Overdose Awareness Day 2019

Überdosierungen bei Partydrogen: Aufklären, vorbeugen, begleiten

Von Benedict Wermter
Overdose Awareness Day
Auch bei sogenannten Partydrogen kommt es zu Überdosierungen – Inhaltsstoffe und deren Mengen sind oft nicht klar. Gedanken von Benedict Wermter zum Overdose Awareness Day am 31. August

Sie liefen eng umschlungen, wie ein flanierendes Pärchen in der Innenstadt. Der eine trug kurzes, schwarzes Stoppelhaar, der andere Locken, und sie stammelten spanische Fetzen. Also nenne ich sie hier: die Spanier.

Allein: Die Spanier flanierten nicht – sie stolperten, bis sie sich auf eine Holzbox vor dem Dancefloor sacken ließen, in einem Berliner Club im Sommer 2018. Dort starrten sie mit weit aufgerissenen Augen ins Nichts, wie zwei Rehe im Lichtkegel eines Autoscheinwerfers.

Auf meine drängende Frage, was los sei, was sie genommen hätten, sagte Stoppelhaar nach endlosen Sekunden: „Keeeta.“ Ketamin also, auch als „Special K“ oder „Keta“ bekannt – ein Narkosemittel, das Halluzinationen auslösen kann.

Überdosierungen gibt es nicht nur bei Opioiden

Beim Wort „Überdosierung“ denken viele nur an Opioide wie Heroin, an „Goldene Schüsse“, an verstörende Videos aus amerikanischen Vorstädten. Oder an Menschen, die im Frankfurter Bahnhofsviertel oder in Berlin am Kottbusser Tor in der Ecke liegen.

Doch auch bei den sogenannten Partydrogen, also Rauschmitteln wie zum Beispiel Ecstasy (MDMA), Ketamin oder GHB, kann es zu gefährlichen Überdosierungen kommen.

Erst im März 2018 nahm eine Amerikanerin im Berliner Technoclub Berghain zu viel MDMA, sie überhitzte und starb. Eine Mitarbeiterin des Clubs soll den Partner des Opfers daran gehindert haben, einen Krankenwagen zu rufen.

Im Sommer 2018 war ich auf dem Nowhere-Festival in Spanien, so etwas wie dem europäischen Burning Man. Dort wurde ein etwa 15 Meter hoher Leuchtturm aus Holz aufgebaut, der am Ende abgebrannt werden sollte. Doch es kam anders, weil ein junger Mann hinaufkletterte und hinuntersprang – er hatte wohl zu viel LSD genommen. Zum Glück überlebte er, notärztliche Versorgung durch Feuerwehr und Rotes Kreuz war schnell zur Stelle.

Und dann wurde im Sommer 2019 eine Person leblos im Zelt auf dem Fusion-Festival entdeckt – die Todesursache ist noch nicht geklärt.

Helfen könnte eine Kontrolle von Inhaltsstoffen und deren Mengen

Freilich, dies sind extreme, seltene Fälle. Wer aber regelmäßig Drogen konsumiert oder sich an Orten aufhält, wo dies geschieht, kennt diese Bilder: von Freunden, die orientierungslos „Hallo“ rufen, weil sie nichts mehr sehen. Von Freundinnen, die mit dem Gesicht im Kopfkissen ohnmächtig werden und kaum noch Luft kriegen.

Und dann sind da Leute wie die Spanier oder andere Tourist_innen in Berlin Technoclubs, die dort zum ersten Mal Drogen konsumieren oder zu Hause eine schlechtere Qualität von Substanzen gewöhnt sind. Zum Beispiel bei Ketamin: Größere Mengen des Narkosemittels führen in die Bewegungsunfähigkeit, das „Ich“ verschmilzt mit der Umwelt, man spricht vom „K-Hole“, vom „Keta-Loch“.

Es gibt keinen kontrollierten Kontrollverlust

Im Extremfall kann die Atmung aussetzen – ja, auch an „Keta“ sterben Menschen. Das Problem: Konsument_innen können diese Zustände nicht unter kontrollierten Bedingungen erfahren und lernen, wie sie damit umgehen, sondern müssen sich quasi blind vortasten.

Die Spanier haben sich aus Versehen abgeschossen und hängen nun am Sonntagmorgen auf dieser Holzbox. Der Lockenkopf ist in den Schoß des Stoppelhaares gefallen, die Augen starr geöffnet, sabbernd, aber schlafend. Eine kleine Menschentraube hat sich um die beiden gebildet, ihnen wird Eistee oder Wasser gereicht wird. Einer  der Türsteher schlurft mit einer Cola in der Hand herbei. Einen Krankenwagen brauche hier niemand, meint er.

Viele Menschen haben offenbar den Drang, sich gelegentlich zu berauschen, und viele haben einen Hang zum Exzess. Weil Partydrogen aber verboten sind, findet ihr Konsum meist verborgen statt. Es gibt keinen kontrollierten Kontrollverlust – keine Kontrolle von Substanzen, kaum Schulmedizin zu Rauschmitteln.

Verbotspolitik macht Drogen und deren Konsum unberechenbar

Den richtigen Umgang mit Drogen haben wir uns irgendwie gegenseitig beigebracht oder im Internet zusammengesucht. Hier stößt die Verbotspolitik an ihre Grenzen: Sie will die Bevölkerung vor gefährlichen Rauschmitteln schützen, bewirkt aber das Gegenteil: Sie macht Drogen und deren Konsum unberechenbar.

In Berlin soll es bald Drug-Checking geben, eine Anlaufstelle, um Substanzen auf Reinheit und Gehalt testen zu lassen. Ein Schritt in die richtige Richtung – Risikominimierung –, aber auch nur die halbe Miete, denn nicht alle Chargen werden überprüft.

Wie es wohl wäre, wenn Drogen entkriminalisiert, gar legal wären, und wir – unter Auflagen – pharmazeutisch hergestellte, qualitätskontrollierte Rauschmittel in der Apotheke kaufen könnten? Wenn Konsument_innen einen „Führerschein“ machen müssten, um Drogen zu kaufen?

So weit mag die deutsche Drogenpolitik bisher nicht denken. Die einzige Hilfe bleibt daher weiterhin die Selbsthilfe.

Ich möchte mehr über die Selbsthilfe im Partydrogenbereich erfahren und rufe Anette an. Die 54-Jährige ist ein langjähriges Mitglied von „Eclipse“, einem Verein für akzeptierende Drogenarbeit und psychedelische Krisenintervention. Eclipse bietet auf Festivals und Partys eine „psychedelische Ambulanz“ an, sagt Anette, „Tripsitter“, „Reisebegleitungen“ für Menschen, die sich überdosiert haben. „Wir erden die Menschen und bringen sie zurück ins Hier und Jetzt. Wir passen auf die auf!“

Anette Hofmann
Anette ist die zweite von rechts, Bild: privat

Anette sagt, sie will die Menschen auffangen, anstatt sie im Krankenwagen, fixiert und niedergespritzt, in die Psychiatrie abzuschieben.

Bei Überdosierungen ist häufig Mischkonsum das Problem

Nach ihrer Einschätzung konsumieren 80 Prozent der Gäste auf Festivals oder Partys selbstbestimmt und aufgeklärt. Doch Party könne eben auch psychotische Erlebnisse bedeuten: „Häufig ist Mischkonsum das Problem. Die Leute nehmen LSD und andere Substanzen, trinken Alkohol dazu und ein irres Gesamtbild entsteht. Dann haben wir einige unbekannte Substanzen, die lang anhaltende Ausnahmezustände zur Folge haben. Und schließlich ist im Moment Ecstasy hochdosiert. Wer nicht lang genug wartet und zu früh nachnimmt, überdosiert sich“, sagt Anette.

Die einzige Hilfe ist bislang die Selbsthilfe

Die Folgen der Überdosierungen: Angstzustände und Paranoia, starke optische Halluzinationen, Erbrechen. „Wenn es ganz schlimm ist, müssen Sanitäter_innen die Person abchecken.“ Alle anderen werden im Eclipsezelt von einem Heizstrahler gewärmt, „und dann gibt es die berühmte Eclipse-Banane, Chai- Tee und Wasser“, sagt Anette. Eclipse bietet außerdem Kondome, Vitamintabletten und jede Menge Safe-Use-Material wie Leerkapseln, Ziehröhrchen und Hackkarten an.

Was aber ist mit Menschen, die zu Hause oder in einer Gruppe in der freien Natur konsumieren? Die also auf sich allein gestellt sind? Anette sagt: „Set und Setting müssen passen. Am besten man konsumiert mit guten Freund_innen und sagt, was man nimmt.“ Wer Drogen konsumiere, müsse sich schon schlau machen: Woran erkennt man einen Herzinfarkt, wie geht noch mal die stabile Seitenlage? Und wenn jemand psychotisch werde, solle man in klaren und kurzen Sätzen reden und die Person abschirmen und zudecken, sagt Anette. Schließlich empfiehlt sie, die eingenommenen Dosen zu dokumentieren – besonders bei Drogen wie GHB oder GBL, wo es auf Milliliter ankommt.

Für die beiden Spanier war der Spuk der Überdosierung nach zwanzig Minuten vorbei. Offenbar stellte sich ein „normaler“ Rauschzustand bei ihnen ein: Sie richteten sich auf, tranken fleißig Cola, torkelten zur Toilette. Später waren sie sogar wieder auf der Tanzfläche, anstatt nach Hause zu gehen.

Drogenkonsum ins gesellschaftliche Hellfeld holen

Gut, dass ihnen nichts Schlimmeres passiert ist und Leute da waren, die ihnen halfen. Ihnen hätte Drug-Checking im Vorfeld geholfen – und vielleicht jemand, der sie auf ihrem Trip begleitet.

Am meisten aber hätte ihnen geholfen, wenn der Konsum von Ketamin und anderen Partydrogen nicht im Schatten eines Technoclubs, sondern im gesellschaftlichen Hellfeld stattfände. Mit allem, was dazugehört: Aufklärung statt Panikmache in Schulen. Pharmazeutisch hergestellte und staatlich kontrollierte Substanzen, die unter Auflagen abgegeben werden. Wissenschaftliche Beobachtungen. Offene Diskussionen, was gut und was gefährlich ist.

Versprochen: dann sterben weniger Menschen.

Weitere Informationen:

Der Chemsex-Experte und -Aktivist David Stuart hat zusammen mit Ignacio Labayen De Inza eine Handreichung zu Erste-Hilfe-Maßnahmen bei Chemsex-Notfällen geschrieben. Sie liegt auf Englisch, Deutsch, Spanisch, Russisch, Französisch und Chinesisch unter https://www.davidstuart.org/chemsex-first-aid vor. Die deutsche Fassung kann auf aidshilfe.de als PDF-Datei heruntergeladen werden.

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