise, sondern auch aus ihrem eigenem Erleben.

Keine queeren Schutzräume im Alter

Mit welchen Schwierigkeiten sehen sich queere Menschen in Pflegeeinrichtungen konfrontiert?

Volker Wierz: Schwule Männer und lesbische Frauen konnten sich möglicherweise in ihrem bisherigen Leben aus dem heteronormativen Umfeld weitgehend herausziehen und sich in queere Schutzräume begeben, seien es die queere Szene oder der Freundeskreis.

Und sie konnten sich womöglich in queerfreundlichen Praxen ärztlich versorgen lassen.

Volker Wierz: In den letzten Lebensjahren aber, wenn sie auf Pflegeeinrichtungen angewiesen sind, fehlt ihnen der Rückhalt. Angesicht des Alters und der damit einhergehenden Einschränkungen bricht das alles weg und sie kommen in ein System, das durch und durch heteronormativ geprägt ist. Nun sie müssen wieder bei null anfangen, sich möglicherweise wieder verstecken, weil das Umfeld nicht gerade wertschätzend mit ihnen umgeht.


In den letzten Lebensjahren, wenn queere Menschen auf Pflegeeinrichtungen angewiesen sind, fehlt ihnen der Rückhalt

Jetzt liegt Basiswissen über queere Menschen und ihre besonderen medizinischen Bedürfnisse auf rund 100 Seiten zusammengefasst vor. Doch was nutzt dieses Wissen, wenn es beispielsweiseden Hausarzt auf dem flachen Land gar nicht erreicht – oder er sich nicht die Mühe macht, sich damit auseinanderzusetzen?

Volker Wierz: Das ist eine berechtigte Frage. Wir können mit diesem Buch lediglich ein Angebot machen. Darauf, wie es angenommen wird, haben wir nur bedingt Einfluss. Wir versuchen selbstverständlich, auf das Buch und das Thema aufmerksam zu machen, etwa in Pflegefachzeitschriften und auf Ärzteportalen. Der große Vorteil ist, dass das Buch aufgrund einer Förderung kostenfrei auch als ePaper im open access angeboten wird und so weit verbreitet werden kann. Wer sich aber dem Thema generell verweigert, wird sich auch weigern, dieses Buch zu lesen. 

Michael Nürnberg: Für alle, die dem Thema aufgeschlossen gegenüberstehen, machen wir damit ein niedrigschwelliges Angebot. Selbstverständlich konnten wir nicht alle Facetten und Aspekte abbilden, aber ich denke, dass wir dafür Bewusstsein schaffen können, dass es besondere Bedürfnisse gibt, die in der Pflege, der Therapie und ärztlichen Versorgung beachtet werden sollten.

Vielen Dank für das Gespräch!

Volker Wierz/Michael Nürnberg: „LSBTI* in Pflege und Medizin Grundlagen und Handlungsempfehlungen zur Versorgung queerer Menschen.“ Thieme Verlag, 104 Seiten, 4,99 Euro. Oder kostenlos als E-Paper.

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