Substituierende Ärzt_innen haben dank neuer Richtlinien mehr Rechtssicherheit – und können das Überleben ihrer Patient_innen ins Zentrum der Behandlung stellen, ohne ständig unter dem Damoklesschwert des Strafrechts zu stehen. Das gibt Hoffnung für die Substitutionsbehandlung. Wie verheerend sich die bisherigen Regelungen oft ausgewirkt haben, zeigt Benedict Wermter.*

Die Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung sah lange Zeit strenge Regeln zur eigenverantwortlichen Einnahme von Substitutionsmitteln vor: Sogenannte Take-Home-Rezepte waren bei Beikonsum ausgeschlossen, weswegen häufige Kontrollen auf Konsum illegaler Substanzen nötig waren. So manche_n Substitutionsmediziner_in hat dies in Konflikt mit dem Gesetz gebracht – mit dramatischen Folgen für sie und ihre Patient_innen (siehe Teil 1 dieses Beitrags; Anm. d. Red.).

Das Abstinenzdogma kann lebensgefährlich sein

Marco Jesse arbeitet beim Kölner Drogenhilfe-Verein Vision, der auf die unterschiedlichen Bedarfe von Drogengebraucher_innen eingeht, egal, ob es der Wunsch nach Entgiftung, Therapie, Betreuung oder sauberen Spritzen ist.

„Das ganze System der Substitution war marode“

Jesse kritisiert schon seit vielen Jahren die bisherige Rechtslage. „Das ganze System der Substitution war marode“, sagt er. Die Behandlung sei bis zur Änderung des Rechts primär auf Abstinenz ausgerichtet gewesen, obwohl Abstinenz fast nie erreicht wurde. Tatsächlich: Laut einer Studie der Technischen Universität Dresden schaffen nur vier Prozent der Abhängigen den Weg in die Abstinenz, der Rest befindet sich in der Dauersubstitution.

„Sucht wird heute noch immer als selbstverschuldet wahrgenommen, und wer Drogen nimmt, muss damit aufhören. Das ist das Stigma, das nicht nur die Kranken betrifft. Die Diskriminierung machte eben auch nicht vor den Ärzten halt. In Form von Überregulation, Kontrollen und Druck“, sagt Marco Jesse. Das Abstinenzdogma könne sogar lebensgefährlich sein. „Was ist, wenn jemand doch einmal einen Rückfall hat? Das kann schnell in die Hose gehen“, sagt Jesse, denn man sei nicht mehr an den Stoff gewöhnt.

Marco Jesse, weiß, wovon er spricht. Keine Haftstrafe habe ihn früher vom Heroin weggebracht, damals als die Nationalmannschaft den Spruch „Keine Macht den Drogen“ auf dem Trikot trug. Auch die Suchthilfe sei mit erhobenem Finger betrieben worden. „Aber mit Druck erreicht man nichts“, sagt Jesse.

Konsequenz, aber kein Druck

Er habe sein Hobby eines Tages zum Beruf gemacht, sagt er und grinst kurz: Heute leitet er die Einrichtung von Vision in Köln-Kalk. Sein langer Zopf fällt über die Lehne des Bürostuhls. Er dreht eine Zigarette. Draußen verteilen Sozialarbeiter und Ehrenamtliche Essen und Kaffee an Besucher_innen.

Illegaler Konsum wird immer angesprochen

Jesses Linie: Konsequenz, aber kein Druck. „Illegaler Konsum wird immer angesprochen, aber nur Dealen ist verboten. Würde ich den Konsum auf den Toiletten verbieten, würden meine Besucher heimlich fixen und die Spritzen dann draußen in das Beet werfen“, sagt Jesse. Also gibt es kein ultraviolettes Licht, bei dem man die Venen nicht sieht, sondern stattdessen einen Spritzencontainer zur Entsorgung gebrauchter Spritzen.

Und so ist Marco Jesse froh, dass es nun in der Substitution mehr Behandlungsspielraum für die Ärzt_innen gibt. Ein Aufatmen.

Praxisschließungen zerstören Existenzen

In Kempten im Allgäu sitzt der Substitutionsmediziner Dr. Christoph Nunhöfer in seinem Arbeitszimmer – zu Hause. Seine Praxis ist geschlossen, für immer. Ein halbes Jahr nach einer Durchsuchung bei seinem Kollegen Thomas Melcher stand die Staatsanwaltschaft auch bei ihm vor der Tür. Das Gesundheitsamt hatte seine Verschreibungen überprüft. Die Staatsanwaltschaft beschuldigte ihn, in fast 2000 Fällen trotz Beikonsums Take-Home-Rezepte ausgestellt zu haben.

Besonders ärgert Nunhöfer, dass ihm die Mitgabe von Substitutionsmitteln aus seiner Praxis vorgeworfen wurde. In der Regel sollen verschriebene Take-Home-Mittel in der Apotheke unter Aufsicht eingenommen werden. „Aber die Apotheker riefen häufig an, weil meine Patienten zum Beispiel alkoholisiert vor ihnen standen und sie nicht wussten, ob sie das Medikament ausgeben dürfen“, erzählt er. „Die kannten weder meine Patienten gut, noch hatten sie Ahnung von der Substitution.“

Zwei Drittel der Patient_innen waren in Arbeit

Zunächst praktizierte Nunhöfer weiter. Ein Jahr nach der Durchsuchung aber wurde ein vorläufiges Berufsverbot gegen ihn ausgesprochen. „Gut zwei Drittel meiner Patienten waren damals in Arbeit. Als ich schließen musste, war die Hölle los“, erzählt er. „Aber auch eine Petition von Angehörigen meiner drogenabhängigen Patienten an die Generalstaatsanwaltschaft half nichts.“

Nur wenige der Suchtkranken fanden Unterschlupf bei einem Arzt in der Nähe. Doch als die Staatsanwaltschaft Kempten weiterzog und auch gegen diesen Arzt ermittelte, stellte er die Behandlung seiner mehr als 80 Substitutions-Patient_innen ebenfalls ein.

Insgesamt ermittelte die Staatsanwaltschaft Kempten gegen fünf von sechs substituierenden Hausärzt_innen im Allgäu. Heute substituiert nur noch eine Ärztin.

Verurteilung wegen Take-Home-Rezepten

Pikantes Detail: Anfang 2014 berichteten verschiedene Medien, der Leiter der Kemptener Drogenfahndung sei mit 1,5 Kilogramm Kokain erwischt worden. Er soll Verbindungen zur italienischen Mafia gehabt haben, die im Allgäu präsent ist. Und die Abteilung eben dieses Polizisten war wohl unter der Leitung der Staatsanwaltschaft Kempten auch bei den Ermittlungen gegen die Ärzte im Einsatz. Für Dr. Nunhöfer und Dr. Melcher bleibt der Eindruck, sie sollten unter Druck gesetzt werden, damit mehr Suchtkranke Drogen auf dem illegalen Markt der Gegend beziehen.

Dr. Nunhöfer wurde 2014 zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt, weil er in fast 2000 Fällen trotz Beikonsums Take-Home-Rezepte verschrieben hatte. Außerdem forderten die Krankenkassen Geld für die zu Unrecht verschriebenen Mittel zurück. „Nuni“, wie ihn seine Patienten früher nannten, lebt heute von einer Rente knapp über Hartz-IV-Niveau.

„Wenn der Nuni dicht macht, lebe ich nicht mehr lange“

Für einige seiner Patient_innen waren die Folgen ungleich dramatischer. Auf der Couch im Arbeitszimmer von Dr. Nunhöfer liegen neben zahlreichen Zeitungsartikeln vier Todesanzeigen. Bei diesen Patienten sei er persönlich bei der Beerdigung gewesen, erzählt er. Nunhöfer hat von Überdosen gehört, auch mit Fentanyl. Ein Patient habe sich aus dem Fenster gestürzt, weil er keinen Arzt gefunden hatte.

Auch seine ehemalige Patientin Christina, die Tochter von Ursula Fischer*, lebt nicht mehr. Sie habe es vorhergesagt, erzählt  Fischer: „Wenn der Nuni dicht macht, lebe ich nicht mehr lange.“ Im Juni 2015 wurde Christina dann morgens tot aufgefunden. „Sie hatte sich etwas zum Spritzen aufgelöst“, erzählt ihre Mutter am Küchentisch zu Hause. „Wie heißt nochmal dieses Schmerzpflaster?“ Ursula Fischers Enkelsohn Mike sitzt neben ihr. Er wächst ohne seine Mutter auf.

Besonders hart war Niedersachsen

Die Ermittlungen gegen substituierende Ärzt_innen im Allgäu sind keine Einzelfälle. Auch in anderen Teilen Deutschlands mussten Mediziner_innen die Substitution wegen Take-Home-Rezepten trotz Beikonsums einstellen.

Besonders hervorgetan bei der strafrechtlichen Verfolgung haben sich Justiz, der Medizinische Dienst der Krankenkassen und die Kassenärztliche Vereinigung (KV) in Niedersachsen. 2008 forderte die Kassenärztliche Vereinigung (KV) von allen substituierenden Ärzt_innen die Behandlungsunterlagen an. Nach Durchsicht der Akten meldete sie der Staatsanwaltschaft 104 Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG). Die KV war aktiv geworden, nachdem die Kassen in Niedersachsen vier Ärzte wegen Verstößen gegen das BtMG angezeigt und eine Überprüfung erbeten hatten. Die Folge auch hier: Ein paar mehrjährige Haftstrafen, Praxisschließungen, Substitutionspatient_innen, die plötzlich auf der Straße standen.

„Manch übereifrigem jungem Staatsanwalt musste man zurufen: Hey Junge, lass das mal“

In Berlin dagegen sieht die Situation anders aus. Das mag auch daran liegen, dass hier Andreas von Blanc bei der Kassenärztlichen Vereinigung zuständig für die Qualitätsprüfung der Substitutionsärzt_innen ist. Von Blanc war früher selbst „auf der Platte“ unterwegs: Als Sozialarbeiter hat er die Süchtigen am Bahnhof Zoo betreut, unter anderem die wohl bekannteste Heroinsüchtige Deutschlands, Christiane F.

Heute zieht er Stichproben der Abrechnungen substituierender Ärzt_innen und schaut sich die Dokumentation an. Bei Auffälligkeiten lädt er den Arzt oder die Ärztin vor, schlimmstenfalls streicht er das Honorar für die Abrechnung. „Das wirkt“, sagt er. Aber den Staatsanwalt anrufen? „Im Gegenteil. Manch übereifrigem jungem Staatsanwalt musste man früher  zurufen: Hey Junge, lass das mal.“

Und so hofft Andreas von Blanc, dass die Substitution durch die Neuregelungen bald nicht mehr als „schmutzige Medizin“ gilt. Und dass das nächste Mal, wenn er alle 400 Berliner Hausärzt_innen per Brief für die Behandlung wirbt, mehr als drei antworten.

* Im ersten Teil ging es um den Fall des Substitutionsmediziners Thomas Melcher, der sich im Dilemma zwischen der bisherigen Rechtslage und den Interessen seiner suchtkranken Patient_innen auf die Seite der Substituierten gestellt hatte und dadurch ins berufliche Abseits geriet.

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Benedict Wermter

Benedict Wermter ist freier Autor und Rechercheur aus dem Ruhrgebiet und schreibt gerne Reportagen. Für das Magazin der Deutschen Aidshilfe beschäftigt er sich unter anderem mit der Drogenpolitik hierzulande.

(Foto: Paulina Hildesheim)

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